Friederike Brion
Das früh in Goethe erwachte Gefühl für Naturschönheiten lockte ihn in die anmutige Umgebung Straßburgs. Mit einigen dortigen Freunden besuchte er Zabern, Buchsweiler, Lützelstein, Saarbrück und andere Städte und Flecken im Elsaß. Auf diesen Exkursionen lernte er mehrere Familien kennen, bei denen er eine gastfreie Aufnahme fand. Vorzüglich war die der Fall bei dem Pfarrer Brion in dem etwa sechs Stunden von Straßburg entfernten Dorfe Sesenheim. Ein besonderes Interesse erhielt diese Bekanntschaft für Goethe durch ein Liebesverhältnis zur dritten Tochter jenes Geistlichen. Nach übereinstimmenden Zeugnissen war Friederike Brion ein Mädchen von schönem Wuchs, blondem Haar und blauen Augen. Was ihr an äußern Reizen abging, ersetzte sie durch Anmut in ihrem Wesen und durch das Talent geselliger Unterhaltung. Sie hatte ihren Geist durch das Lesen der besten Schriftsteller gebildet, und war musikalisch. Oft durchwanderte Goethe mit ihr die anmutige Gegend. Ein Buchenwäldchen war sein Lieblingsplatz. Gesellige Zerstreuungen, mitunter Pfänderspiele, bei denen Goethe durch seinen Witz und Humor glänzte, erheiterten den Kreis von Freunden und Verwandten in des Pfarrers Brion Wohnung zu Sesenheim, wenn Goethe, nach Straßburg zurückgekehrt, dort wieder erschien. Er verweilte mitunter mehrere Wochen in Sesenheim. Den Taumel von Zerstreuungen, in denen er sich befand, schilderten einzelne Stellen in seinen Briefen an den Actuar Salzmann in Straßburg.
"Getanzt hab' ich," schrieb er unter andern, "am Pfingstmontage von 2 Uhr nach Tisch bis zwölf Uhr in der Nacht, in einem fort, außer einigen Intermezzos von Essen und Trinken. Wir hatten brave Schnurranten erwischt, da ging's wie Wetter. Das ganze Ich war in das Tanzen versunken." Er schadete durch das Übermaß seiner Gesundheit. Geplagt von einem hartnäckigen Husten, schrieb er einige Tage später: "Man lebt doch nur halb, wenn man nicht Atem schöpfen kann. Und doch mag ich nicht in die Stadt zurück. Die Bewegung und freie Luft hilft wenigstens, was zu helfen ist." Nicht ohne einen Anflug von Trübsinn schloss er seinen Brief mit den Worten: "Die Welt ist schön, so schön! Wer's genießen könnte! Ich bin manchmal ärgerlich darüber, und manchmal halte ich mir erbauliche Erbauungsstunden über das Heute, über diese Idee, die unserer Glückseligkeit so unentbehrlich ist, und die mancher Professor der Ethik nicht fasst, und keiner gut verträgt."
Sein immer leidenschaftlicher gewordenes Verhältnis zu Friederiken fing an ihn zu beunruhigen. Goethe fühlte, dass es sich bald, vielleicht für immer auflösen musste, da die Zeit seiner Abreise von Straßburg nahe war. Seine Besuche in Sesenheim wurden Seltener, aber sein Briefwechsel mit Friederiken dauerte fort. Goethes Zeit war freilich beschränkt. Er musste an die Ausarbeitung seiner Dissertation denken, die ihm die juristische Doktorwürde verschaffen sollte. Das von ihm gewählte Thema war nach seiner eignen Äußerung in späteren Jahren: "der Gesetzgeber sei nicht allein berechtigt, sondern verpflichtet, einen gewissen Kultus festzusetzen, von welchem weder die Geistlichkeit, noch die Laien sich lossagen dürften." Unter dem Vorsitz der Straßburger Professoren Koch und Oberlin fand die Disputation am 6. August 1771 statt. Einige von Goethes akademischen Freunden waren die Opponenten.
Mit Tränen nahm Friederike von ihm Abschied, als er ihr vom Pferde herab nochmals die Hand reichte. Sie hatte ihn wahrhaft geliebt. Sie soll später mehrere Heiratsanträge mit der Äußerung zurückgewiesen haben: "wer einmal Goethen geliebt, könne keinen Andern lieben." Ein sonderbarer Zufall begegnete ihm nach jenem schmerzlichen Abschiede auf seinem Ritt nach Drusenheim. Seine eigene Gestalt glaubte er zu erblicken, die ihm zu Pferde entgegenkam, in einem hechtgrauen, mit Gold verbrämten Kleide, wie er es wirklich nach acht Jahren trug, als er noch einmal in Sesenheim einen Besuch machte. Friederike sah ihn seitdem nicht wieder. Sie soll jedoch, nach seinen brieflichen Äußerungen, schon damals sich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, auf seinen Besitz zu verzichten.
Zurück in Frankfurt
Goethes Empfang im elterlichen Hause übertraf seine Erwartungen. Erfreut, seinen Sohn durch die erlangte Doktorwürde seinem künftigen Beruf um einen Schritt näher gerückt zu sehen, ließ Goethes Vater den Beifall, den er der Dissertation gezollt, auch auf mehrere Gedichte, Aufsätze und Skizzen übergehen, die Goethe während seines Aufenthalts in Straßburg entworfen hatte. Von seinen Leipziger Bekannten fand Goethe in Frankfurt, außer seinem Landsmann und nachherigen Schwager Schlosser, auch dessen Bruder, einen tüchtigen Juristen, der nebenher der Poesie huldigte, und die Hochzeit von Goethes Schwester Cornelia durch ein zu Frankfurt 1773 in Folio gedrucktes Gedicht verherrlichte.
Wichtig und einflussreich ward für Goethe die Bekanntschaft mit Merk, der damals als Kriegszahlmeister in Darmstadt lebte, und mit mannigfachen Kenntnissen und einer vielseitigen Bildung, unerschütterliche Redlichkeit und einen offenen, geraden Charakter verband. Lebhaft interessierte er sich in mehrfacher Hinsicht für Goethe und dessen Talente, und väterlich warnte er ihn, seine Tätigkeit nicht nach den verschiedenartigsten Richtungen zu zersplittern. Er ermunterte ihn, seine Fähigkeiten und Kräfte zu Konzentrieren, und tadelte ihn, wenn er eine begonnene literarische Arbeit wieder aufgab, und immer nur Skizzen und Fragmente lieferte. Unter solchen Aufmunterungen entwarf Goethe die ersten Umrisse zum "Faust" und "Götz von Berlichingen."
Durch die Beschäftigung mit dem zuletzt genannten dramatischen Werk war Goethe in das fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert zurückgeführt worden. Luthers Leben und Taten, die in jenem Zeitraum so herrlich hervor glänzten, näherten ihn wieder der heiligen Schrift und der Betrachtung religiöser Gefühle und Meinungen. Er übte seinen Scharfsinn an dem Alten und Neuen Testament in exegetisch kritischen Untersuchungen. Zu einem besonderen Studium machte er das Dogma von der Erbsünde. Ausführlich erörterte er diese Lehre in einem dem Druck übergebenen Briefe, den er unter der Maske eines Landgeistlichen an seinen Amtsbruder richtete. Ebenfalls angeblich von einem Landpfarrer in Schwaben verfasst, war der von Goethe herausgegebene "Versuch einer gründlichen Beantwortung einiger bisher unerörterten biblischen Fragen." Über den Inhalt der zuletzt genannten Schrift legte Goethe selbst in späteren Jahren das offene Bekenntnis ab: "Ich geriet damals auf die wunderlichsten Einfälle. Ich glaubte gefunden zu haben, dass nicht unsere zehn Gebote auf den Tafeln Moses gestanden, dass die Israeliten keine vierzig Jahre, sondern nur kurze Zeit durch die Wüste gewandert wären u.s.w. Auch das Neue Testament war vor meinen Untersuchungen nicht sicher. Ich verschonte es nicht mit meiner Sonderungslust, und glaubte auch in dieser Region allerlei Entdeckungen zu machen. Die Gabe der Sprachen am Pfingstfest in Glanz und Klarheit erteilt, deutete ich mir auf eine etwas abstruse Weise, nicht geeignet, sich viele Teilnahme zu verschaffen." Die erwähnten kleinen Schriften, ein Verlagsartikel des Buchhändlers Eichenberg in Frankfurt am Main, erschienen 1773 ohne Angabe des Druckorts und Verlegers, und wurden in die neuesten Ausgaben von Goethes Werken aufgenommen.
Aus diesem Ideenkreise ward er wieder entfernt durch das wachsende Interesse an seinem Ritterschauspiel "Götz von Berlichingen." Manche historische Studien waren ihm dabei unerlässlich. Dem Werke von Datt: de pace publica verdankte er manche Aufklärung der dunkeln Zeitperiode, in der sein Stück spielte. Seine Stimmung, während er mit seinem dramatischen Werke beschäftigt war, schilderte er den 28. November 1771 in einem Briefe an seinen Freund, den Actuar Salzmann in Straßburg. "Sie kennen mich so gut," schrieb er, "und dennoch wett' ich, Sie erraten nicht, warum ich nicht schreibe. Es ist eine Leidenschaft, eine ganz unerwartete Leidenschaft; Sie wissen, dass mich dergleichen in ein Zirkelchen werfen kann, dass ich Sonne, Mond und die lieben Sterne darüber vergesse. Ich kann nicht ohne das sein, Sie wissen es lange, und koste es was es wolle, ich stürze mich drein. Diesmal sind keine Folgen zu befürchten. Mein ganzer Genius liegt auf einem Unternehmen, worüber Homer und Shakespeare und Alles vergessen werden. Ich dramatisiere die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andenken eines braven Mannes, und die viele Arbeit, die mich's kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib, den ich so nötig habe. Es ist traurig, an einem Orte zu leben, wo unsere ganze Wirksamkeit in sich selbst summen muss. Ich ziehe mit mir selbst auf dem Felde und auf dem Papier herum. Es wäre aber eine traurige Gesellschaft, wenn ich nicht alle Stärke die ich in mir fühle, auf ein Objekt würfe, und das zu packen und zu tragen suchte, so viel mir möglich, und was nicht geht, das schleppe ich. Ich hoffe Sie nicht wenig zu vergnügen, wenn ich Ihnen einen edlen Vorfahren, die wir leider nur von ihren Grabsteinen kennen, im Leben darstelle. Wie oft wünsche ich Sie hierher, um Ihnen ein Stückchen Arbeit zu lesen und Urteil und Beifall von Ihnen zu hören. Hier ist Alles um mich herum tot. Frankfurt bleibt das Nest, Nidus, wenn Sie wollen, wohl um Vögel auszubrüten, sonst auch figürlich Spelunca. Gott helfe aus diesem Elend, Amen." In einem späteren Briefe an Salzmann vom 3. Februar 1772 dankte Goethe dem Freunde für den Beifall, den er den ihm mitgeteilten Proben des Götz von Berlichingen zollte, und fügte hinzu. "Das Diarium meiner Umstände ist, wie Sie wissen, für den geschwindesten Schreiber unmöglich. Inzwischen haben Sie aus dem Drama gesehen, dass die Intentionen meiner Seele dauernder werden, und ich hoffe, sie soll sich nach und nach bestimmen. Aussichten erweitern sich täglich, und Hindernisse räumen sich weg. Ein Tag mag bei dem andern in die Schule gehen; denn einmal für allemal, die Minorennität lässt sich doch nicht überspringen."