Ein Bild seines Lebens und Wirkens

Nach der Schlacht bei Aspern ging Kleist wieder nach Prag zurück, und sein Mut war wieder so gehoben, daß er hier den Plan faßte, eine politische Zeitschrift zu gründen und dafür alle Vorbereitungen mit Eifer getroffen hatte. Napoleons großer und entscheidender Sieg bei Wagram im Juli hatte alle Hoffnungen wieder danieder geworfen und auch für die Verwirklichung der Idee mit der Zeitschrift, welche »Germania« heißen sollte, war der Mut geschwunden. Eine Zeitlang ging Kleist jetzt ernstlich mit dem Gedanken um, Napoleon zu ermorden. Aber in Prag erkrankte er wieder, und da er genas, befand er sich von Geldmitteln so entblößt, daß er sich wieder an seine Schwester wenden mußte. Als er später, nach dem Wiener Friedensschluß im Oktober 1809, nach der Heimat zurückkehrte, hatte er seine Schwester in Frankfurt a. O. nicht angetroffen. Er begab sich im November nach Berlin, wo er zunächst einige kleinere Gedichte schrieb, die an die Zeitereignisse anknüpften, so die Ode »Auf den Wiedereinzug des Königs« und später, im März 1810 das Sonett »An die Königin Luise von Preußen.« Wann er das tief ergreifende Gedicht geschrieben, dem er die Ueberschrift gab »Das letzte Lied«, ist nicht mit Sicherheit festzustellen, und es bleibt wenigstens zweifelhaft, ob es wirklich sein »letztes« war.

Schon einige Zeit vorher hatte Kleist in Berlin den Gedanken zu einer neuen dramatischen Dichtung gefaßt; Ende des Jahres 1809 begann er sein reinstes, edelstes und auch in der dramatischen Form künstlerisch vollendetstes Schauspiel: »Prinz Friedrich von Homburg«. Wenn man bei dem hohen Werte dieser vaterländischen Dichtung erwägt, wie Kleist immer und immer wieder in seinen Hoffnungen als Dichter sich getäuscht sah, wie ferner sein patriotisches Herz zerrissen war und wie er dabei selbst um seine materielle Existenz in Sorgen und Not lebte, so muß die Ausdauer seiner dichterischen Kraft, die er gerade in diesem seinem letzten größern Werke so herrlich bekundete, umso mehr in Erstaunen setzen.

Wenn auch der geschichtliche Stoff zu diesem Schauspiel einer ganz andern Zeit entnommen war als sein vorletztes dramatisches Werk, so wird uns dennoch die politische Tendenz im Prinzen von Homburg klarer zur Erscheinung kommen, wenn wir das Schauspiel im Rückblick auf die Hermannsschlacht betrachten. Was die dichterische Schönheit betrifft, so enthält es zwar keine Szenen von so überwältigender Großartigkeit wie die Hermannsschlacht, aber es zeigt nicht nur eine mehr künstlerische Form im großen Ganzen, sondern es zeigt auch in der plastischen Anschaulichkeit der Charaktere den Dramatiker auf seiner höchsten Höhe. Vor allem können die Gestalten des Großen Kurfürsten und des alten Kottwiz als köstlichste Perlen in der dramatischen Dichtung gelten. Szenen, wie im ersten Akte diejenige, in welcher der Feldmarschall den kommandierenden Offizieren den Kriegsplan diktiert, nicht minder im zweiten Akte das hitzige Draufgehen des Prinzen bei Fehrbellin, zeigen einen Dramatiker vom allerhöchsten Berufe. Auch hinsichtlich der Sprache, welche bei Kleist in fast allen seinen Dramen durch Härte und oft abscheuliche und durchaus unstatthafte Konstruktionen, besonders in den Versen, so häufig abstößt und den Genuß an der innern Schönheit beeinträchtigt, zeigte der »Prinz von Homburg« eine vorgeschrittene Reinheit und Klarheit. Die kranke Stelle, welche leider auch in diesem Stücke sich fühlbar macht, liegt in der Hauptgestalt, im Prinzen selbst. Es war schon eine seltsame Idee, dem Helden eines solchen Schauspiels die kranke Eigenschaft des Nachtwandelns zu geben. Und daß der Dichter das Stück, das mit dem somnambulen Zustande des Prinzen beginnt, auch wieder mit einer derartigen Szene schließen läßt, erscheint als eine Spielerei, und noch dazu als eine grausame. Schlimmer aber noch für den Gesamteindruck des Dramas ist die Art und Weise, wie der Dichter das Moment der den Prinzen überwältigenden Todesfurcht behandelt. Auch hier hat der Dichter wieder ein psychologisches Motiv ergriffen, das an sich richtig sein mag, welches er aber mit solchem Wohlgefallen wieder bis in die äußersten Konsequenzen verfolgt, daß er darin viel weiter geht, als es nötig war. Der vorübergehende Todesschauer, ja auch selbst Todesfurcht, nachdem der Prinz das für ihn bereitete offene Grab gesehn, wäre an sich ganz gerechtfertigt; daß er den Prinzen aber in unwürdiger Weise um sein Leben jammern und betteln läßt, damit untergräbt er selbst dessen Berechtigung zum Helden eines Dramas. Die rücksichtslose Selbständigkeit des Kleistschen Talentes verleitete ihn in solchen Dingen zu einem Starrsinn, mit welchem er die gewünschte Wirkung so oft schwer beeinträchtigte. Wer aber mit dieser Dichtung sich oft beschäftigt hat oder sie wiederholt aufführen gesehn, der hat sich an die Eigenart dieses Dichters so gewöhnt, daß ihn auch solche Absonderlichkeiten nicht mehr stören; und die Schönheiten im Prinzen von Homburg sind in der Tat so groß, daß man die Mängel der Dichtung darüber vergessen kann. Wie in andern seiner Dichtungen, so suchte er auch hier den ihn ergreifenden Gedanken mit grausamer Wahrheit bis aufs äußerste zu erschöpfen und von keiner Erscheinung etwas von ihrem wahren Wesen zu verhüllen. So werden wir beim Käthchen von Heilbronn aus dem Entzücken über die vollendetste Poesie emporgeschreckt durch die Peitsche des edeln Ritters vom Strahl, und so führt er uns die Todesangst des Prinzen in einer Weise vor, daß er selbst seinen Helden der rücksichtslosen Wahrheit opfert. Die Extravaganzen in dieser Richtung bringen ihn dann wieder dazu, daß er vor dieser empfindlich berührenden Wirklichkeit in eine gewisse mystische Richtung flüchtet, wie im Käthchen, so in seiner meisterhaften Erzählung Michael Kohlhaas. In einem Monolog des Prinzen von Homburg, da er im Gefängnis sitzt, läßt er denselben über das Leben und das Jenseits philosophieren:

Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch
Und über buntre Felder noch als hier:
Ich glaub's! Nur schade, daß das Auge modert,
Das diese Herrlichkeit erblicken soll.

Und denselben Helden, der uns durch solche Philosophie das Innerste erschüttert, wie es nur Shakespeare vermochte, macht er zum Nachtwandler, und selbst in seinem wachen Handeln zum phantastischen Träumer. Was die politische Idee in diesem Drama betrifft, so ist schon angedeutet worden, daß sie, besonders neben der Hermannsschlacht betrachtet, überzeugender hervortritt. Wenn Kleist in dieser Dichtung uns diese Zerrissenheit Deutschlands schilderte, und den Triumph in dem einheitlichen Handeln der deutschen Stämme erblickte, so wies er danach in dem dramatischen Gemälde, aus welchem die Gestalt des Großen Kurfürsten riesig hervorragt, auf denjenigen Staat hin, in welchem vor allem der Geist der Ordnung als der starke Fels, an den sich unsere Hoffnungen klammern mußten, als unser Hort für die Zukunft erscheint. Wenn in der mit stärkerer Leidenschaft erfüllten Hermannsschlacht die poetische Kraft das Uebergewicht hat, so liegt in dem brandenburgischen Schauspiel jener politische Gedanke schon durch den Stoff unserm Verständnis näher. In diesem zeigte er bereits das preußische Musterbild eines auf Ordnung, Disziplin und Gesetz gegründeten Staats- und Militärwesens. Ueber die Berechtigung der Notwehr und der in der Hermannsschlacht verherrlichten Methode wird man darum nicht in Zweifeln sein können, so lange jene vollendete militärische Organisation als Schutzwehr gegen feindliche Nachbarn nicht existierte. In dem brandenburgischen Schauspiel war daneben noch die Lehre gegeben, – und das Beispiel des unglücklichen Schill steht uns dabei vor Augen – daß für das Vaterland, für das geordnete Ganze des Staates jedes persönliche Gefühl, möge es noch so gerechtfertigt erscheinen, sich unterzuordnen habe. Das Gesetz, der Geist der Ordnung ist es, dessen Herrschaft und Autorität sich alles beugen muß.

Mußte nicht gerade von einem solchen Schauspiel der Dichter erwarten, daß es ihm in der preußischen Hauptstadt die vollste Anerkennung und auch die Sicherung seiner materiellen Existenz erringen werde? Es wird uns berichtet, daß Kleist auch wirklich im Hinblick auf diesen Umstand, und zwar auf dringendes Anraten seiner Anverwandten, dies »vaterländische« Schauspiel geschrieben habe. Er sollte aufs neue eine Anstellung zu erhalten suchen, denn die Hoffnungen, von seiner schriftstellerischen Tätigkeit leben zu können, mußten ihm jetzt endlich ganz geschwunden sein. Ganz still für sich hatte er jetzt an dem Prinzen von Homburg rastlos und zum ersten Male ohne längere Unterbrechung gearbeitet. Mit seinem dichterischen Instinkt hatte er sich merkwürdig schnell auf dem militärischen Boden der brandenburgischen Zeit und in dem historischen Zeitkostüm zurechtgefunden, und die Arbeit war ihm so schnell von statten gegangen, daß er schon am 19. März 1810 seiner Schwester Ulrike melden konnte, daß er mit der neuen Dichtung fertig sei. In demselben Briefe sucht er noch einmal sie zu bestimmen, daß sie auf einige Zeit nach Berlin kommen und mit ihm leben möchte. Er hält ihr vor, daß sie in ausgezeichneten Familien, im Hause Altensteins, beim Staatsrat Stägemann usw. sehr angenehm verkehren und dort auch manches zu seinen Gunsten wirken könne. Er meldet ihr ferner in diesem Briefe, daß er der Königin Luise an ihrem Geburtstage (10. März) das vorhin erwähnte, an sie gerichtete Gedicht selbst überreicht habe, welches, wie er hinzufügt, »sie vor den Augen des ganzen Hofes zu Tränen gerührt hat; ich kann ihrer Gnade und ihres guten Willens, etwas für mich zu tun, gewiß sein.« Sein neues Schauspiel, meinte er, solle zunächst auf dem Privattheater des Prinzen Radziwill und später auch auf dem Nationaltheater gegeben werden. Der Arme! Nichts von allen seinen Hoffnungen sollte in Erfüllung gehn, und niemals ist er in seinen frohen Erwartungen vom Schicksal so ungerecht und grausam enttäuscht worden. Seine eigenartige Behandlung des patriotischen Stoffes scheint wohl mißfallen zu haben, und die Bedenken, welche gegen die Privataufführung sich richteten, haben dann auch die öffentliche Aufführung auf dem königlichen Nationaltheater gehindert. Es ist tief beschämend für uns, daß gerade jene beiden letzten Stücke, die er schrieb, in denen er so großartig zum Patriotischen Dichter sich aufgeschwungen hatte, während seines Lebens weder auf die Bühne gekommen noch gedruckt worden sind. Um sein Unglück voll zu machen, starb auch noch in demselben Sommer die geliebte Königin Luise, auf deren Gönnerschaft Kleist so sicher gerechnet hatte.

Worauf sollte der Unglückliche jetzt noch bauen? Er hatte nur noch die Aussicht, kümmerlich das Leben zu fristen, und er machte wirklich im Herbst desselben Jahres noch einen Versuch zum schriftstellerischen Erwerb, indem er wieder eine Zeitschrift, die »Berliner Abendblätter« redigierte. Von seinen »Erzählungen« war um dieselbe Zeit ein Band in Berlin erschienen, der außer den beiden älteren und besten, Kohlhaas und die Marquise von O., auch noch das Erdbeben von Chili enthielt. Ein zweites Bändchen erschien noch im folgenden Jahr, und er hatte darin auch ein paar aufgenommen, die vorher in den »Abendblättern« erschienen waren: Die heilige Cäcilie und das Bettelweib von Locarno. Sonst schrieb er für die Abendblätter nur meist unbedeutende Sachen, die keinesfalls mehr eines solchen Dichters würdig waren. Auch die Abendblätter erschienen nur noch bis zum März 1811. Dem Verleger seiner »Erzählungen«: Georg Reimer in Berlin (Realschulbuchhandlung) bot Kleist den »Prinzen von Homburg« zum Druck an und stellte ihm dabei noch einen größeren Roman in Aussicht, »der wohl zwei Bände betragen dürfte«, wünschte aber dabei von Seiten des Verlegers bessere Bedingungen, als diejenigen für die Erzählungen waren. Da der Prinz von Homburg erst zehn Jahre nach Kleists Tode (nach des Dichters Handschrift) herausgegeben wurde, und da wir von der Existenz eines größeren Romans nichts wissen, so ist daraus zu ersehen, daß der Verleger auf das Anerbieten nicht eingegangen war.

An den ihm dauernd befreundet gebliebenen Dichter de la Motte Fouqué, der nicht in Berlin, sondern auf seinem Gute lebte, hatte Kleist noch im August 1811 das zweite Bändchen seiner Erzählungen geschickt, und dabei die Hoffnung ausgesprochen, ihm auch bald sein vaterländisches Schauspiel »Der Prinz von Homburg« vorlegen zu können, »worin ich auf diesem, ein wenig dürren, aber eben deshalb, fast möchte ich sagen, reizenden Felde mit Ihnen in die Schranken trete.« Dieser Brief an Fouqué klingt noch ganz freundlich, und er stellt dem edeln Freunde noch in Aussicht; ihn nächstens ganz unverhofft zu besuchen. Kleist war aber in der Tat jetzt schon recht vereinsamt in Berlin, besonders seit Adam Müller Berlin verlassen hatte, um nach Wien zu gehen. Die Einsamkeit scheint ihn in jene ruhige, resignierte Stimmung gebracht zu haben, welche seinem gewaltsamen Ende vorausging. Von einzelnen ihm sehr nahe stehenden Personen seines Umganges, besonders von dem Kassenrendant Vogel und dessen Frau, mit welcher Kleist in den Tod ging, erfahren wir erst aus jenen Papieren, die auf die tragische Katastrophe selbst sich beziehen. Dasselbe gilt von dem Kriegsrat Peguilhen und einer Kusine des Dichters, Marie von Kleist, zu der er in seiner letzten Lebenszeit sich um so stärker hingezogen gefühlt hatte, je kühler sein Verhältnis zu seiner Schwester Ulrike geworden war.

Da wir hier vor dem Schlußakt der Tragödie seines Lebens stehen, so haben wir zu allen den schon erwähnten Umständen, die sich gegen ihn vereinigt hatten, noch ein paar Momente hervorzuheben, welche zuletzt noch dazu beitrugen, ihm das fernere Leben unerträglich zu machen. Von großer Wichtigkeit dafür sind die erst 1873 ans Licht gekommenen Papiere des Kriegsrats Peguilhen, welcher ein naher Bekannter Kleists und dabei ein intimer Freund der mit Kleist zugleich aus dem Leben geschiedenen Frau Adolfine Henriette Vogel war.

Die von Kleist gehoffte Unterstützung durch den Staat, war ihm, dem Dichter des Prinzen von Homburg, nicht zuteil geworden, und nach dem Tode der Königin Luise kaum noch zu erwarten. Wie es mit seinem versuchten Wiedereintritt ins Militär sich verhielt, ist nicht ganz aufgeklärt. Im Spätsommer hatte er seiner Schwester Ulrike geschrieben, daß der König seine Anstellung beim Militär befohlen habe, er werde entweder bei ihm Adjutant werden oder eine Kompagnie erhalten. Diese beiden Annahmen sind sicher falsch gewesen, und es bleibt nur die Frage offen, ob Kleist selbst an eine derartige Stellung geglaubt hat oder nicht. Genug, Kleist begab sich kurz darauf nach Frankfurt, um von seiner Schwester und seinen andern Verwandten sich das Geld zu seiner Equipierung zu verschaffen. Als Kleist in Frankfurt angekommen war, muß er namentlich auf seine ihn liebende Schwester einen dermaßen erschreckenden Eindruck gemacht haben, daß Ulrike nicht imstande war, diesen Eindruck ihm zu verbergen. Infolgedessen verzichtete Kleist auf eine mündliche Verhandlung und schrieb aus dem Gasthaus, weshalb er gekommen sei. Dann fuhr er fort: »Da Du aber, mein wunderliches Mädchen, Dich bei meinem Anblick so ungeheuer erschrocken hast, ein Umstand, der mich, so wahr ich lebe, aufs allertiefste erschütterte, so gebe ich, wie es sich von selbst versteht, diese Gedanken völlig auf, ... entschlossen, noch heute nachmittag nach Berlin zurückzureisen.«

Es scheint, daß danach zwischen ihm und seiner Schwester sich eine tiefe Kluft gebildet habe, wenigstens von seiner Seite. Am 9. November 1811 schrieb er an seine Kusine Marie von Kleist, die er hier als die einzige bezeichnet, an deren Gefühl und Meinung ihm etwas gelegen sei. Dann folgen die merkwürdigen Geständnisse mit Bezug auf Henriette Vogel: »Ja, es ist wahr, ich habe Dich hintergangen; wie ich Dir aber tausendmal gesagt habe, daß ich dies nicht überleben würde, so gebe ich Dir jetzt, indem ich Abschied von Dir nehme, davon den Beweis. Ich habe Dich während Deiner Anwesenheit in Berlin gegen eine andere Freundin vertauscht; aber, wenn das Dich trösten kann, nicht gegen eine, die mit mir leben, sondern die im Gefühl, daß ich ihr ebensowenig treu sein würde, wie Dir, mit mir sterben will. Mehr Dir zu sagen, läßt mein Verhältnis zu dieser Frau nicht zu. Nur soviel wisse, daß meine Seele, durch die Berührung mit der ihrigen, zum Tode ganz reif geworden ist; daß ich die ganze Herrlichkeit des menschlichen Gemütes an dem ihrigen ermessen habe, und daß ich sterbe, weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt. Lebe wohl! Du bist die einzige auf Erden, die ich jenseits wiederzusehen wünsche. Etwa Ulriken? – ja, nein, nein ja, es soll von ihrem Gefühl abhängen. Sie hat, dünkt mich, die Kunst nicht verstanden, sich aufzuopfern, ganz für das, was man liebt in Grund und Boden zu gehen ...«

Wie der übrige Inhalt dieses Briefes, so spricht auch besonders diese Aeußerung über eine Schwester, wie Ulrike ihm in allen Lebensverhältnissen war, für eine bei Kleist eingetretene oder richtiger weiter gediehene geistige Erschütterung und Verwirrung. Am nächsten Tage (10. November), schreibt er wieder an seine Kusine Marie, als Antwort auf einen Brief von ihr: es sei ihm »ganz unmöglich, länger zu leben.« Er versichert, er sei so empfindlich geworden, daß ihn die kleinsten Angriffe doppelt und dreifach schmerzen, als jeden andern, lieber wolle er zehnmal den Tod erleiden, »als noch einmal wieder erleben, was ich das letzte Mal in Frankfurt an der Mittagstafel zwischen meinen beiden Schwestern, besonders als die alte Wackern dazu kam, empfunden habe,« denn er werde von ihnen »als ein ganz nichtsnutziges Glied der Gesellschaft angesehen, das keiner Teilnahme mehr wert sei.« Und in eben diesem Briefe kommt er auch auf die traurige Lage des Vaterlandes zu sprechen; daß der König jetzt eine Allianz mit den Franzosen schließe, sei auch nicht eben gemacht, ihn am Leben festzuhalten: »Was soll man doch, wenn der König diese Allianz schließt, länger bei ihm machen? Die Zeit ist ja vor der Türe, wo man wegen der Treue gegen ihn, der Aufopferung und Standhaftigkeit und aller andern bürgerlichen Tugenden, von ihm selbst gerichtet, an den Galgen kommen kann.«

Das klingt nun freilich furchtbar bitter, und leider brauchte Kleist in diesem Punkte nicht zu übertreiben, um das Erbärmliche der Situation zu schildern. Das wunderliche Doppelverhältnis Kleists zu seiner Kusine einerseits und zu Henriette Vogel anderseits wird in einem dritten und letzten Briefe an Marie von Kleist noch weiter erörtert, ohne daß es uns begreiflicher wird: »Kann es Dich trösten,« schreibt er, »wenn ich Dir sage, daß ich diese Freundin niemals gegen dich vertauscht haben würde, wenn sie weiter nichts gewollt hätte, als mit mir leben? Gewiß, meine liebste Marie, so ist es; es hat Augenblicke gegeben, wo ich meiner Freundin offenherzig diese Worte gesagt habe. Ach, ich versichere Dich, ich habe Dich so lieb, Du bist mir so überaus teuer und wert, daß ich kaum sagen kann, ich liebe diese vergötterte Freundin mehr als Dich. Der Entschluß, der in ihrer Seele aufging, mit mir zu sterben, zog mich, ich kann Dir nicht sagen, mit welcher unaussprechlichen und unwiderstehlichen Gewalt an ihre Brust ... ich kann Dir nicht leugnen, daß mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt.«

Aus allen diesen Aeußerungen erkennt man wohl den Dichter Kleist wieder in allen seinen Extravaganzen und Sonderbarkeiten; aber diese leidenschaftlichen Briefe geben uns auch die Ueberzeugung von der gefährlichen Steigerung jener Eigenschaften. Wer mit solcher Wollust sich mit dem Gedanken an den Tod beschäftigte, der mußte ihm schon rettungslos verfallen sein. Es ist bisher stets versichert worden, daß es nicht eine Liebesleidenschaft gewesen, welche ihn zu dem Entschlüsse gebracht hatte, mit Henriette Vogel gemeinsam zu sterben. Nein, jene Liebesleidenschaft, wie man sie gewöhnlich versteht, war es allerdings nicht. Es war, wie alles, was Kleist in diesem Punkte empfunden hatte, eine krankhafte Selbsttäuschung, ein Gebilde seiner erhitzten Phantasie, in dessen Genuß er schwelgte, weil er endlich – erst in seinem Sterben – einmal glücklich sein wollte. Und daß es ein Wesen gab, das den Entschluß fassen konnte, mit ihm zusammen zu sterben, dies Gefühl hatte ihn berauscht und seinen Entschluß unwiderruflich gemacht. Von Henriette Vogel wird berichtet, daß bei ihr die Ursache der Todessehnsucht eine furchtbare innere Krankheit gewesen sei, über welche ihr schon von ärztlicher Seite die erschreckendste Aussicht eröffnet worden war. Des Dichters Kusine erfuhr über Henriette Vogel eigentlich nur aus seinen Briefen von einer derartigen Verbindung mit ihr. Nach seinem Tode, als der Kriegsrat Peguilhen Nachrichten über den Verstorbenen sammelte, schrieb ihm Marie von Kleist: »Beiträge zu meines geliebten Vetters unglücklicher Katastrophe kann ich nicht mitteilen, so vertraut auch meine Verbindung mit ihm war. So muß ich gestehen, daß eine nähere Bekanntschaft mit der Frau Rendantin Vogel nie zu meinem Wissen gelangt ist. Zuweilen, wenn er mich verließ, sagte er, er ginge in dieses Haus oder mit dieser Gesellschaft spazieren, ohne sich je über eine engere Verbindung mit Madame Vogel auszulassen.«

Daß Kleist von seiner edeln und einst so geliebten Schwester Ulrike nicht in Mißstimmung scheiden mochte, begreift sich bei seiner grundguten und weichen Natur umsomehr, als er das Unrecht fühlen mußte, das er ihr getan. Und er schrieb ihr noch vor seinem Tode: »Ich kann nicht sterben, ohne mich zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch vor allen andern, meine teuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Aeußerung, die in dem Briefe an die Meisten enthalten ist, laß sie mich zurücknehmen. Wirklich, Du hast an mir getan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten. Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.«

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