Goethe reist erneut in die Schweiz

So wenig auch Goethes individuelle Natur, die Vielseitigkeit seines Geistes ihm erlaubte, bei dem in diesem Briefe ausgesprochenen Entschlusse ernstlich zu beharren, so schien er doch diesmal demselben treu bleiben zu wollen. "Ich habe," schrieb er den 22. Juni 1797, "mich entschlossen, an meinen Faust zu gehen, und ihn, wo nicht zu vollenden, doch wenigstens um ein gutes Teil weiter zu bringen, indem ich das, was gedruckt ist, wieder auflöse, und es mit dem, was schon fertig oder erfunden ist, in große Massen disponiere, und so die Ausführung des Plans, der eigentlich nur eine Idee ist, näher vorbereite. Nun hab' ich eben diese Idee und deren Darstellung wieder vorgenommen, und bin mit mir selbst ziemlich einig. Da die verschiedenen Teile dieses Gedichts in Absicht auf die Stimmung verschieden behandelt werden können, wenn sie sich nur dem Geist und Ton des Ganzen subordinieren, und da übrigens die ganze Arbeit subjektiv ist, so kann ich in einzelnen Momenten mich damit beschäftigen, und so bin ich auch jetzt etwas zu leisten im Stande. Ich werde vorerst die großen erfundenen und halb bearbeiteten Massen zu enden, und mit dem, was gedruckt ist, zusammen zu stellen suchen, und so lange treiben, bis sich der Kreis selbst erschöpft."

Unterbrochen ward Goethes Beschäftigung mit dem "Faust", so wie seine ganze literarische Tätigkeit durch eine Reise nach der Schweiz. Den 30. Juli 1797 verließ er Weimar. Unterwegs beschäftigte ihn die genaue Betrachtung der Gegenden, besonders in Bezug auf Geognosie und die darauf gegründete Kultur des Bodens. Genussreiche Tage verlebte er in seiner Vaterstadt Frankfurt. Unter mehreren Bekanntschaften, die er dort teils anknüpfte, teils erneuerte, war besonders Sömmering für ihn belehrend durch seine geistreiche Unterhaltung, durch Präparate und Zeichnungen. Zur Ausführung einiger poetischen Entwürfe fehlte ihm die nötige Stimmung, die er erst nach der Rückkehr von einem ruhigen Zustande erwartete. Von Frankfurt a.M. ging er über Heidelberg, Heilbronn und Ludwigsburg nach Stuttgart, wo er den kunstliebenden Kaufmann Rapp und die Bildhauer Dannecker und Scheffauer kennen lernte. In der Schweiz, wohin er sich im September 1797 begab, fand sein poetisches Talent mannigfache Anregung durch die Betrachtung der schönen Natur. "Herrliche Stoffe zu Idyllen und Elegien," schrieb er, "habe ich aufgefunden, und Einiges schon wirklich gemacht." Am längsten verweilte er bei der Idee, den Befreier der Schweiz zum Helden eines epischen Gedichts zu wählen. Er schrieb darüber den 14. Oktober 1797: "Ich bin fest überzeugt, dass die Fabel vom Tell sich werde episch behandeln lassen, und es würde daher, wenn es mir, wie ich vorhabe, gelingt, der sonderbare Fall eintreten, dass das Märchen durch die Poesie erst zu seiner vollkommenen Wahrheit gelangte, anstatt dass man sonst, um etwas zu leisten, die Geschichte zur Fabel machen muss. Das beschränkte, höchst bedeutende Lokal, worauf die Begebenheit spielt, hab' ich mir wieder recht genau vergegenwärtigt, so wie die Charaktere, Sitten und Gebräuche der Menschen in diesen Gegenden, so gut in der kurzen Zeit möglich, beobachtet, und es kommt nun auf gut Glück an, ob aus diesem Unternehmen etwas werden kann."

Andere Gegenstände verdrängten die Ausführung dieser Idee. Indes meinte Goethe doch, dass nur ein wenig Gewohnheit dazu gehöre, die literarische Tätigkeit, an die man daheim gewöhnt sei, auch auswärts fortzusetzen. "Wenn die Reise," schrieb er, "zu gewissen Zeiten zerstreut, so führt sie uns zu andern Zeiten desto schneller auf uns selbst zurück. Der Mangel an äußeren Verhältnissen und Verbindungen, ja die lange Weile ist demjenigen günstig, der manches zu verarbeiten hat. Die Reise gleicht einem Spiel; man empfängt mehr oder weniger, als man hofft, man kann ungestört eine Weile hin schlendern, und dann ist man wieder genötigt, sich einen Augenblick zusammenzunehmen. Für Naturen, wie die meinige, die sich gern festsetzen und die Dinge festhalten, ist eine Reise unschätzbar; sie belebt, berichtigt, belehrt und bildet."

Goethe und das Theater

Bei seiner Rückkehr nach Weimar widmete Goethe vorzugsweise seine Aufmerksamkeit dem Theater. Sein Interesse an der Bühne, durch die schriftliche und mündliche Unterhaltung mit Schiller immer auf's neue belebt, ward noch höher gesteigert, als Iffland im April 1798 eine Reihe von glänzenden Darstellungen gab. Vielfach tätig war Goethe bei dem neuen Theatergebäude, das damals durch den Architekten Thouret aus Stuttgart in Weimar errichtet und mit einem Prolog Schillers eröffnet ward, welchem eine Vorstellung von Wallensteins Lager folgte. Goethe fühlte sich der dramatischen Gattung seit längerer Zeit entfremdet. Er gestand dies in einem Briefe an Schiller vom 9. Dezember 1797. "Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse," schrieb er, "ist es mir nie gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher eher vermieden, als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, da bei uns die Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Wesen hervorzubringen? Ich kenne mich zwar nicht selbst genug, um zu wissen, ob ich eine wahre Tragödie schreiben könnte; ich erschrecke aber bloß vor dem Unternehmen, und bin überzeugt, dass ich mich durch den bloßen Versuch zerstören könnte."

In der Beilage zu einem an Schiller gerichteten Briefe hatte Goethe den Unterschied zwischen epischer und dramatischer Dichtung scharf bezeichnet. Doch blieb er der ersteren treu, weil sie mit seinen Naturanlagen mehr harmonierte. Das fortgesetzte Studium des Homer führte ihn zu dem Entwurf eines epischen Gedichts unter dem Titel "Achilleis", das jedoch unvollendet blieb. Den 6. Dezember 1797 schrieb Goethe: "Ich habe diese Tage fortgefahren, die Ilias zu studieren, und zu überlegen, ob zwischen ihr und der Odyssee nicht noch eine Epopöe inne liege. Ich finde aber eigentlich nur tragische Stoffe, es sei nun, dass es wirklich so ist, oder dass ich nur den epischen nicht finden kann. Das Lebensende des Achill mit seinen Umgebungen ließe eine epische Behandlung zu, und forderte sie gewissermaßen wegen der Breite des zu bearbeitenden Stoffs. Nun würde die Frage entstehen, ob man wohl tue, einen tragischen Stoff ebenfalls episch zu behandeln. Es lässt sich allerlei dafür und dagegen sagen. Was den Effekt betrifft, so würde ein Neuer, der für Neue arbeitet, immer dabei im Vorteil sein, weil man ohne pathologisches Interesse sich wohl schwerlich den Beifall der Zeit erwerben wird."

Noch in mehreren seiner Briefe kam Goethe wieder auf diese Idee zurück, die er jedoch, der Ermunterungen Schillers ungeachtet, nicht realisierte. Dankbar erkannte er jedoch des Freundes wohltätigen Einfluss auf seine poetische Tätigkeit. Er schrieb darüber den 6. Januar 1798 an Schiller: "Das günstige Zusammentreffen unsrer beiden Naturen hat uns schon manchen Vorteil verschafft. Wenn ich Ihnen zum Repräsentanten mancher Objekte diente, so haben Sie mich von der allzu strengen Beobachtung der äußern Dinge und ihrer Verhältnisse auf mich selbst zurückgeführt. Sie haben mich die Vielseitigkeit des inneren Menschen mit mehr Billigkeit anzuschauen gelehrt, Sie haben mir eine zweite Jugend verschafft, und mich zum Dichter gemacht, welches zu sein ich so gut als aufgehört hatte."

Goethes poetische Orientierungslosigkeit

Seine poetische Unfruchtbarkeit erklärte sich Goethe aus den noch immer fortdauernden Nachwirkungen seines zerstreuten Reiselebens. "Das Material, das ich erbeute," schrieb er, "kann ich zu nichts brauchen, und ich bin außer aller Stimmung gekommen, irgend etwas zu tun. Ich erinnere mich aus früherer Zeit eben solcher Wirkungen, und es ist mir aus manchen Fällen und Umständen wohl bekannt, dass Eindrücke bei mir sehr lange wirken müssen, bis sie zum poetischen Gebrauch sich willig finden lassen. Ich habe auch deshalb ganz pausiert, und erwarte nun, was mir mein erster Aufenthalt in Jena bringen wird."

Die erwartete poetische Ausbeute bestand jedoch nur in einzelnen kleinen Gedichten, unter denen die "Weissagungen des Bakis" vielleicht die bedeutendsten waren. Goethe wandte sich zur bildenden Kunst. Ihn beschäftigten die Vorarbeiten zur Herausgabe einer Zeitschrift, "die Propyläen" betitelt. Gleichzeitig setzte er die Biographie des "Benvenuto Cellini" fort, als Anhaltspunkt der Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts. Daran reihten sich mannigfache andere Beschäftigungen, die in der rauen und unfreundlichen Witterung des Januar ihm die Zeit verkürzten. Er nahm unter andern seine "Farbenlehre" wieder zur Hand.

Seinem Freunde Schiller kam er aufmunternd entgegen durch das lebhafte Interesse an dem "Wallenstein." Gemeinschaftlich mit Schiller entwarf er die Idee, mehrere ältere Schauspiele dem Geschmack der neuern Zeit zu nähern, und sie in einer Umbildung auf die Bühne zu bringen. Dem deutschen Theater sollte dadurch zu einem soliden Repertoire verholfen werden. Goethe machte hierzu den Anfang mit seiner Übersetzung des Mahomet und Tancred von Voltaire, Schiller mit der Umarbeitung von Shakespeares Macbeth.

Durch den Beifall, mit welchem Schillers "Wallenstein," seine "Maria Stuart" u.a. seiner späteren dramatischen Werke bei der Vorstellung auf der Bühne aufgenommen wurden, fühlte sich Goethe ermuntert, in einer ihm seit mehreren Jahren beinahe fremd gewordenen Gattung sich wieder zu versuchen. Die Memoiren der Stephanie von Bourbon boten ihm den Stoff zu einer Tragödie, die er später unter dem Titel "die natürliche Tochter" herausgab. Nach seinem eignen Geständnis wollte er darin "wie in einem Gefäß alles niederlegen, was er über die französische Revolution und ihre Folgen teils gedacht, teils niedergeschrieben hatte." Während der Beschäftigung mit diesem Werke blieb er tätig für die "Propyläen." Manche Mußestunde widmete er auch, durch Schellings Naturphilosophie angeregt, verschiedenen damit zusammenhängenden Studien. Aus seiner Gartenwohnung am sogenannten Stern, einem Teil des Weimarischen Parks, beobachtete er durch ein Spiegelteleskop den Mondwechsel mit seinen wunderbaren Erscheinungen. Daneben beschäftigte ihn die Lektüre von Herders "Fragmenten zur Geschichte der Literatur", von "Winkelmanns Briefen" und von Miltons "verlorenem Paradiese", um, nach seinem eignen Geständnis, "die mannigfachsten Zustände, Denk- und Dichtweisen sich zu vergegenwärtigen."

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