Goethe als Meister der Dichtkunst
Neben den "Xenien" entstanden damals mehrere Gedichte Goethes, die zu dem Trefflichsten gehören, was die deutsche Poesie aufzuweisen hat, so unter andern die Elegie "Alexis und Dora", und, durch einen Wetteifer mit Schiller veranlasst, mehrere Balladen: "die Braut von Corinth, der Gott und die Bajadere, das Blümlein Wunderschön, der Junggesell und der Mühlbach, der Müllerin Verrat" u.a.m. Auch mehrere humoristische Gedichte fielen in diese Zeit, wie unter andern das bekannte Tischlied: "Mich ergreift, ich nicht wie u.s.w." Für die "Horen" lieferte Goethe, außer andern Beiträgen, einzelne Fragmente aus seiner damals noch unvollendeten Biographie des Florentinischen Goldschmids "Benvenuto Cellini." Immer aber blieb der "Wilhelm Meister" seine Hauptbeschäftigung.
In Bezug auf Schillers kritische Bemerkungen über das ihm mitgeteilte Manuskript seines Romans, bemerkte Goethe treffend: "Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gern inkognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wählen, den unbedeutenden Gegenstand oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen, als ich bin, und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und meine eigene Erscheinung stellen. Nach dieser allgemeinen Beichte will ich gern zur besonderen übergehen, dass ich ohne Ihren Antrieb und Anstoß wider besser Wissen und Gewissen, mir auch diese Eigenheit bei einem Roman hätte hingehen lassen, welches denn doch bei dem ungeheuren Aufwande, der darauf gemacht ist, unverzeihlich gewesen wäre, da alles das, was gefordert werden kann, teils so leicht zu erkennen, teils so bequem zu machen ist. Es ist keine Frage, dass die scheinbaren, von mir ausgesprochenen Resultate viel beschränkter sind, als der Inhalt des Werks, und ich komme mir vor, wie einer, der, nachdem er viele und große Zahlen über einander gestellt, endlich mutwillig selbst Additionsfehler macht, um die letzte Summe, Gott weiß, aus was für einer Grille, zu verringern. Ich bin Ihnen den lebhaftesten Dank schuldig, dass Sie noch zur rechten Zeit, auf eine so entschiedene Art, diese perverse Manier zur Sprache bringen, und ich werde gewiss, inwiefern es mir möglich ist, Ihren gerechten Wünschen entgegen gehen."
Über die einseitigen Urteile, welche seinen Roman, den er 1796 vollendet hatte, von mehreren Seiten trafen, machte sich Goethe in den unmutigen Worten Luft: "Möchte bei solchen Äußerungen nicht die Hippokrene zu Eis erstarren, und Pegasus sich mausern! Doch das war vor fünf und zwanzig Jahren, als ich anfing, eben so, und wird so sein, wenn ich lange geendigt habe. Indes ist es nicht zu leugnen, dass es doch aussieht, als wenn gewisse Einsichten und Grundsätze, ohne die man sich eigentlich keinem Kunstwerke nähern sollte, nach und nach allgemeiner werden müssten."
Goethes Hermann und Dorothea
Den Eindruck, den die mannigfachen, gegen die "Xenien" gerichteten Broschüren auf ihn gemacht hatten, schilderte Goethe in einem Briefe an Schiller vom 7. Dezember 1796. "Wenn ich aufrichtig sein soll," schrieb er, "so ist das Betragen des Volks ganz nach meinem Wunsch. Es ist eine nicht genug gekannte und geübte Politik, dass Jeder, der auf einigen Nachruhm Anspruch macht, seine Zeitgenossen zwingen soll, alles, was sie gegen ihn in petto haben, von sich zu geben. Den Eindruck davon vertilgt er durch die Gegenwart, Leben und Wirken jederzeit wieder. Was half es manchem bescheidenen, verdienstvollen und klugen Manne, den ich überlebt habe, dass er durch unglaubliche Nachgiebigkeit, Untätigkeit, Schmeichelei, Rücken und Zurechtlegen einen leidlichen Ruf zeitlebens erhielt? Gleich nach dem Tode sitzt der Advokat des Teufels neben dem Leichnam, und der Engel, der ihm Widerpart halten soll, macht gewöhnlich eine klägliche Gebärde. Ich hoffe, dass die Xenien auch eine ganze Weile wirken, und den bösen Geist gegen uns in Tätigkeit erhalten werden. Wir wollen indes unsere positiven Arbeiten fortsetzen, und ihm die Negation überlassen. Nicht eher, als bis sie ganz ruhig sind und sicher zu sein glauben, müssen wir, wenn der Humor frisch bleibt, sie noch einmal recht aus dem Fundament ärgern."
Dieser Vorsatz unterblieb. Einen würdigeren Gebrauch machte Goethe von seinem poetischen Talent in dem epischen Gedicht "Hermann und Dorothea," das er um diese Zeit entworfen hatte. Er schrieb darüber den 18. Januar 1797 an Schiller, die wunderbare Epoche, in der er eingetreten, sei ihm höchst merkwürdig. "Ich schleppe von der analytischen Zeit noch so vieles mit, dass ich es nicht loswerden und kaum verarbeiten kann. Indessen bleibt mir nichts übrig, als auf diesem Strom mein Fahrzeug so gut zu lenken, als es nur gehen will. Ins Ferne und Ganze lässt sich nichts voraussagen, da diese regulierte Naturkraft, wie alle unregulierten, durch nichts in der Welt geleitet werden kann, sondern sich selbst bilden muss, auch aus sich selbst und auf ihre Weise wirkt."
Goethe blieb seiner Natur und schnell wechselnden Geistesrichtung treu. Schon elf Tage später, am 29. Januar, beklagte er sich, "dass für ihn an keine ästhetische Stimmung zu denken sei." Seine Tätigkeit wandte sich wieder zu wissenschaftlichen Gegenständen. "Die Farbentafeln," schrieb er, "schließen sich immer fester an einander, und in Betrachtung organischer Naturen bin ich auch nicht müßig gewesen. Es leuchten mir in diesen langen Nächten ganz wundersame Lichter. Ich hoffe, es sollen keine Irrlichter sein." In einem späteren Briefe an Schiller vom 8. Februar 1797 gestand Goethe, er sei wie ein Ball, den eine Stunde der andern zuwerfe. "In den Frühstunden," schrieb er, "suche ich die letzte Lieferung des Benvenuto Cellini zu bearbeiten. Über die Metamorphose der Insekten gelingen mir allerlei gute Bemerkungen. Die Raupen, die ich im Winter in der warmen Stube hielt, erscheinen schon nach und nach als Schmetterlinge, und ich suche sie auf dem Wege zu dieser neuen Verwandlung zu ertappen."
Goethes Gesundheit
In diese stillen Beschäftigungen griffen die damaligen politischen Ereignisse störend ein. Die mannigfachen Truppenmärsche der europäischen Mächte ließen auf den nahen Ausbruch eines allgemeinen Kriegs schließen. Erst als die Besorgnisse allmählich verschwanden, gewann Goethe wieder Mut zur Fortsetzung seines noch unvollendeten Gedichts "Hermann und Dorothea." Unterbrochen ward er jedoch darin durch physische Leiden, besonders durch einen hartnäckigen Katarrh, der ihn während seines Aufenthalts in Jena heimsuchte. An Schiller schrieb er den 27. Februar 1797: "Ich bin wirklich mit Hausarrest belegt, sitze am warmen Ofen, und friere von innen heraus. Der Kopf ist mir eingenommen, und meine ganze Intelligenz wäre nicht im Stande, durch einen freien Denkaktus den einfachsten Wurm zu produzieren; vielmehr muss sie dem Salmiak und dem Liquiriziensaft, als Dingen, die an sich den hässlichsten Geschmack haben, wider ihren Willen die Existenz zugestehen. Wir wollen hoffen, dass wir aus der Erniedrigung dieser realen Bedrängnisse zur Herrlichkeit poetischer Darstellungen nächstens gelangen werden, und glauben dies um so sicherer, als uns die Wunder der stetigen Naturwirkungen bekannt sind."
Am 1. März 1797 meldete Goethe, dass "der Katarrh zwar im Abmarsch sei," er aber noch das Zimmer hüten müsste. "Die Gewohnheit", schrieb er, "fängt an, mir diesen Aufenthalt erträglich zu machen." Er äußerte in diesem Briefe die Hoffnung, sein Gedicht "Hermann und Dorothea," wovon er den vierten Gesang vollendet habe, glücklich zu Ende zu bringen. "So verschmähen also," schrieb er, "die Musen den asthenischen Zustand nicht, in welchem ich mich durch das Übel versetzt fühle. Vielleicht ist es gar ihren Einflüssen günstig." Bereits am 4. März meldete Goethe, dass die Arbeit fortrücke, und schon anfange, Masse zu machen. "Nur auf zwei Tage," schrieb er, "kommt es noch an, so ist der Schatz gehoben, und ist er erst einmal über der Erde, so findet sich alsdann das Polieren von selbst." Merkwürdig sei es, fügte Goethe hinzu, wie das Gedicht gegen das Ende sich ganz zu seinem idyllischen Ursprung hinneige.
Die Erfindung, die Wahl des Stoffs hielt Goethe bei jedem poetischen Werke für die Hauptsache. Form und Darstellung, meinte er, seien nur Nebendinge. Er schrieb darüber an Schiller den 5. April 1797: "Sie haben ganz Recht, dass in den Gestalten der alten Dichtkunst, wie in der Bildhauerkunst, ein Abstraktum erscheint, das seine Höhe nur durch das, was man Stil nennt, erreichen kann. Es gibt auch Abstrakta durch Manier, wie bei den Franzosen. Auf dem Glück der Fabel beruht freilich alles; man ist wegen des Hauptaufwandes sicher, die meisten Leser und Zuschauer nehmen dann doch nichts weiter davon, und dem Dichter bleibt doch das ganze Verdienst einer lebendigen Ausführung, die desto fleißiger sein kann, je besser die Fabel ist."
Goethe und die Bibel
Abgelenkt ward Goethe wieder von der Beschäftigung mit seinem Epos durch eine jugendliche Lieblingsidee, die in ihm auftauchte. Die Bibel ward für ihn ein Gegenstand mannigfacher Forschungen. "Indem ich den patriarchalischen Überresten nachspürte," schrieb er den 12. April 1797, "bin ich in das Alte Testament geraten, und habe mich aufs Neue nicht genug verwundern können über die Konfusion und die Widersprüche der fünf Bücher Mosis, die freilich, wie bekannt, aus hunderterlei schriftlichen und mündlichen Traditionen zusammengestellt sein mögen. Über den Zug der Kinder Israel in der Wüste hab' ich einige artige Bemerkungen gemacht, und es ist der verwegene Gedanke in mir entstanden, ob nicht die große Zeit, welche sie darin zugebracht haben, erst eine spätere Erfindung sei."
Näher erklärte sich Goethe hierüber in einem Briefe vom 15. April 1797. "Noch immer," schrieb er, "hab' ich die Kinder Israel in der Wüste begleitet. Meine kritisch-historisch-poetische Arbeit geht davon aus, dass die vorhandenen Bücher sich selbst widersprechen und sich selbst verraten; und der ganze Spaß, den ich mir mache, läuft dahin hinaus, das menschlich Wahrscheinliche von dem Absichtlichen und bloß Imaginierten zu sondern, und doch für meine Meinung überall Belege aufzufinden. Alle Hypothesen dieser Art bestehen bloß durch das Natürliche des Gedankens und durch die Mannigfaltigkeit der Phänomene, auf die er sich gründet." Es sei ihm, fügte Goethe hinzu, "recht wohl zu Mute, wieder einmal etwas auf kurze Zeit zu haben, bei dem er mit Interesse im eigentlichen Sinne des Worts spielen könne, denn die Poesie, wie er sie seit einiger Zeit treibe, sei doch eine gar zu ernste Beschäftigung."
Neben diesen Bibelstudien, bei denen ihm Eichhorns Einleitung in das Alte Testament wesentliche Dienste leistete, hatten sich die einzelnen Gesänge von "Hermann und Dorothea" nach und nach zu einem Ganzen gerundet. An Schiller schrieb Goethe den 28. April 1797: "Mein Gedicht ist fertig. Es besteht aus zweitausend Hexametern, und ist in neun Gesänge geteilt, und ich sehe darin wenigstens einen Teil meiner Wünsche erfüllt. Die höchste Instanz, vor der es gerichtet werden kann, ist die, vor welche der Menschenmaler seine Kompositionen bringt, und es wird die Frage sein, ob man unter dem modernen Kostüm meines Gedichts die wahren ächten Menschenproportionen anerkennen werde. Der Gegenstand selbst ist äußerst glücklich, ein Süjet, wie man es in seinem Leben nicht zweimal findet; wie denn überhaupt die Gegenstände zu wahren Kunstwerken seltener gefunden werden, als man denkt, woher auch die Alten sich nur beständig in einem gewissen Kreise bewegen. In der Lage, in der ich mich befinde, habe ich mir zugeschworen, an nichts mehr Teil zu nehmen, als an dem, was ich so in meiner Gewalt habe, wie ein Gedicht, wo man weiß, dass man zuletzt nur sich zu tadeln oder zu loben hat; an einem Werke, an dem man, wenn der Plan einmal gut ist, nicht das Schicksal des Penelopeischen Schleiers erlebt. Leider lösen in allen übrigen Dingen einem die Menschen gewöhnlich wieder auf, was man mit großer Sorgfalt gewoben hat, und das Leben gleicht jener beschwerlichen Art zu wallfahrten, wo man drei Schritte vor, und zwei zurück tun muss."