Goethes Annäherung an Schiller

Von dem bewegten Treiben der Außenwelt wandte sich Goethe, seiner Gewohnheit nach, wieder zu mannigfachen literarischen Beschäftigungen. Das Gedicht "Reinecke Fuchs" ward um diese Zeit vollendet. Auch der Druck des ersten Bandes von "Wilhelm Meisters Lehrjahren" hatte begonnen. Seinen botanischen und mineralogischen Studien widmete sich Goethe ebenfalls wieder mit großem Eifer. Erfreulich war für ihn in dieser Hinsicht der unterhaltende und belehrende Umgang mit Göttling, Batsch, Voigt und andern Professoren der Universität Jena. Ein besonderer Gegenstand seiner Aufmerksamkeit war das Bergwesen in Ilmenau, und mancher Ausflug in jene Gegend ward von ihm unternommen. Goethe freute sich über die Fortschritte jenes Unternehmens, die bei beschränkten Mitteln freilich nur mäßig sein konnten.

Unstreitig das wichtigste Ereignis in Goethes Leben war das um diese Zeit (1794) sich entwickelnde nähere Verhältnis zu Schiller. Aus entschiedener Abneigung gegen die früheren Produkte dieses Dichters, die ihn an die poetische Sturm- und Drangperiode erinnerten, der er längst entwachsen war, hatte er sich bisher von Schiller entfernt gehalten. Zwar war er ihm 1789 behilflich gewesen zu einer Professur in Jena, aber an ein näheres Verhältnis schienen beide nicht zu denken. Ein philosophisches Gespräch in einer Sitzung der von dem Professor Batsch in Jena gegründeten naturforschenden Gesellschaft bewirkte die erste Annäherung der beiden Dichter. Das von Schiller damals herausgegebene Journal: "die Horen" ward das vermittelnde Band zwischen ihm und Goethe, der ebenfalls Beiträge zu jener Zeitschrift lieferte.

Das Verhältnis zwischen beiden Dichtern ward bald immer inniger. An Schillers Arbeiten nahm Goethe das lebhafteste Interesse, das durch die Übereinstimmung ihrer Ideen immer wieder aufs neue angeregt ward. Über eine damals noch ungedruckte Abhandlung Schillers schrieb Goethe den 4. September 1794: "Ich habe Ihre Entwickelung des Erhabenen mit vielem Vergnügen gelesen, und mich daraus aufs neue überzeugt, dass uns nicht allein dieselben Gegenstände interessieren, sondern dass wir auch in der Art, sie anzusehen, meistens übereinkommen. Über alle Hauptpunkte, seh' ich, sind wir eins, und was die Abweichungen, die Standpunkte, die Verbindungen des Ausdrucks betrifft, so zeugen diese von dem Reichtum des Objects und der ihm korrespondierenden Mannigfaltigkeit der Subjekte." Dieser Brief enthielt zugleich eine an Schiller gerichtete Einladung, nach Weimar zu kommen, und in Goethes Hause zu wohnen. "Wir unterhielten uns", schrieb Goethe, "sähen Freunde, die uns am ähnlichsten gesinnt wären, und würden nicht ohne Nutzen von einander scheiden." Schillers Individualität berücksichtigend fügte Goethe noch hinzu: "Sie sollen ganz nach ihrer Art und Weise leben, und sich ganz wie zu Hause einrichten." Schiller folgte jener Einladung, und Goethe schrieb den 1. Oktober 1794: "Nach unserer vierzehntägigen Konferenz wissen wir nun, dass wir in Prinzipien einig sind, und die Kreise unsers Empfindens, Denkens und Wirkens teils koinzidieren, teils sich berühren."

Zur Aufnahme in die von Schiller herausgegebenen "Horen" sandte Goethe, seine "römischen Elegien", zwei "Episteln", denen noch eine dritte folgen sollte, und andere poetische Beiträge. Auch zu einigen Aufsätzen hoffte er noch Muße zu finden unter der fortwährenden Beschäftigung mit seinem "Wilhelm Meister." "Zu kleinen Erzählungen", schrieb er den 27. November 1794, "hab' ich große Lust, nach der Last, die einem so ein Pseudo-Epos, wie der Roman, auferlegt. Ich denke dabei wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren."

Schillers Einfluss auf Goethe

Lebhaft interessierte sich Goethe für Schillers "Briefe über ästhetische Erziehung." Diese Abhandlung harmonierte im Wesentlichen mit seinen eignen Ansichten und Ideen. Er schrieb darüber den 26. Oktober 1794: "Wie uns ein köstlicher, unserer Natur analoger Trank willig hinunterschleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohltätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für recht seit langer Zeit erkannt, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand. In diesem behaglichen Zustande hätte mich ein Billet Herders beinahe gestört, der uns, die wir an dieser Vorstellungsart Freude haben, gern einer Einseitigkeit beschuldigen möchte. Da man aber im Reiche der Erscheinungen es überhaupt nicht so genau nehmen darf, und es immer schon tröstlich genug ist, mit einer Anzahl geprüfter Menschen eher zum Nutzen als Schaden seiner selbst und seiner Zeitgenossen zu irren, so wollen wir getrost und unverrückt so fortleben, und wirklich und in unserm Sein und Wollen ein Ganzes denken, um unser Stückwerk nur einigermaßen vollständig zu machen."

Treffend bezeichnete Goethe so seine unvollendeten literarischen Arbeiten. Der "Faust", zu dessen Fortsetzung ihn Schiller ermuntert hatte, ruhte längst. "Ich wage nicht," schrieb Goethe, "das Packet aufzuschnüren, das ihn gefangen hält." Seine Tätigkeit zersplitterte sich in mannigfachen Plänen und Entwürfen, die er großenteils für die "Horen" auszuführen gedachte. Einer seiner gehaltvollsten Beiträge für dieses Journal waren die bisher ungedruckt gebliebenen "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter." Den Wert und Gehalt seiner Produkte machte Goethe fast ohne Ausnahme von Schillers Urteil abhängig. Durch ihn gewann er auch das fast verlorene Vertrauen zu seinem Roman wieder. Er glaubte, als er denselben begann, das Publikum zu Anforderungen berechtigt zu haben, die er sich nicht zu erfüllen getraute.

Beruhigt über das im Allgemeinen günstig lautende Urteil Schillers, dem er einen Teil des Manuskripts gesandt hatte, schrieb Goethe an ihn den 10. Dezember 1794: "Sie haben mir sehr wohl getan durch das gute Zeugnis, dass sie dem ersten Buche meines Romans geben. Nach den sonderbaren Schicksalen, welche diese Produktion von innen und außen gehabt hat, wäre es kein Wunder, wenn ich ganz und gar konfus darüber würde. Ich habe mich zuletzt bloß an meine Idee gehalten, und will mich freuen, wenn sie mich aus diesem Labyrinth heraus leitet." Schiller war ihm hierzu durch seinen Rat behilflich, und dankbar erkannte er des Freundes Bemühungen. Er gewann dadurch wieder Mut zur Fortsetzung seines Werks. Ein Brief vom 11. März 1795 enthielt das Geständnis, dass er den größten Teil des vierten Buchs vom "Wilhelm Meister" zum Druck abgesandt, und außerdem noch eine Novelle, "der Prokurator", geschrieben habe.

Goethes und Schillers Xenien

Aus dem Karlsbade zurückgekehrt, wohin ihn im Juni 1795 seine Kränklichkeit, besonders katarrhalische Zufälle genötigt hatten, unternahm Goethe häufige Ausflüge nach Jena. Außer Schiller fand er dort auch Alexander und Wilhelm von Humboldt. Er verlebte in Jena genussreiche Tage. Naturwissenschaftliche Betrachtungen wechselten mit Gesprächen über Poesie und Kunst. Zur Fortsetzung des "Wilhelm Meister" und zu Beiträgen für die "Horen" ermunterte ihn Schiller, so wenig auch dessen Erwartungen die genannte Zeitschrift entsprach. Schiller hatte von jenem Journal eine allgemein verbreitete großartige Wirkung gehofft, und stieß dagegen von Seiten des Publikums überall auf Mangel an Empfänglichkeit und auf kleinliche Ansichten. Goethe teilte seines Freundes Begeisterung für alles Treffliche, den lebendigen Hass gegen falschen Geschmack und gegen jede Beschränkung der Wissenschaft und Kunst. Entrüstet über die kalte Aufnahme der "Horen" und über die einseitige Beurteilung dieser Zeitschrift in mehreren kritischen Blättern, schrieb Goethe: "Überall spukt doch dieser Geist anmaßlicher Halbheit. Welch eine sonderbare Mischung von Selbstbetrug und Klarheit diese Personen zu ihrer Existenz brauchen, und was dieser Zirkel sich für eine Terminologie gemacht hat, um das zu beseitigen, was ihnen nicht ansteht, und das, was sie besitzen, als die Schlange Mosis aufzustellen, ist in der Tat merkwürdig."

In solcher Stimmung vereinigte sich Goethe mit Schiller zur Abfassung der unter dem Namen "Xenien" bekannten Epigramme. Ein damaliger Brief Schillers bezeichnete sie als "wilde Satire, besonders gegen Schriftsteller und schriftstellerische Produkte gerichtet, untermischt mit einzelnen poetischen und philosophischen Gedankenblitzen." Lebhaft ergriff Goethe diese von ihm ausgegangene Idee. Er schrieb darüber an Schiller den 23. Dezember 1795: "Den Einfall, auf alle Zeitschriften Epigramme zu machen, wie die Xenien des Martial sind, der mir diese Tage zugekommen ist, müssen wir kultivieren, und eine solche Sammlung in Ihren Musenalmanach des nächsten Jahres bringen."

Nur auf wenige subordinierte Geister hatte sich anfangs der Witz in den erwähnten Epigrammen beschränkt. Der Stoff breitete sich jedoch immer mehr aus, und die Pfeile der Satire verschonten auch nicht Namen, die der deutschen Literatur zur Ehre gereichten. Die bedeutendsten unter den zahlreichen Gegenschriften, welche die Xenien veranlassten, waren von Gleim, Claudius, Jenisch, Dyk, Manso u.A. Mit vielem Scharfsinn und mit der feinsten Ironie suchte Wieland, der ebenfalls in den Xenien nicht geschont worden war, in einem gedruckten Briefe einen Freund zu überzeugen, dass Schiller und Goethe, nach ihren bisherigen ausgezeichneten Produkten, unmöglich die Verfasser der Xenien sein könnten. Über die Gewissensskrupel, durch die das in jenen Produkten mitunter verletzte Zartgefühl sich an seinem Freunde Schiller rächte, setzte sich Goethes heiterer Weltsinn hinweg. "Dass man," schrieb er, "nicht überall mit uns zufrieden sein sollte, war ja unsere Absicht, und da das literarische Faustrecht noch nicht abgeschafft ist, so bedienen wir uns der reinen Befugnis, uns selbst Recht zu verschaffen. Ich erwarte nur, dass mir Jemand etwas merken lässt, wo ich mich denn so lustig und artig als möglich expektorieren werde."

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