Siebenkäs

Am 3. Mai 1794 zog Jean Paul von Schwarzenbach nach Hof zurück. Die beiden ältesten seiner Scholaren kamen auf das Baireuther Gymnasium, und sein Schwarzenbacher Lehrauftrag war erledigt. Wenn dem Dichter jetzt auch für eine nahe Zukunft ganz andere Aussichten sich öffneten, war seine Notlage noch keineswegs gehoben. Trotz der jubelnden Aufnahme der »Unsichtbaren Loge« durch Moritz ging das Werk fast eindruckslos am Lesepublikum vorüber. Moritz war tot, und sein Schwager Matzdorff legte der Honorierung des »Hesperus« den geringen Erfolg der »Unsichtbaren Loge« zugrunde. Er glaubte für die erste Auflage nicht mehr als 200 Taler anlegen zu dürfen und erbot sich, bei einer eventuellen zweiten Auflage 1 Friedrichsdor für den Bogen zu zahlen. »Nun kann man 4, 5 Hundsposttage verwenden, bis man der guten Braut nur etwas an den Rumpf oder an die Ohrläppchen gekauft habe«, schreibt Jean Paul an den Verleger mit Hinblick auf seine Verlobte Karoline Herold. Er mußte nicht nur wieder mit der Mutter und einigen Brüdern das enge Stübchen teilen, sondern auch von neuem Schüler suchen, um nur leben zu können. Wie in Schwarzenbach richtete er, diesmal für die jüngeren Geschwister seiner Freundinnen, einen Schulkursus ein, der ihm nach wie vor die Hälfte der Kraft raubte. Immer wieder begegnen wir in seinen Briefen dem Hinweis auf seine wartenden Schüler, die ihn zum Abbrechen des Schreibens zwingen, und man kann wohl annehmen, daß ihm das Unterrichten nicht mehr dieselbe Freude machte wie vor einigen Jahren, da sein Dichtergenius von ihm jetzt völlig Besitz ergreifen wollte.

Diesmal folgten dem Ende des Romans keine seligen »Sabbathwochen«, auch drückte ihn der mißglückte Schluß des »Hesperus« nieder. Nur auf seine seelischen »Schwelgereien« hatte er in dem Werk bedacht sein wollen, aber er hatte übersehen, daß er diesem Erguß von Empfindungen einen Plan zugrunde gelegt hatte, der nur durch ein umfassendes Lebensganzes erfüllt werden konnte. Die »Unsichtbare Loge« war ein Bruchstück geblieben und dennoch mehr vollendet als der »Hesperus«, dessen Verlegenheitsschluß nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß das Werk innerlich Fragment geblieben war. Hinter der Gestalt seines Helden Viktor stand kein Lebensprogramm; keine besondere Stufe war erklommen worden; das Sichfinden der Liebenden stand nicht als Sinnbild eines schöpferischen Lebens da, das sich nun mit der Erfüllung der Sehnsucht dem Helden auftat. Das alles war auch in der »Unsichtbaren Loge« nicht der Fall gewesen, aber dieses Buch gab sich dafür ehrlich als Fragment, während der unglückliche Schluß des »Hesperus« die Unvollkommenheit nur desto peinlicher hervorhob. Mehr als je mußte Jean Paul darauf brennen, im dritten Anlauf sein eigentliches Meisterstück zu liefern. Der Plan des »Titan« beschäftigt ihn mehr und mehr. Immer deutlicher taucht er in den Briefen auf, aber mit bewußter Zucht wird er zurückgewiesen. Noch eine Reihe von Jahren will Jean Paul der Vorbereitung auf dieses Lebenswerk widmen, das den ursprünglichen Plan der »Unsichtbaren Loge« mit stärkeren Mitteln ausführen soll. Er fühlt, daß er selber in seinem Leben erst eine höhere Stufe erreichen muß, um einen Helden zur höchsten hinführen zu können.

Für das Streben nach Erfüllung einer Liebe hatte er im »Hesperus«, ja bereits in dem ersten Roman den vollkommenen Ausdruck gefunden. Aber immer deutlicher war ihm bewußt, daß erst der Besitz der Liebe und ihre Erfüllung den Mann reift. Wenn er die Totalität des Lebens umspannen wollte, dann mußte er selbst in den Besitz der Liebe kommen, das heißt zur Ehe, und sich mit ihren Problemen auseinandersetzen. Das Bild seiner zukünftigen Ehe auszumalen, liebte er seit Jahren, aber noch immer war er von diesem Ziele weit entfernt. Als er sich mit Karoline verlobte, war es ihm wohl von Beginn an klar gewesen, daß dieses halbe Kind nicht der Mensch war, mit dem er in Gemeinschaft ein ganzes langes Leben verbringen würde. Vielleicht hatte er von Schwarzenbach aus noch glauben können, daß ein näheres Zusammensein die fehlende seelische Gemeinschaft zwischen ihnen herstellen würde. Nach seiner Übersiedelung nach Hof mußte er indessen einsehen, daß das nähere Zusammensein sie nur mehr und mehr voneinander entfernte. Schon im Sommer hatte Amöne leise Andeutungen darüber machen müssen, daß sich ihre Schwester in seiner Abwesenheit nicht sonderlich liebevoll über ihren Verlobten ausspreche. Anfang Dezember folgte dann der förmliche Bruch. »Ich sehe schon, es wird mir bei Ihnen gehen, wie es – –« hatte Karoline, den Satz nicht beendend, zu Jean Paul gesagt, offenbar auf Amönens, Helenens und Renatens Verhältnis zu ihm anspielend. Sie mochte seit langem die Empfindung haben, daß es ihr nicht gelingen würde, den umschwärmten Dichter auf die Dauer an sich zu ketten, und hatte vielleicht auf einen baldigen Bruch hingearbeitet. Ob dieser Bruch, als er eintrat, Jean Paul übermäßig erschütterte? Es ist kaum anzunehmen. »Aber lostrennen werd' ich mich durch eine stufenweise Absonderung von Ihrem Hause (wo mich ohnehin eines ums andere beleidigt), wie am Ende von Hof«, schreibt er ihr in der Antwort auf ihren Absagebrief. Und fügt den charakteristischen Satz hinzu: »O es wird dir wehe tun, es wird dein Auge und dein Herz auseinanderdrücken, wenn du einmal zu Ostern in meinem Buche meine Seele wiederfinden wirst, die du so kalt von deinem Herzen wegdrückst.« Nur »stufenweise« wollte er sich von dem Hause der Braut entfernen. Es beweist, wie gleichgültig er im Grunde die Auflösung der Verlobung nahm, da er sich und Karoline unbekümmert weiterem Verkehr und Anschauen aussetzte.

Auch von Hof gedachte er sich also damals schon »stufenweise« zu entfernen. Sein Leben hatte in Baireuth ein anderes und verlockenderes Zentrum gefunden. Als sich ihm in der Residenz neue Kreise erschlossen und er dort mit einem Enthusiasmus aufgenommen wurde, der in der Tat von der Art, mit der man ihm in Hof begegnete, außerordentlich abwich, schrieb er ins Tagebuch: »Am fremden Orte bekömmt man einen Stolz, der gegen die alten Bekannten zürnt. Ich sah, wie leicht es mir wird, mich einzuführen, und verwünschte die Verschwendung meines Werts bei den Hofer Leuten.« Und fast wörtlich das gleiche schrieb er an Amöne: »Der arme Jean Paul hat überhaupt bisher sein Herz zu sehr verschwendet und zu sehr Hof für die ganze Welt gehalten.«

Bereits im Juli des vorigen Jahres, als Jean Paul, noch im »Hesperus« schwelgend, auf der Reise zu Wernlein nach Neustadt einige Tage in Baireuth weilte, war ihm die Stadt zu seinem »Maienthal« geworden. »Ich fahre in einem Freudenmeer auf und ab und seh' darin weder Himmel noch Erde mehr«, hatte er an Renate geschrieben, deren zahlreiche Baireuther Beziehungen ihm die dortigen Kreise erschlossen. Es war Karoline von Flotow, die Tochter eines Baireuther Kammerdirektors, die im Fluge sein Herz eroberte. »Die kleine Flotowin ist schön – himmlisch – ebenso unschuldig als bescheiden – ebensogut gebildet im Gesichte als im Geiste«, schrieb er an Renate, und diese schickte ihm in das Baireuther Paradies diesen Gruß: »O gewiß: ihr seid die schönsten Stunden meines Daseins, wo ich mich mit Ihnen, Freund, über dieses schwüle Leben hinüberschwang und mich voll der süßesten Hoffnungen an einen Ort dachte, wo wir uns alle lieben werden – und alle glücklich sind.« »Die Flotowin soll (Sonne und Mond wegen) der Regenbogen oder die Iris heißen«, schwärmte Jean Paul von der Herzensfreundin seiner Freundin weiter. Er bat Renate, ihm am nächsten Sonntag einen Brief für die Flotowin zu übersenden, »in diesem Brief ihr meine tolle Bitte zu schreiben oder auch nicht – damit ich beim Empfange des ihrigen etwas in Händen habe, womit ich ihn gleich bezahle.« Ein Schwelgen in herrlichen Tagen folgt. Auf der Rückreise von Wernlein geht es noch einmal über Baireuth, und im September wird die Reise wiederholt. »Du liebes Baireuth, auf einem so schön gearbeiteten, so grün angestrichenen Präsentierteller von Gegend einem dargeboten – man sollte sich einbohren in dich, um nimmer herauszukönnen.« »Seit neun Uhr bin ich im Feuer: nicht weil ich die Flotowin gesehen (das geschieht erst abends um sieben Uhr), sondern weil ich draußen war und weil mir Mehringer aus ihrem Tagebuch die von ihm diebisch kopierten Stellen über Hof vorlas. O fesseln und achten Sie diese Karoline! Ihr ganzes Leben und zwanzig Städte legen kein zweites solches schönes Herz an Ihres: dieses warme Herz bleibt Ihnen ewig, wenn Sie es nicht abreißen, es ruht an Ihrer Seele schlagend und glühend so lange wie die Tugend.« Er kann nicht aufhören, von der »Iris« zu schreiben, immer wieder kreisen seine Gedanken um dieses junge Mädchen, das ihm für Monate der Inbegriff der Baireuther Seligkeit wird. »Nur aber noch dieses Wort: Das liebevolle Betragen Mandels und der Iris gegen mich setzt ein großes von Ihnen gegen mich voraus und ich sehe überall recht gut Ihre gute Hand mir andere Hände geben.«

Karoline von Flotow sollte aus seinem Leben wieder verschwinden, aber es scheint doch, daß sie noch lange in ihm fortwirkte. Die Seligkeit der Tage mit ihr schwingt in Siebenkäsens Liebe zu Natalie fort, und wie hier so im »Siebenkäs« umfängt Baireuth liebevoll den aus Hof Fliehenden.

Fast wichtiger aber sollte die Freundschaft mit dem »Mandel« genannten Freunde Renatens für Jean Paul werden. Emanuel Samuel junior, der später den Namen Osmund annahm, war ein junger jüdischer Kaufmann, der sich durch seine außergewöhnliche Begabung vom kleinen Hausierer in kurzer Zeit zum angesehenen Handelsherrn aufgeschwungen hatte. Als Jean Paul ihn kennenlernte, hatte er gerade durch zwei Offiziere eine lebensgefährliche Mißhandlung erfahren, die ihn zeitlebens schwerhörig machte. Emanuels geniale Natur überraschte den jungen Dichter aufs höchste. Bald verband ihn eine herzliche Freundschaft mit dem edlen Juden. Schon der Name Emanuel schien ihm anzudeuten, daß ihm hier gewissermaßen eine Fortsetzung der durch den Tod unterbrochenen Freundschaft mit Moritz winkte. Wenn er Moritz in der Erscheinung des Inders Emanuel festgehalten hatte, so kamen ihm jetzt von dem Juden Emanuel unmittelbare orientalische Eindrücke, die der in das Schrifttum seines Volkes tief eingedrungene Freund ihm darreichte. Wie Otto bleibt Emanuels Gestalt zeitlebens mit Jean Paul verknüpft, aber während Otto vollständig in dem Freunde aufging, bewahrte Emanuel seine Selbständigkeit und blieb zwischen ihnen der Gebende und Anregende. Durch den Einfluß orientalischer Anschauung wurde Jean Paul nennenswert bereichert. Wieder darf er jetzt mit einem Freunde lange philosophische Briefe wechseln, und diesmal ist es nicht nur die zeitgenössische Philosophie wie in dem Briefwechsel mit Wernlein, sondern eine ganz neue Welt ergreift ihn. Mehr als zwanzig Jahre später hat Goethe, der unendlich feine Beobachter, in den »Noten und Abhandlungen« zu seinem »Westöstlichen Diwan« auf das orientalische Element bei Jean Paul hingewiesen. Was er hier ausführt, paßt nun allerdings bereits genau auf Jean Pauls Schreibweise auch vor seiner Bekanntschaft mit Emanuel, und Goethe geht wohl überhaupt fehl, eine besondere Vertrautheit mit orientalischen Schriftstellern bei Jean Paul anzunehmen. Es ist vielmehr jenes unbeirrbare Ruhen im Zentralpunkt allen Lebens, das die besondere Seelenlage noch des deutschen Pietismus wie der Dichter des Orients bildet, und damit verbunden jener Reichtum der Einfälle, die nur dem in sich Gesammelten kommen, was Goethe für Einwirkung des Orients nahm. Aber immerhin ersieht man aus der verwandten Einstellung, wie wichtig Jean Paul die Kenntnis des jüdischen Wesens und Schrifttums und der jüdischen Religion sein mußte.

Goethe macht über das orientalische Element bei Jean Paul folgende Ausführungen: »Ein Mann, der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen, findet, daß kein deutscher Schriftsteller sich den östlichen Poeten und sonstigen Verfassern mehr als Jean Paul Richter genähert habe. Dieser Ausspruch schien zu bedeutend, als daß wir ihm nicht gehörige Aufmerksamkeit hätten widmen sollen; auch können wir unsere Bemerkungen darüber um so leichter mitteilen, als wir uns nur auf das oben weitläufig Durchgeführte beziehen dürfen. Allerdings zeugen, um von der Persönlichkeit anzufangen, die Werke des genannten Freundes von einem verständigen, umschauenden, einsichtigen, unterrichteten, ausgebildeten und dabei wohlwollenden, frommen Sinne. Ein so begabter Geist blickt, nach eigentlichst orientalischer Weise, munter und kühn in seiner Welt umher, erschafft die seltsamsten Bezüge, verknüpft das Unverträgliche, jedoch dergestalt, daß ein geheimer ethischer Faden sich mitschlinge, wodurch das Ganze zu einer gewissen Einheit geleitet wird. Wenn wir nun vor kurzem die Naturelemente, woraus die älteren und vorzüglichsten Dichter des Orients ihre Werke bildeten, angedeutet und bezeichnet, so werden wir uns deutlich erklären, indem wir sagen: daß, wenn jene in einer frischen einfachen Religion gewirkt, dieser Freund hingegen in einer ausgebildeten, überbildeten, verbildeten, vertrackten Welt leben und wirken und ebendaher sich anschicken muß, die seltsamsten Elemente zu beherrschen. Um nun den Gegensatz zwischen der Umgebung eines Beduinen und unseres Autors mit wenigem anschaulich zu machen, ziehen wir aus einigen Blättern die bedeutendsten Ausdrücke: Barrierentraktat, Extrablätter, Kardinäle, Nebenrezeß, Billard, Bierkrüge, Reichsbänke, Sessionsstühle, Prinzipalkommissarius, Enthusiasmus, Zepterqueue, Bruststücke, Eichhornbauer, Agioteur, Schmutzfink, Inkognito, Kolloquia, kanonischer Billardsack, Gipsabdruck, Avancement, Hüttenjunge, Naturalisationsakte, Pfingstprogramm, Maurerisch, Manualpantomime, Amputiert, Supranumerar, Bijouteriebude, Sabbaterweg usw.

»Wenn nun diese sämtlichen Ausdrücke einem gebildeten deutschen Leser bekannt sind oder durch das Konversationslexikon bekannt werden können, gerade wie dem Orientalen die Außenwelt durch Handels- und Wallfahrtskarawanen, so dürfen wir kühnlich einen ähnlichen Geist für berechtigt halten, dieselbe Verfahrungsart auf einer völlig verschiedenen Unterlage walten zu lassen. Gestehen wir also unserm so geschätzten als fruchtbaren Schriftsteller zu, daß er, in späteren Tagen lebend, um in seiner Epoche geistreich zu sein, auf einen durch Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik, Kriegs- und Friedensverkehr und -verderb so unendlich verklausulierten, zersplitterten Zustand mannigfaltigst anspielen müsse, so glauben wir die ihm zugesprochene Orientalität genugsam bestätigt zu haben.« Goethe macht im weiteren Verlauf seiner Note auf das Gefährliche dieses Verbindens der verschiedensten Gegenstände miteinander für den Prosaisten aufmerksam. Dem Poeten der gebundenen Sprache, sagt er, verzeihe man alles wegen eines unerwarteten Reimes; beim Prosaschriftsteller komme alles auf das Individuum an, das ein solches Wagstück unternimmt. »Ist es ein Mann wie Jean Paul, als Talent von Wert, als Mensch von Würde, so befreundet sich der angezogene Leser sogleich; alles ist erlaubt und willkommen.«

Goethe hat hier mit seinem intuitiven Geiste den Nerv Jean Paulschen Schaffens berührt. Dieses Heranziehen des Stofflichen aller Art, um es zum Weltbilde zusammenzuschließen, ist in der Tat ein hervorragendes Kennzeichen Jean Paulscher Prosa wie jeder bedeutsamen Dichtung überhaupt. Wenn kleinere Geister sich immer wieder an diesem Überreichtum gestoßen haben und überladene Geschmacklosigkeit in dieser Häufung finden wollten, so rühmt gerade ein Kenner wie Goethe das Maß an diesem »Talent von Wert«, diesem »Menschen von Würde«. Es entgeht ihm aber das Wichtigste: daß nämlich Jean Pauls Prosa in ihrem strengen Bau nicht durchaus Prosa, sondern durchweg stilisierte Sprache ist, die allein diesen Andrang von Bildern und Gleichnissen auszuhalten und zu tragen vermag. Und vielleicht hatte jener Kenner, der Goethen auf das orientalische Moment bei Jean Paul aufmerksam machte, etwas völlig anderes gemeint als das, was Goethe auf seine Weise aufgriff, nämlich jenes ruhige Beharren im Absoluten, das ohne weiteres die Brücke zu den Mysterien der asiatischen Religionen fand. Goethe selbst hatte sich ja in seinem »Westöstlichen Diwan« auf den nahen Orient der Mittelmeerländer beschränkt. Wäre er in den fernen Orient vorgedrungen, so hätte er bei weitem mehr Vergleichspunkte mit Jean Paul gefunden, wie sie offenbar dem von ihm zitierten Kenner vorschwebten.

Aber die Bereicherung, die Jean Paul durch seinen Verkehr mit Emanuel empfing, läßt sich nicht fortstreiten. Es war eine Freundschaft ganz eigener Art, anders als Jean Paul ihr sonst begegnete. Zeitlebens kam es nicht zu dem zutraulichen Du, mit dem der Dichter gern seine sonstigen Freunde auszeichnete. Die Schwerhörigkeit Emanuels, die ihm den Gebrauch eines Hörrohrs aufzwang, mochte dazu beitragen, eine gewisse Distanz zwischen den Freunden aufrechtzuerhalten, ohne daß dadurch die Herzlichkeit ihrer Beziehungen gemindert wurde. Bei Emanuel pflegte Jean Paul zu wohnen, wenn er sich wie jetzt öfters in Baireuth aufhielt, und der behagliche Luxus einer reichen Häuslichkeit blieb gewiß nicht ohne Eindruck auf ihn. Besonders aber mußte sich Jean Paul von dem Interesse angezogen fühlen, das die Baireuther an seinem Schaffen nahmen. Hier waren seine Bücher früher als er selbst bekannt, während die guten Hofer es als eine Auszeichnung für ihn auffaßten, wenn sie überhaupt seine Bücher lasen, die er ihnen ins Haus trug. Damals mochte zum erstenmal der Gedanke in ihm aufsteigen, sich »stufenweise« von Hof zu lösen und in das anregendere, südlichere, freundlichere Baireuth überzusiedeln.

Ein neuer Freund, den er hier fand, war der Hofrat Schäfer, Erzieher des jungen Prinzen Lichnowsky. In der Mutter des Prinzen, der Fürstin Christiane Lichnowsky, lernte Jean Paul zum erstenmal eine Vertreterin der großen Welt kennen, die ihn so bald als Heimatberechtigten aufnehmen sollte. »Sie ist täglich bei Schäfer«, schrieb er im Sommer 1795 an Otto. »Da ihr mein ›Hesperus‹ recht ist (sie lieset bloß Engländer, weil sie einmal einen heiraten wollte; und es ist schade, daß sie die deutsche Lektüre nicht aus demselben Grunde sucht): so wollte sie als eine Gönnerin der Gelehrsamkeit den Gelehrten vor sich hinhaben, der den ›Hesperus‹ in den Himmel gesetzt. Es tat dem Gelehrten Schaden, daß die Gasse der Präsentierteller war, auf dem er ihr hingehalten wurde. Ich und Schäfer begegneten ihr. Was tat's? Ich setzte mich den andern Morgen hin und verbrachte ihn himmlisch mit ihr, indem ich nichts geringers zeugte als ein poetisches – zehn Seiten langes punctum saliens, das ihr Nachmittags zum ewigen Gebrauch Schäfer überreichte. Die Bescheidenheit verbeut mir, Dir die Art zu sagen, wie die hohe Person das punctum aufnahm. Nachmittags erschien der salierende Punktmacher selber und war bis Abends mit diesem hohen Haupte und mit seinem kahlen unter Einer Stubendecke. Gestern ging sie und Schäfer und die 2 Kinder und die Niece (sie trägt noch ihre schönen Augen, aber ich muß sie auch etwan zu sehr vorgelobet haben) zwei Stunden spazieren und Paul wandelte mit . . . Sie hat eine vollkommen schöne Taille, große Augen, proporzionierte Züge und solche feste Teile: man schwebt bei ihr zwischen den logischen Urteilen, sie war und sie ist schön, mitten inne, und es käme bloß auf sie an, daß man eines ergriffe und festhielte. Sie drückt sich genau, bestimmt, leicht und kurz und fein aus; aber das Fein-Fein-Fein (wie der beste Zucker heißet), worauf ich immer passe, ist eher bei Leuten beiderlei Geschlechts in unsern Ständen zu finden.«

Das punctum saliens, das Jean Paul der Fürstin überreichen ließ, ist der Aufsatz »Traum im Traum«, der bald darauf dem »Siebenkäs« eingefügt wurde. Man hat deshalb die Fürstin mit der Natalie im »Siebenkäs« in Zusammenhang gebracht. Aber eine ganze Anzahl von Äußerungen über die Lichnowsky widerspricht dem. Jean Paul hat auch nicht die geringste Spur einer Neigung zu ihr gefaßt und stand ihr vollkommen objektiv gegenüber. »Ich bin froh,« schreibt er an Schäfer, »daß die Alexanderin – die ich im Ganzen ich weiß kaum warum liebhabe – Ihnen wieder aus der Sonne getreten ist, die sie Ihnen, wenn Sie sich diogenisch sonnen wollten, bis auf die letzten Strahlen verbauete.« Und an Otto mit Übersendung des »Traum im Traum«: »Du mußt nur bedenken, daß es recht schwer ist, Dichterei, Lob und Wahrheit auf einmal anzubringen. Übrigens wußt ich schon damals, daß der Ton darin für erhabene Leute wie die Fürstin nicht passe, bei denen nichts anders erhaben sein darf.« Das war nicht der Ton, den Jean Paul hatte, wenn er von einer Erscheinung wirklich entflammt war. »Der Nutzen, mit einer Fürstin umzugehen, ist der, man fässet doch den Mut, mit ihren Kammerjungfern umzugehn«, heißt es in dem Briefe an Otto. Mit Bewußtsein lehnte also der Dichter jede allzu starke Annäherung an die Fürstin und ihren Stand ab, wie er das »Fein-Fein-Fein« des Ausdrucks für die Leute »in unsern Ständen« in Anspruch genommen hatte. Bei einer Beate von Spangenberg und einer Karoline von Flotow verlief die Grenze, die er seinem Empfindungsleben setzte. Dennoch hat der Verkehr mit der Fürstin sicher einen gewissen Eindruck auf ihn gemacht. Er, der verarmt und unerkannt in äußerster Bedrängnis seine Jugend verlebt hatte, mußte das gesellschaftliche Steigen als Sieg seiner Persönlichkeit betrachten, auf den er stolz war. Und wenn er seinen Armenadvokaten in Baireuth sich mit der adligen Natalie verbinden läßt, so war dies ein Nachzeichnen der eigenen Lebenskurve, die er durch den Verkehr mit der Fürstin aufs neue als aufsteigend empfand.

Schon bei der Übersendung des ersten Manuskriptteils des »Hesperus« im Sommer 1793 an Otto schrieb Jean Paul, daß sein drittes Buch »in der Groschengallerei und auf dem Parterre« spielen werde. Damals also dachte er bereits an seinen »Quintus Fixlein«, den »Wuz in einem höhern Stande«, wie er ihn einmal nennt. Als er wieder mit der Mutter und den Brüdern in der ärmlichen Stube hauste, mußte ihn das Thema eines solchen ärmlichen Lebens von neuem reizen. Der Sommer ging mit mancherlei Zerstreuungen vorüber, brachte die Zuspitzung des Verhältnisses mit Karoline; der Herbst noch einmal herrliche Baireuther Tage. Erst der Winter mit seiner Not ließ ihn wieder an die Arbeit gehen. Am 15. Januar 1795 starb Pfarrer Völkel in Schwarzenbach. »Das Totenbild des armen Pfarrers stand den ganzen Nachmittag vor meinem Schreibtisch,« schreibt er an Otto, und dieses »Totenbild« mochte nicht wenig dazu beitragen, seine Gedanken auf das armselige Leben eines kleinen Landpfarrers zu konzentrieren und dem »Quintus Fixlein« neue Farben beizumischen. Vierzehn Tage später schon schickt er an Otto das Manuskript. »Hier ist wieder ein Geschichtchen, worüber ich hier weniger anzumerken habe als Du vielleicht . . . Es ist eilig und unter ungewohnten Störungen gemacht und unter meinem Zudrängen auf meine allerneueste Biographie, nach der ich ordentlich lechze.« Ende März schickte er dann das vollendete und durch die Beigaben und Mußteile ergänzte Manuskript. Er hatte gefürchtet, in der kleinen Idylle »dümmer und matter« zu erscheinen im Vergleich zu dem gewaltigen Stoff des »Hesperus«. Aus dieser Befürchtung heraus hatte er die ursprünglich reine Idylle erweitert und namentlich im zweiten Teil, in Fixleins Ringen mit dem Tode, vielleicht unter dem Eindruck von Völkels Sterben, ernstere Töne angeschlagen, als er ursprünglich beabsichtigt haben mochte.

Der Vertrag über den »Hesperus« konnte ihn kaum locken, auch den »Quintus Fixlein« an Matzdorff zu geben. Dennoch räumte er dem Berliner Verleger in Dankbarkeit das Vorkaufsrecht ein. »Sie haben daher allzeit das Vorkaufsrecht bei allen meinen künftigen Manuskripten: nehmen Sie sie nicht, so haben wir nur weniger Geschäfte, nicht weniger Liebe. Ich werde Ihnen nächstens ein kleines leichter geschriebenes Bändchen wieder anbieten: ich bin nur heute zu eilig.« Es war Jean Paul nicht unlieb, daß Matzdorff diese Aufforderung im Drange der Meßgeschäfte übersah. Er wandte sich im Mai durch Vermittelung des Hofrats Schäfer an den Baireuther Buchhändler Lübeck. Lübeck erklärte sich zur Übernahme bereit, zahlte 200 Gulden, und im November konnte Jean Paul die Dedikationsexemplare verschicken.

So sehr auch der Plan des »Titan« zum sofortigen Ausarbeiten hindrängte, Jean Paul hielt sich mit dem Beginn dieses Werkes, das sein größtes werden sollte, zurück und mochte es vielleicht nicht ungern sehen, daß andere Arbeiten sich dazwischendrängten. Am 8. Mai schrieb er an Otto über den Plan einer neuen Arbeit, die ihm unterm Spazierengehen aufgegangen war. Wir entsinnen uns, wie er nach hartem innerem Kampf den Gedanken, Hermanns Schriften herauszugeben, abgewiesen hatte. Noch immer peinigte ihn das Gefühl, dem Schatten des toten Freundes eine Ehrenpflicht nicht erfüllt zu haben. Aus diesem Schuldbewußtsein stieg der neue Plan auf. »Eben komm' ich von einem Spaziergang, wo mir etwas Kühnes durch den Kopf gefahren ist, wozu ich Dein Ja bedarf, dessen Verweigerung mir der größte Tort wäre. Es betrifft den Hermann. Du weißt, daß sein größter Gehalt nicht in den paar von ihm abgesprungenen Goldglimmern seiner Schriften, sondern in der ganzen Textur und Kristallisation seines Wesens und Charakters besteht. Um ihn also darzustellen, muß man weder bloß jene geben noch diesen bloß beschreiben. Denn kein Charakter kann in toten vagen Zügen, sondern bloß in Handlungen und Reden nachgebildet werden – kurz nur dramatisch. Das Kühne ist also, daß ich ihn mit seinem Namen geradezu in eine (schon entworfene) romantische nicht kleinliche Geschichte einführe, wo er, nicht weit von der Hauptperson, ohne viel Handlung seinen ganzen Charakter ausbreitet. Freilich ist diese Geschichte nicht im geringsten seiner wirklichen verwandt. Er soll darin, in diesem Rauche von einem Hohlspiegel, lebendig werden und sich regen, soweit es meine arme Hand vermag. Ich werde mich um kein Urteil in Hof bekümmern, wenn deines es nicht ratifiziert. Dann füg' ich (trotz dem Schaden, den ich der Illusion tue) dem Buche einen Anhang bei, wo ich das Wahre seiner Geschichte und einige zusammengedrängte Aufsätze (indes ich viele seiner Meinungen in das Buch verstreue) als eine Frage gebe, ob man mehr wolle. Das Honorar des Anhangs und alles dessen, was er erfindet im Buch, gehöret natürlich seinem Vater und wird dadurch größer, weil ich für mein Buch (zumal jetzt) mehr erhalte als für seines. Ich mag Dir die Stiche nicht vorzählen, die mir bisher die Erscheinung seines Vaters oder der Gedanke an ihn durch die Seele gab – und doch war ich an zwei eiserne Ketten gebunden – 1. an meine Bedürfnisse, die mir durchaus keine halbjährige Unterbrechung meiner eigenen Schreibereien vergönnten – 2. an den jetzigen philosophischen Geschmack, dem seine Metaphysik halb zuwider, halb nicht neu genug ist, da er zu wenig las. Der bloße Stil war, da die meisten Philosophen jetzt nicht einmal seinen haben, seinen Schriften nicht am meisten nachteilig. Kurz ich konnte bisher unmöglich das zu jeder Arbeit unentbehrliche Feuer bei der Besorgnis erhalten, daß der bloß philosophische Richterstuhl mit den Erwartungen unzufrieden sein werde, die mein Lob des Verfassers so hoch spannen mußte. Ich weiß, Du trennst meine Verehrung seiner Genialität von dem Urteil über seine Werke. So konnt' ich z. B. in dem ins Reine geschriebenen im 1. Teil nicht fünf auffallende Gedanken finden. Schreib' mir heute noch, weil jetzt meine ganze aufgerüttelte Phantasie zuckt und brüten will – schreibe mir auch noch einige Kautelen – Und schicke mir (aber auch bald) einige seiner Briefe, wenn Dein Urteil sie nötig findet. In der idealistischen Geschichte aber bleibt er Doktor und Grafenhochmeister. Ich lechze ordentlich nach der ersten Zeile, wo sein Name vorkömmt.«

Wer sollte bei diesem Brief nicht an Leibgebers Gestalt im »Siebenkäs« denken! Wenn Leibgeber und Siebenkäs dort ihre Namen vertauschen, wenn gleich im Beginn, bei Siebenkäsens Hochzeit, in der Rede Leibgebers der sprühende bizarre Geist des toten Freundes vor uns ausgebreitet wird, so wissen wir, daß wir im »Siebenkäs« die Verwirklichung dieses Briefes an Otto zu suchen haben, auch wenn in der Dichtung nicht der Name Hermanns genannt und keine seiner Schriften dem Buche angehängt wird. In diesem Brief haben wir die Geburtsstunde des »Siebenkäs« vor uns. Aber Jean Paul war damals von dem Plan des Romans noch weit entfernt. Einem ganz andern Buche dachte er des Freundes Gestalt einzufügen: den»Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin«. Tatsächlich beginnt der erste Entwurf dieses neuesten Buches mit Hermanns Gestalt, wie er sie in dem Brief an Otto angedeutet hatte. Doch auch hier mußte er einsehen, daß sich der Gedanke nicht verwirklichen ließ. Eine Figur, halb als Romanfigur, halb als Wirklichkeit aufgefaßt, mußte die Einheit jedes Werkes zersprengen. Er ließ also vorläufig den Gedanken an Hermann überhaupt fallen und gab sich dem Schaffen der Biographischen Belustigungen hin, die in mancher Beziehung eine Vorstudie zu dem großen »Kardinalroman« sind. Im August 1795 finden wir ihn an der Arbeit, und am 24. Februar 1796 wurde die kurze Vorrede geschrieben.

Das Werk besteht aus sechs »Belustigungen« und einem satirischen »Appendix«. Der Anfang knüpft an den »Hesperus« an: Jean Paul wohnt in Flachsenfingen als appanagierter Prinz, als den ihn der Schluß des »Hesperus« kenntlich gemacht hat. Weil in Flachsenfingen noch Winter, in Waldkappel aber bereits Frühling ist, fährt er im geschlossenen Wagen mit heruntergelassenen Wagenfenstern dorthin, um sich auf einmal vom Frühling überströmen zu lassen. Es sind seine Fahrten nach dem südlicher gelegenen Baireuth aus dem rauheren Hof, auf die er hier anspielt, und man wird auch an die Vorrede zur »Unsichtbaren Loge« denken müssen. Wir erinnern an den musikalischen Aufbau des Jean Paulschen Werks, der zugleich im tiefsten Sinne episch ist. Der Dramatiker gestaltet und überwindet eine Welt, und sie ist damit für ihn erledigt. Der Epiker hält sich an die Begebenheiten des Daseins. Was sich aber begeben hat, ist nie erledigt, es wirkt im kosmischen Zusammenhange ewig weiter und kann immer wieder auf einer andern Ebene neu erscheinen. So kehren die Motive und Gestalten des Jean Paulschen Werks immer wieder und ordnen sich in neue Zusammenhänge ein. War es in der Vorrede zur »Unsichtbaren Loge« das erste Heraustreten des Dichters, das in der Fahrt auf den Fichtelberg seinen symbolischen Ausdruck fand, so besagt das gleiche Motiv nun des Dichters Sehnsucht in eine wärmere Atmosphäre. Es nimmt die Gestalten und Motive seines bisherigen Schaffens auf, aber es erledigt sie nicht, sondern hebt sie nur auf die höhere Ebene des inzwischen Erreichten.

Die Landschaft ist die uns bereits bekannte des Fichtelgebirges, aber Jean Paul verlegt den Schauplatz wie im »Hesperus« in den deutschen Südwesten, auch hier in gebirgige Gegenden. Er wollte die Handlung auch hier näher an die von der Revolution ergriffenen Länder legen. So läßt er seine Frühlingsfahrt über ein Schlachtfeld zwischen Franzosen und Aristokraten führen, um an dem Gegensatz der vor unsern Augen erstehenden Schlacht und des über das öde Feld kommenden Hochzeitszuges die in Gegensätzen zerrissene Zeit auferstehen zu lassen. Was ihn in Waldkappel vor allem anzieht, ist die Riesenstatue der »Jungfer Europa«, die von dem Fürsten des Landes in Rivalität gegen den Hessen-Kasselschen Herkules errichtet wurde. (Der neue Freund Schäfer war Hessen-Kasselischer Hofrat und hat Jean Paul wahrscheinlich das Herkulesstandbild in Kassel in Erinnerung gerufen.) Eine »Jungfern-Schröpf- und Europas-Steuer«, deren Schilderung zu den besten satirischen Darstellungen Jean Pauls gehört, brachte die Mittel zu diesem Kolossalbauwerk zusammen. Von den Höhen des Gebirges grüßte schon der Frühling, indes der Wagen unten noch durch den tiefen Morast gezogen wird. Ein inneres und äußeres Durchringen zur nächtlichen Frühjahrseligkeit, ein gewaltiger Jean Paulischer Ausbruch, beschließt die erste »Belustigung«. Die zweite bringt die Beschreibung der Statue, in deren Monumentalkopf Jean Paul nunmehr die mit der dritten Belustigung anhebende eigentliche Erzählung schreibt. In diesem erhöhten Standpunkt hoch über dem Menschengewühl schwebte ihm offenbar bereits etwas Ähnliches vor, wie er es später bei einem der ersten Entwürfe des »Titan« auszuführen versuchte: Als Luftschiffer Gianozzo wollte er dort die Begebenheiten von der Höhe herab schildern. Später gab er freilich diesen Gedanken auf und begnügte sich damit, des »Luftschiffers Gianozzo Seebuch« in den Anhang aufzunehmen. Gewiß sind die »Biographischen Belustigungen« nur ein Nebenwerk Jean Pauls, aber man kann doch bei diesem Dichter nicht zwischen seinen Werken einen derartigen Unterschied machen wie etwa bei E. T. A. Hoffmann. Auch die entlegensten Arbeiten Jean Pauls enthalten immer seine ganze poetische Kraft. Nur die Übersichtlichkeit und Kürze der Darstellung vermag uns zu zwingen, uns auf die Hauptlinien seines Schaffens zu beschränken. Die Abendstimmung über den Hängen am Fuß der Riesin Europa zum Beispiel ist von einer Gewalt der Landschafts- und Stimmungsschilderung, über die nur ein Jean Paul verfügt. Nachdem ein Jahrhundert an diesen Schätzen blind vorübergegangen, scheint jetzt eine Zeit zu kommen, da sich Hunderte und Tausende an solchen Schilderungen, wie sie auch immer wieder in den »Biographischen Belustigungen« vorkommen, Labung trinken werden.

Die eigentliche Geschichte knüpft an die Revolution an, die schon im »Hesperus« eine große Rolle spielte. Und vielleicht sind sogar die Personen zum Teil die gleichen. Wie wir in der Giulia des »Hesperus« die bereits verstorbene Beate der »Unsichtbaren Loge« wiederzuerkennen glaubten, so haben wir in dem Grafen Lismore, dem Helden der »Biographischen Belustigungen«, offenbar den Lord Horion in seinen Jugendtagen vor uns und in seiner Geschichte die Geschichte seiner Liebe zu Mary, die auf der Insel der Verheißung begraben liegt. Graf Lismore hat sich von dem sphinxartigen Ungeheuer der französischen Revolution anlocken lassen. Das blutige Jahr 1793, das »Stufenjahr der Freiheit«, ist vorüber. Der Graf will Frankreich verlassen, angewidert von dem Blutrausch der Bewegung, der er seine Kraft gewidmet, und nach seiner schottischen Heimat zurückkehren. In Rouen warten die Gräfin von Mladotta und ihre blutjunge Tochter auf ihn. Graf Mladotta mußte mit Hunderten seiner Stammesgenossen die Guillotine besteigen. Lismore will die beiden Frauen retten und nach Schottland mit hinübernehmen. Er hat zu Adeline eine heftige Neigung, die er hinter einer freundschaftlichen Zuneigung für die Mutter zu verstecken sucht. Er heilt durch Berührung den zitternden Arm der alten Gräfin, die einen Schlaganfall erlitten hatte. (Hier spielt Jean Paul auf die eigene Heilkraft an, mit der er öfters Bekannte durch bloße Berührung seiner Hand heilte oder zu heilen suchte.) Es ist nicht leicht für den Grafen, den Übergang von der Mutter zur Tochter zu finden, die sich ihm in kindlicher Verehrung zuneigt und von einer Leidenschaft für ihn weltenfern zu sein scheint. Im Abenddämmern einer Echolandschaft gelingt es ihm endlich, ihre Zuneigung zu erwecken.

Hinter dem Schicksal der drei Menschen steht immer groß und sphinxhaft die Geschichte der Zeit. »Wenn der Krieg seinen Ameisen- oder Maulwurfspflug auf unserer Kugel einsetzt und mit einer Pflugschar, welche Länder durchschneidet, die aufgeworfenen Ameisenhügel, die man Städte nennt, aushebt, umstürzt und zerreibt, so schämt man sich beinahe, die Wunde einer einzelnen Ameise anzumerken«, beginnt die vierte »Belustigung«. Immer spielt das große Thema der Revolution in das Leben der drei Menschen hinein. Die Gräfin Mladotta stirbt und hat als ihren letzten Wunsch der Tochter anvertraut, daß sie des Grafen Lismore Frau werde. Aber gerade dieser letzte Wunsch scheint sich als unüberwindliches Hindernis zwischen Lismore und seine Braut zu stellen. Zwar folgt sie ihm in seine düstere schottische Heimat, aber ganz von Trauer um ihre Mutter erfüllt und nicht den Übergang zur Lust des Lebens und der Liebe findend. Erschwerend kommt der Haß seiner Schwester Jane Gladuse hinzu, die sich durch des Bruders geplante Heirat in ihrem Erbe geschmälert sieht. Die Hochzeit wird auf den Frühling angesetzt, aber der Glasgower Winter macht Adeline immer kränklicher. Der Graf ist verzweifelt, er sieht nicht, daß Adeline ihn liebt und nur die Scham ihr den Mund verschließt.

Den Frühling bringen die Verlobten auf Lismores Gut zu. Auf diese Frühlingstage hat der Graf seine ganze Hoffnung gesetzt. Über dem herrlichen See, einer Insel gegenüber, gibt es ein Echo, das ganz wie jenes bei Rouen ist, da Adeline sich ihm ergab. Abends sucht er mit ihr das Wasserhaus am See auf. Er hat einen Waldhornisten mitgenommen, der von einer weit in den See ragenden Landzunge das Echo der Berge wecken soll. In dem kleinen Wasserhaus ringt Lismore mit der Toten, die die Seele seiner Geliebten gebannt hält. Eine wunderbare Stimmung erfüllt den Abend. Fast scheint die letzte Starre von Adeline fortzutauen. Arm in Arm gehen sie zu dem Gutshaus zurück, »aber sie küßten sich nicht«. Zwei Seiten über die grenzenlose Einsamkeit des Menschen beschließen die Geschichte des Grafen und Adelinens. Wir erfahren nichts mehr von ihnen.

Statt dessen tut sich das bunte Leben des satirischen Appendix auf. Die Leser und Leserinnen klagen gegen Jean Paul wegen der fortwährenden Unterbrechungen in seinen Romanen durch Extrablätter und andere satirische Einschiebsel. Gerade an dieser Stelle, da die Geschichte Adelinens und des Grafen Lismore plötzlich abgebrochen ist, scheint diese fingierte Klagschrift besonders am Platze. Jean Paul verteidigt sich in einer Rede, die tief in die Natur seines Schaffens hineinleuchtet. »Nicht nur die Wahrheit besteht aus allen Menschensystemen zusammengenommen . . . sondern auch das rechte Herz ist aus allen ungleichen Gefühlen gebaut und trägt ein Weltall nicht als Krone sondern als Stufe.« Man wird kaum eine bessere Begründung für das Durcheinander in Jean Pauls Werken finden als diesen Hinweis auf die Buntheit des Lebens selber. Jean Paul war sich des Unorganischen seiner Einschiebsel vollkommen bewußt. Er pflegte in den Exemplaren für seine Freundinnen mit Bleistift auszustreichen, was sie nicht zu lesen brauchten, und bezeugt damit selbst das Willkürliche seiner Einschiebungen. Vielleicht könnte man, um Jean Paul einzubürgern, seine Romane, wie es kein Geringerer als Hermann Hesse mit dem »Titan« gemacht hat, zunächst einmal von den allzu willkürlichen Zutaten reinigen. Und doch wird man es nicht gerne tun. Erst wenn man die Romane mit all ihrem Drum und Dran gelesen hat, gewinnt man den Eindruck, eine Welt durchwandert zu haben. Es war nicht durchaus reine Willkür, die Jean Paul zu seinen Zutaten veranlaßte, es war auch der künstlerische Wille, das Tempo seiner Bücher dadurch zu regulieren und ihnen den weltumfassenden Charakter zu geben. Seine Romane sollten Abbilder seines Herzens sein und als solche alle Systeme der Wahrheit einschließen. Zugleich wurde durch die Unterbrechungen das musikalische Wesen seines Gesamtwerks unterstrichen. Tausende von Beziehungen wurden durch die Extrablätter von seinen Gestalten zum Denken und Erleben der Zeit geknüpft. Motive wurden aufgenommen und fallen gelassen und traten an unerwarteter Stelle von neuem hervor. Ja selbst in Werken wie den »Biographischen Belustigungen«, die an sich fast nur ein wirres Durcheinander sind, rundet sich das Ganze immer noch zum Kosmos, zur geordneten Welt, weil, wie Goethe es an Jean Paul rühmt, ein ethisches Band alle Erscheinungen umschlingt. Im übrigen gesteht Jean Paul in seiner Verteidigungsrede den Leserinnen zu, was er ihnen in der Praxis seines Lebens erlaubte: die Satiren zu überschlagen. Nach dieser Einleitung beginnt der eigentliche Appendix: »Die Salatkirchweih in Obersees«.

Man muß einen Kirchweihtag im Fichtelgebirge erlebt haben, um zu wissen, wie genau der Wirrwarr dieser Kirchweih in Obersees der Wirklichkeit abgelauscht ist. Die ersten Eindrücke zu dieser Schilderung mag Jean Paul von den Höfer Jahrmärkten erhalten haben, die sich seiner Kinderseele unauslöschlich einprägten. Wenn die Städte und Flecken und Dörfer von dem bunten Jahrmarktstreiben erfüllt sind, wenn die Bewohner in hellen Scharen von Ort zu Ort pilgern, die Täler in den Marktplätzen zusammenströmen, das ganze Gebirge wie ein jubilierender Karneval erscheint, – wenn von jenseits der Grenze aus den böhmischen Bergen, dem nahen Eger etwa, fremdartige Gestalten herbeieilen, Musikkapellen und Banden, und sich unter das deutsche Volk ein ganz andersartiges Volkstum mischt: dann gewinnt man die Eindrücke, die der Salatkirchweih zugrunde liegen. Vor allem mögen es die Scharen von Bettlern gewesen sein, die immer wieder in solchen Schilderungen Jean Pauls auftauchen und die zu seiner Zeit, bei dem unseligen Zustand des Landes, für das Fichtelgebirge und seine Volksfeste sicher besonders charakteristisch gewesen sind.

Wieder führt sich Jean Paul selbst in die Handlung ein. Der Jurispraktikant Weyermann hat die Gerichtshalterei Obersees bekommen, die der Kaufmann Oehrmann (offenbar der Kammerrat von Oerthel oder sein Ebenbild Röper aus der »Unsichtbaren Loge«) zu vergeben hat. Unter der Maske des neuen Gerichtshalters führt sich Jean Paul bei dem Schloßverwalter von Obersees ein. Aber er erweckt den Verdacht, ein Hochstapler zu sein, und vermag sich nur mühsam herauszulügen. Angeekelt von der eigenen Lüge rennt er hinaus und stürzt sich in das Gewühl der Kirchweih. Eine heitere Liebesgeschichte schlingt sich durch. Der Lehrer und Organist Schnäzler, in manchem eine angedeutete Selbstkarikatur Jean Pauls, liebt die schöne Eva des Schloßverwalters. Schnäzler ist selbst ein Dichter, und schon deshalb schlägt sich Jean Paul auf seine Seite, gegen den Adjunktus Graukern, auf den er noch einen besonderen Haß hat, weil dieser ihn entlarven wollte. Er tritt als Werber für Schnäzler auf und es gelingt ihm, die ein wenig stupide Schloßverwalterstochter ihrem Liebhaber geneigt zu machen. Sie nimmt ihn, aus keinem andern Grunde, als weil ihr gut zugeredet wird. Ein Realismus in der Darstellung des Weiblichen, der in jener Zeit einzig dastehen dürfte.

Zur Hauptperson aber wird der Bettler Zaus, den Jean Paul tot am Wegrande findet. Er zwingt die Bauern, den Bettler zu begraben, und hält selbst am offenen Grabe dieses vom Dasein Zerzausten die Leichenrede. Ein unendlich mühseliges Leben breitet er vor uns aus, eine furchtbare Anklage für alle, die im Reichtum sitzen. Wenn er in seinem nächsten Buch seinen Helden Siebenkäs als Armenadvokaten auftreten läßt, so verdiente er sich selbst mit der Totenrede für den verhungerten Bettler diese Amtsbezeichnung. Über Büchner bis zu Gerhart Hauptmann schwang sich dieses anklagende und verzeihende Ethos Jean Pauls fort, das bald nach der Niederschrift der Totenrede im »Siebenkäs« seinen vollendeten Ausdruck finden sollte.

Inzwischen war der »Quintus Fixlein« erschienen und hatte sich wie der »Hesperus« im Sturm die Herzen der Leser erobert. Schon nach einem Jahr wurde eine zweite Auflage notwendig, für die Jean Paul dann die berühmte Vorrede schrieb. Sie soll uns nach seiner Rückkehr von Weimar beschäftigen, da sie eine Auseinandersetzung mit der Geisteswelt von Weimar ist. Aber schon vor und während der Niederschrift der »Biographischen Belustigungen« lockte ihn Weimar an, und er spielte mit dem Gedanken einer Reise dorthin. Kurz vorher hatte er die »Unsichtbare Loge«, ein Jahr nach ihrem Erscheinen, an Goethe gesandt, der mit keiner Silbe antwortete. Im Juni 1795 schickte er dem Heros der deutschen Dichtung den »Hesperus« mit einem von tiefster Verehrung erfüllten Schreiben. Goethe sandte den Roman nach wohl kaum mehr als flüchtigem Durchlesen an Schiller mit den Worten: »Hierbei ein Tragelaph (Hirschbockskäfer) von der ersten Sorte.« Wenige Tage nach dem Brief an Goethe vertiefte sich Jean Paul in Baireuth in die Bilder der beiden Großen von Weimar. »Ach ich habe Lips großen Kupferstich von Goethe gesehen und ich hätte mit den lebendigen Lippen auf die himmlischen – gestochenen fallen mögen. – Schillers Parträt oder vielmehr seine Nase daran schlug wie ein Blitz in mich ein: es stellet einen Cherubim mit dem Keime des Abfalls vor und er scheint sich über alles zu erheben, über die Menschen, über das Unglück und über die – Moral. Ich konnte das erhabene Angesicht, dem es einerlei zu sein schien, welches Blut fließe, fremdes oder eigenes, gar nicht satt bekommen.« Es war derselbe Eindruck von Schillers Persönlichkeit, wie er ihn durch den gegenwärtigen Mann in Weimar bestätigt fand. Eine ungewöhnliche Auffassung des Dramatikers, die aber tief in Schillers Wesen hineinleuchtet. Bereits im Februar des Jahres hatte er den gerade erschienenen ersten Band des »Wilhelm Meister« gelesen. »Ich las gestern in Einem fort daran und es hinaus um neuneinhalb Uhr: und als es das schlug, war der Frühling wieder vorbei, ich war wieder von Neustadt zurück und von Venzka und langte wieder auf dem harten Bette auf Stühlen an.« Goethes Roman, der den eigentlichen Anfang der romantischen Bewegung machte, hatte also wohl Jean Paul in ein Reich schöner Träume entführt und gab Anlaß, daß seine Blicke sich wieder nach Weimar wandten, aber von besonderer Wirkung auf sein Schaffen ist die Lektüre nicht gewesen, wie schon der Werther fast eindruckslos an ihm vorübergegangen war.

Noch eines seltsamen Bekannten Jean Pauls müssen wir hier gedenken. Es war der bildungseifrige Barbiergehilfe Rolsch, der an den Dichter der »Unsichtbaren Loge« und des »Hesperus« einen von Verehrung überströmenden Brief schrieb und mit dem Jean Paul seither im Briefwechsel blieb. Rolsch war inzwischen als Barbier nach Weimar gepilgert. Im Juni 1795 fragte Jean Paul diesen seltsamen Freund an, ob Wieland, Herder und Goethe jetzt in Weimar anzutreffen seien. Vielleicht beschäftigte ihn nur das Schicksal des an Goethe übersandten Exemplars des »Hesperus«, aber es scheint, daß er schon damals eine Weimarer Reise für die allernächste Zeit plante, die dann ein Jahr später unter weit romantischeren Umständen Wirklichkeit werden sollte.

Inzwischen war Matzdorff durch den Erfolg des »Hesperus« überrascht worden und hatte allen Anlaß zu bedauern, daß ihm der »Quintus Fixlein« entgangen war. Er könne es unmöglich ruhig mit ansehen, schrieb er, wie andere da ernten, wo er gesät habe. Jean Paul entschuldigte sich damit, daß Matzdorff seine Anfrage betreffs des Buches nicht beantwortet habe, machte sich aber anheischig, ihn durch ein anderes kleines Werkchen zu entschädigen. Unter den verschiedenen vorgeschlagenen Titeln wählte Matzdorff »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke«. Ob damals schon der zweite Titel des Büchleins »Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs« feststand, ist ungewiß. Aber Jean Paul hatte wohl von Anfang an vor, in dem neuen Werk nur ein Gegenstück zum »Quintus Fixlein« zu schaffen, da es ja den Verleger in erster Linie für den entgangenen »Quintus« entschädigen sollte. Vorläufig jedoch gehörten seine Energien den »Biographischen Belustigungen«. Jedoch schon nach dem sechsten Kapitel, das er für gelungen hielt, erlahmte sein Interesse an dieser Zwischenarbeit, deren Risse er, so gut es ging mit dem Appendix verstopfte, und wandte sich den Dornenstücken zu. »Ich habe jetzt kaum Zeit zu niesen,« schreibt er am 16. September an Otto, »so setzt mir der Berliner zu. Denn die Dornenstücke – eine närrische Biographie in meiner Manier – müssen fertig gefärbt werden.« Am 9. November war er bereits erheblich vorgeschritten. »Diese Lieferung wird wahrscheinlich die letzte schriftstellerische Plage sein, die ich Dir in diesem Jahr mache. Du gehst dann einem langen Sabbathjahr entgegen . . . Dein voriges Blättchen hat, Einmal ausgenommen, überall recht gehabt im Erraten und im Beweisen . . . Das obige Einmal bezieht sich auf deine Konjektur über die Hochzeitrede: sie fiel mir erst vier Zeilen nach ihrem Anfang ein – wenige Einfälle ausgenommen, fuhr mir die Rede, wie sie ist, heraus – sie wurde mir so leicht, daß ich sie . . . nicht das Herz hatte umzugießen, aus Angst, sie werde noch einmal so dick – und für den Leibgeber kann wegen der künftigen großen Kardinalbiographie nichts toll genug sein, ob er dort gleich nur eine Nebenrolle bekömmt – und das Gefühl eines Humoristen, wie Er sein soll, drückt sich weniger bei einzelnen Fällen als bei der Übersicht des ganzen Geschlechtes richtig aus.« Noch immer glaubte er, es nur mit einer kleinen Zwischenarbeit zu tun zu haben. Die eigentliche Durchführung sollte Leibgeber erst in dem geplanten Kardinalroman, dem »Titan«, erhalten. Aber schon am Ende des Jahres mußte er einsehen, daß ihm das Werk unter den Händen anschwoll. »Wenn ich die kleinste Schleuse aufziehe, so schießet so viel Wasser zu, daß allzeit mehr Räder in Gang kommen und also mehr gemahlen wird, als ich wollte. – Das körperliche Uhrgehäuse zerspringt, – so viel, daß ich sterbe, ohne mein halbes Ich aus- oder abgeschrieben zu haben.« Mitte Februar 1796 schickte Matzdorff die Autorexemplare des ersten Bändchens, und die Wasser strömten immer noch durch die Schleusen. Im März übersandte er – allerdings lag die Arbeit an den »Biographischen Belustigungen« zum Teil dazwischen – an Otto neue Teile des Manuskripts. »Hier schick' ich dir Wenig vom Buch und ich werde noch einige Wochen brauchen, bis ich das erreichen und schicken kann, womit die Hauptsache und das Mittelstück vom Titel gerechtfertigt und eine kleine Perspektive auf den Ausgang geöffnet ist. Kurz ich habe noch fünf, sechs Bogen zu der Sache, womit ich das Buch anzuheben gedachte.« Einen Monat später scheint er am Ende. »Etwas mag auf mich mein künftiger ›Titan‹ wirken, aus dem mir Leibgeber mit Glorie wie ein vom Aufgange vergrößerter Stern herüberleuchtet. – Und dieses ›Titans‹ wegen hab' ich jetzt kaum das Herz, mich Naturschilderungen zu überlassen: dort drinnen sollen sie alle brennen und funkeln, und ich hebe sie auf – es ist aber einfältig . . . Die Szene mit Natalie in der Fantaisie liegt wie eine sanfte Mondnacht auf mir und ich freue mich, wenn ich einmal in Baireuth die Stätten besuchen werde: ich hätt' in meinen andern Büchern nur auch mehr meinem Gefühle, das mir solche Szenen vergeblich rein vorhielt, mehr folgen sollen als der Sucht, eine Musaik von böhmischen Steinen zusammenzulegen.« Am nächsten Tage endlich konnte das Ende des Manuskripts an Matzdorff abgehen.

 

Jean Paul hatte dem verstorbenen Freunde Hermann ein Denkmal errichten wollen, indem er ihn als Helden in den »Biographischen Belustigungen« einführte, unter seinem vollen Namen und mit einigen seiner Aufsätze als Anhang. Er errichtete dem Freunde ein ragenderes Mal im »Siebenkäs«, indem er aus Ingredienzen seines Wesens die unsterbliche Gestalt Leibgebers mischte. Schon in der »Unsichtbaren Loge« hatte er aus Charakterbestandteilen Hermanns einige der wichtigsten Figuren des Romans gewonnen: den Humoristen Fenk und den am Leben verzweifelnden Ottomar. Von beiden hatte Hermann zu gleichen Teilen. Es war der Zynismus des Realisten, des freien Geistes, der sich keine Schranken setzen ließ und dem die ganze Welt Objekt seiner Forschung bedeutete. Ein ungeheures Über-den-Dingen-Stehen zeichnete ihn aus, und diese Freiheit des Ungebundenen und nicht zu Bindenden trat als souveräner Humor, als freies Spielen mit den Mächten des Lebens in Erscheinung. Indem Jean Paul diese Gestalt als den Humoristen Fenk herausstellte, befreite er sich selbst von dem haltlos Spielerischen, dem Satiriker, der in ihm steckte. Er war Hermanns Wesensverwandter gewesen; kein Ton im Herzen des Freundes, der nicht auch in ihm widergeklungen hätte. Es war nicht nur ein Akt der Freundespietät, wenn er Hermann in seinen Gestalten immer wieder auferstehen ließ, es war in gleichem Maße ein Akt der Selbstbefreiung. Seit er im Leben festen Fuß gefaßt hatte, waren ihm die Ottomarschen Seiten in seinem und des Freundes Charakter nicht mehr in dem Maße gefährlich, daß hier ein solcher Befreiungsakt notwendig gewesen wäre. Der Ausbruch nihilistischer Verzweiflung, wie er noch in Ottomar zum Ausdruck kommt, hatte aufgehört, seine Gefahr zu sein. Was in ihm noch davon lebendig war, hatte er sich in jener Leichenrede Viktors vor dem eigenen Bilde in der Verzweiflungsnacht von St. Lüne vom Herzen geschrieben. Aber gefährlich blieb ihm noch immer der Humorist und Satiriker. Mit ihm hatte er sich ständig auseinanderzusetzen. Nicht nur, daß er immer wieder die Neigung zeigte, alle Illusionen in den eigenen Schöpfungen zu durchbrechen, durch einen Witz die ganze von ihm selbst mühsam getürmte Welt zu zerblasen, er opferte als Satiriker auch einer allgemeineren Gefahr des Schaffenden überhaupt: nichts ganz ernst zu nehmen, sich in Freiheit über die Wirklichkeit zu erheben und mit Menschen und Dingen ein verbrecherisch ästhetisches Spiel zu treiben. Es war die »romantische Ironie«, die wenige Jahre später als ästhetisches Prinzip zur Herrschaft gelangte. Jean Paul empfand den gefährlichen Zauber einer solchen rein ästhetischen Einstellung an sich selber, und ihre Überwindung hat ihn Jahrzehnte fast ausschließlich beschäftigt. Junker Matthieu im »Hesperus« ist die erste Gestalt, in der er diesem ästhetisierenden Spielen mit Lebenswerten entgegentrat. Im »Titan« steigerte er sie zu der faszinierenden und doch so abgründigen Erscheinung Roquairols, sie nunmehr schon genauer und bewußter nach dem Bilde der ersten Romantiker formend. Innerlich aber hängen Matthieu und Roquairol mit den Humoristen Fenk und Leibgeber zusammen. Auch in ihnen lebt die Gefahr, die Schwere des Daseins im Spiel aufzuheben, und wenn sie ein richtiger Takt und eine belebende Kraft des Gemüts vor den Ausschreitungen der beiden Junker sichert, so beruht diese Einschränkung nur auf ihrer individuellen, nicht ihrer grundsätzlichen Einstellung zum Dasein.

Schon Gestalten wie Matthieu und Roquairol sind nicht ohne verführerischen Reiz. Welch ein Zauber muß aber erst von innerlich befreiten Personen ausgehen, wenn sie noch überdies mit allen Vorzügen des Gemüts ausgestattet sind wie Fenk und Leibgeber! Hier naht der radikale Skeptizismus in seiner verführerischsten Gestalt, von dem Nimbus innerer Tragik umleuchtet. Denn es ist Tragik, und vielleicht die bitterste, die es geben kann, aus dem Kreislauf des Lebens, aus der Wärme menschlicher Gemeinschaft durch einen Zwang des Intellekts ausgeschlossen zu sein und dennoch alle Bereitschaft für diese menschliche Gemeinschaft in sich zu tragen. Es ist die Tragik des Humoristen, der die Menschen und Dinge in ihrer Zwecklosigkeit, in ihrem Ausgegossensein liebt und nicht mehr ganz zu ihnen gehört.

In einer solchen Gestalt den Schatten des Freundes zu beschwören, das allerdings mußte Jean Paul, auf dem noch immer das Schuldgefühl Hermann gegenüber lastete, im höchsten Maße reizen, besonders wenn er sich damit eigene geistige Nöte von der Seele schreiben konnte. In Fenk hatte er das Problem nur oberflächlich angeschnitten, jetzt wollte er es durch endgültige Gestaltung bannen. Je mehr ihm die Anregung dazu durch Hermann gekommen war, desto weiter allerdings mußte er sich gerade hierbei von den äußeren Umrissen der Gestalt Hermanns entfernen. Hermann war schön gewesen. Schon bei Fenk hatte Jean Paul der Gestalt des Humoristen eine gute Dosis Häßlichkeit beigemengt. Ottomar freilich konnte mit allen körperlichen Vorzügen ausgestattet erscheinen, aber Hermann war ja nicht nur Ottomar, er war eben zu einem starken Teil seines Wesens Humorist und Zyniker, und als solcher durfte er unmöglich über den Zauber äußerer Schönheit verfügen. So gab der Dichter dem Zyniker Leibgeber eine groteske Häßlichkeit und unterstrich dieselbe noch durch den Bullenbeißer Saufinder. Zugleich zog er aus dem zynischen Naturalismus Hermanns die äußerste Konsequenz. Leibgeber glaubt weder an Gott noch an Unsterblichkeit. Das ist der tiefste Schatten, der über der Freundschaft des Armenadvokaten und Leibgebers lastet. Und doch gab Jean Paul dem kaum noch Zweifelnden etwas ausgesprochen Gottnahes. Gott lebt auch in seinem Verächter, vielleicht gerade in ihm. Wie eine Naturgewalt stürmt Leibgeber durchs Leben. Keine menschliche Institution vermag ihn zu fesseln. Er verachtet Frauen und Liebe, kommt und geht wie ein Gewitter. Er hat nie recht jung ausgesehen, sein Gang ist hinkend, sein Herz schlägt unter einer zottigen Bärenbrust. Frei, namenlos, unbekannt muß er leben. Eine kleine Stadt ist ihm ein Greuel, ein Amt eine drückende Last. Er hat keine Bedürfnisse, weder nach Wohlleben noch nach äußeren Ehren. Zum Zeichen der Freundschaft tauschen die Freunde den Namen, und eigentlich ist es auch berechtigt, daß Leibgeber und nicht der heiter stille Armenadvokat den grotesken Namen Siebenkäs führt.

Diese Gestalt sollte den »Kardinalroman Titan« beleben. Es war eine Vorwegnahme, ihn dem »Siebenkäs« einzufügen, und doch trieb erst diese Figur die Dichtung weiter. Ohne sie wäre der »Siebenkäs« ein artiges Gegenstück zum »Quintus Fixlein« geworden, mit ihr setzte er die große epische Linie des Jean Paulschen Gesamtwerks fort.

Jean Paul wäre auch gar nicht mehr in der Lage gewesen, eine reine Idylle zu schreiben. Wohl »liebte und verachtete« er das kleinbürgerliche Dasein, aber ihn selbst zog es in die große Welt, seitdem ihm Baireuth sich eröffnet hatte. Auch die Idylle, fühlte er, mußte er von Grund aus überwinden, um zu großen Zielen frei zu werden. Die Idylle war seine Gefahr wie die Satire. Das »Altfränkische« lag ihm im Blut, aber er mußte darüber hinaus, um ein Deuter und Seher der Zeit zu werden. Noch einmal konnte er wohl liebevoll die enge kleine Welt seiner Heimat umfassen, ja er ging in diesem Roman noch weiter zurück als in allen seinen letzten Büchern. Dort hatte er als der kleine Dorfschulmeister gelebt, sich am Kleinen erfreuend und Kleinem hingegeben, eine Winkelexistenz, die ihren eigenen Wert und ihre eigene Würde haben mochte. Diesmal aber ging er in die Zeit seines allergrößten Elends zurück: in die Zeit, da er, von den Mitbürgern verachtet, ohne einträgliches Amt, ohne das Notwendigste zu besitzen, in der kleinen Höfer Stube, zusammengedrängt mit Mutter und Brüdern, seine »Teufelspapiere« schrieb, selbst ein Armer und ein Anwalt der Armen. Einer, dem die allgemeine Not das Herz zerriß, ohne je die Hand zur Hilfe bieten zu können, indes er die Reichen (Kammerrat von Oerthel) am Schweiße der Ärmsten sich mästen sah. Er ging zurück auf die armseligen Gestalten, die ihn damals umstanden hatten: die armen Schullehrer und Landpfarrer und Rektoren, auf die Frauen, die wie seine Mutter in Wirtschaftssorgen ohne Hoffnung zerrieben wurden, auf die heimliche und uneingestandene Feindschaft, die zwischen den Nächsten aus dem zu engen Beieinanderwohnen erwuchs und das Leben mit kleinen Gehässigkeiten vergiftete.

Seltsam, wie dieses klarste Werk Jean Pauls mißverstanden wurde. Man hielt sich an die »niederländische« Kleinmalerei des ersten Teils, empfand das Mittelstück, das Scheinsterben Siebenkäsens, als geschmacklos und die Vereinigung des Helden mit Natalie als unwahrscheinlich. Eine solche Auffassung hat aber mit dem »Siebenkäs« kaum etwas zu tun. Gewiß griff er noch einmal auf die Jahre seines größten Elends zurück, und unter seiner Malerhand gewann selbst diese Not des kleinen Lebens einen goldenen Schimmer. Aber in erster Linie stieß er diese Zeit von sich ab. »O da ist mir, als wenn ich Hof abschütteln möchte wie ein Erdenleben, um nur den inneren Frieden zu gewinnen«, schrieb er schon im November 1794 an seine Braut, und dieser Satz faßt vielleicht am besten die Stimmung des Romans zusammen. Es ist eine Auferstehungsdichtung, ein Stirb und Werde, das er hier gestaltet hat. Das kleine enge Hofer Dasein abschütteln wie ein Erdenleben! So schüttelt Siebenkäs seines Daseins Enge ab, um in das große Leben hinauszutreten, und er tut es in dem größten Symbol, das es für ein solches »Abschütteln« geben kann: er stirbt und aufersteht als ein neuer Mensch.

Dieses Stirb und Werde schwingt sich durch Jean Pauls ganze bisherige Dichtung. Schon in der »Bayerischen Kreuzerkomödie« fanden wir den seltsamen Aufsatz »Meine lebendige Begrabung«, in dem er mit einem kaum überbietbaren Zynismus von seinem Scheintod spricht. Hier schon waltet Leibgebers gottverdammendes und doch gottnahes Wesen. Als er den Plan zur »Unsichtbaren Loge« faßte, ergriff ihn an jenem Novemberabend des Jahres 1790 der Gedanke des Todes und der Unsterblichkeit. »Ich richtete mich wieder auf,« trug er am nächsten Tag in das Tagebuch ein, »daß der Tod das Geschenk einer neuen Welt sei und die unwahrscheinliche Vernichtung ein Schlaf.« So steht der Gedanke der Auferstehung an den Toren seines Schaffens, und nicht nur in dem Sinne, daß er nach dem wirklichen Tode ein neues Leben zu gewinnen hoffte, sondern auch in der Auffassung des Lebens als eines fortwährenden Sterbens und Wiedergeborenwerdens. Ottomar in der »Unsichtbaren Loge« läßt er lebendig das Entsetzen des Sterbens erfahren. »Ich bin seitdem lebendig begraben worden«, schreibt Ottomar an Fenk. »Ich habe mit dem Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn.« Und ähnlich, wenn auch nicht geradezu in dieser krassen Gestalt, läßt er den Quintus Fixlein mit dem Tode ringen und auferstehen. Der Gedanke des Todes war so mächtig in Jean Paul, bricht immer wieder mit so elementarer Gewalt in seinen Dichtungen durch, daß wir wissen, es war für ihn kein anderer Weg, ihn zu überwinden, als sich mit ihm vertraut zu machen.

Die großen Ideen treten in seinen Dichtungen zurück hinter die Urerlebnisse des bloßen Daseins. Es hing das aufs engste mit seiner entbehrungsreichen Jugend zusammen. Das primitive Dasein umgab ihn in solcher Stärke, daß er ihm zeitlebens verhaftet blieb. Nicht durch eine überpersönliche Idee war der Todesgedanke von ihm zu überwinden, nur durch das Elementarerlebnis von der Einsicht seiner Notwendigkeit. Durch einen Aberglauben ließ er den Quintus Fixlein die Grenze des Todes streifen. Im »Siebenkäs«, der das Gegenstück dazu bilden sollte, mochte er Ähnliches von vornherein vorgesehen haben. Aber unter den Händen wuchs ihm das Werk weit darüber hinaus. Er hatte wohl von Anfang an eine Verwickelung entworfen, die nur durch den Scheintod des Helden gelöst werden konnte. Nun aber wurde dieses »Mittelstück« der eigentliche Drehpunkt des Ganzen. Das Scheinsterben des Helden steht für sich da, ja es ist sogar nachher unnötig, da Lenette im Kindbett stirbt. Worauf es ankommt, ist dieses: das Abschütteln des alten Lebens und das Auferstehen zu einem neuen in Freiheit und Liebe.

Nie hat ein Dichter seine Seelenlage deutlicher zum Ausdruck gebracht als Jean Paul im »Siebenkäs«. Er steht wirklich im Begriff, Hof zu verlassen und sich in Baireuth festzusetzen, von wo ihn ein neues höheres Leben herüberwinkt. »Die frohen Wirbel der Freundschaft und der Natur allda ziehen mich in immer engere Kreise und endlich gar in den Mittelpunkt hinein nach Baireuth«, schreibt er im August 1795 an Emanuel. Wir kennen die schwelgerischen Tage, die er dort verlebt hatte und deren Zauber ihn immer wieder aufs neue in diese Stadt ziehen mußte. So spielt auch der Roman zwischen Hof und Baireuth. Den Namen Hof muß er freilich in der Dichtung in Kuhschnappel verwandeln und nach Schwaben verlegen, aber Baireuth stellt er unter seinem richtigen Namen und mit seinem ganzen wundervollen Lokalkolorit dar. Die Eremitage und die Fantaisie erblühen unter seiner Darstellung, sogar des Dörfchens Johannis neben der Eremitage wird Erwähnung getan. In Hof steigen die Freunde in dem heute noch bestehenden Gasthof »Zur Sonne« ab, und so genau ist Jean Paul in der Beschreibung der Örtlichkeiten, daß er, da er Kuhschnappel nach Schwaben verlegt, den Helden über Bamberg nach Baireuth führt. Als Leibgeber und Siebenkäs nach der Katastrophe sich trennen müssen und noch ein Stück Weges miteinander gehen, läßt er sie ihren Weg von Baireuth über Hof nehmen, und ihren endgültigen Abschied verlegt er auf die kahle Höhe von Töpen, jenem Ort, der mit dem Leben des Verfassers der »Teufelspapiere« aufs engste verknüpft ist. Wohl mochte er bei diesem Abschied der Freunde, der ein ewiger ist, an den Tod Adam von Oerthels denken, das erste erschütternde Ereignis, das ihn aus dem Satirenschreiben auferweckte. Der Abschied der Freunde ist von einer herzzerreißenden Traurigkeit. Hier erst offenbart sich die tiefe Ethik des Scheinsterbens und das Unerbittliche auch des Scheintodes, weil er die verbundenen Herzen auf ewig auseinanderreißt.

In Lenette, der Frau des Armenadvokaten, hat Jean Paul seinen lebenswahrsten Frauencharakter geschaffen. Das Urbild Lenettens ist seine Mutter, und das Zusammenleben des armen Siebenkäs mit seiner jungen Frau ist genau dem Zusammenleben der Frau Richter mit ihrem nach bürgerlicher Auffassung aus der Bahn geratenen Sohn nachgebildet. Lenette ist brav und engelrein, bescheiden und gehorsam, sie geht in den kleinen Sorgen des Haushalts völlig auf. Jedes geistige Leben ist ihr verschlossen. Hilflos steht sie den Scherzen und Anspielungen des Mannes gegenüber. Neben dem geistig Gegründeten ist sie die Banalität des Lebens in ihrer rührendsten Gestalt. Sie verehrt ihren Mann, aber mit einer übergroßen Schüchternheit, und von Anfang an sehen wir die Katastrophe kommen: Wenn erst ihre Befangenheit mit der blinden Verehrung nachgelassen hat, wird sie hilflos vor der Erscheinung ihres Gatten stehen, das Ungewöhnliche seiner Existenz nicht begreifend und bald verachtend. Man ahnt es schon an ihrer Abneigung gegen Leibgeber, der zu der Hochzeit des Freundes herbeigeeilt ist. So verabscheuungswürdig ihr dieser Atheist und Humorist von Anfang an ist, genau so verabscheuungswürdig wird ihr Siebenkäs erscheinen, wenn die Ehrfurcht vor dem angetrauten Gatten von ihr abgefallen ist. Und bald beginnt sich ihr Mißtrauen zu regen. Siebenkäs und Leibgeber haben zum Zeichen der Freundschaft ihren Namen getauscht. Lenette erfährt davon zufällig durch einen Fremden, und es erscheint ihrem kleinen Kopf wie ein Verbrechen, da sie ja nun nicht einmal recht weiß, ob sie Frau Siebenkäs oder Frau Leibgeber ist. Erst der Rektor Stiefel kann sie beruhigen. Zu diesem alltäglichen und banalen Schulmann hat sie ein unbegrenztes Vertrauen. Stiefel ist langweilig, pedantisch, aufgeblasen und eitel, dafür von einer rechtschaffenen Güte, und er hat einen einträglichen Beruf und einen Titel, alles Dinge, deren Mangel sie bei ihrem eigenen Mann schmerzlich empfindet. Als Brautwerber hat der Schulrat Lenette nach Kuhschnappel geleitet. Er ist ihr mit seiner braven Spießigkeit wie ein Stück ihrer Heimat, aus der er sie hergeholt hat. Zwischen diesen Menschen spielt auf engem Raum der Roman.

Schon die Flitterwochen bringen Trübungen. Durch den Namenstausch wird Siebenkäs um seine Erbschaft gebracht, die er seinem Vormund, dem Heimlicher von Blaise, anvertraut hatte. Auf diese Erbschaft hat der Armenadvokat seine Hoffnung gesetzt. Unmittelbar nach der Hochzeit tritt Mangel am Notwendigsten ein. In seiner Not beschließt er, ein Buch, die »Teufelspapiere«, zu schreiben. Das Buch erfüllt Lenette mit Ehrfurcht, der Titel aber mit Schaudern. Bei dieser Schriftstellerei gibt es die ersten ernsten Ehekonflikte. Lenette muß den ganzen Tag in dem kleinen Zimmer scheuern und herumwirtschaften, was Siebenkäs wiederum im Arbeiten behindert. Es ist rührend, mit welcher liebenden Geduld er ihr die Grundbegriffe geistiger Konzentration beibringt. Sie kann es nicht verstehen, daß Schrubbern und Scheuern auf einmal Sünde sein soll. Die Not macht sich immer drückender bemerkbar, ein Stück des Hausrats nach dem andern muß aufs Leihhaus wandern. Um ihren grillierten Kattunrock kämpft sie mit aller Kraft, während sie sich gleichgültig entschließt, den Verlobungsstrauß zu opfern. Siebenkäs gibt das einen Stich durchs Herz. Zum erstenmal fühlt er, daß sie ihn nicht mehr liebt oder vielleicht nie geliebt hat. Ein Vogelschießen, mit der ganzen Kunst Jean Paulscher Kleinmalerei geschildert, hält das Verhängnis noch einmal eine Weile auf. Siebenkäs erschießt einen erheblichen Gewinn, von dem der Haushalt eine Weile bestritten werden kann. Eine Festtafel vereinigt die glücklichen Bewohner des Hauses miteinander. Das gewonnene Schwein wird verzehrt. Liebevoll malt Jean Paul die kleinbürgerlichen Typen aus. Erst gegen den Hintergrund ernster seelischer Konflikte gestellt, gibt diese kleine Welt ihren ganzen Zauber her. Aber das Unheil ist nicht aufzuhalten. Siebenkäs muß mehr und mehr erkennen, daß Lenette in den Schulrat verliebt ist. Lenettes Geburtstag läßt das alte Glück noch einmal aufflackern, aber beide schleppen schwer an den Ketten, mit denen sie unwiderruflich aneinander gefesselt sind.

Da trifft ein Brief Leibgebers ein, der den Freund nach Baireuth bestellt, und hier lernt Siebenkäs Natalie kennen. Eine freie, leichte Atmosphäre umfängt den bedrückten Armenadvokaten. Immer tiefer verfängt er sich in der Leidenschaft für die heroische, vornehme Geliebte. Natalie hat Jean Paul in den unbestimmten schimmernden Farben seiner sonstigen Heldinnen gehalten, aber gerade dadurch wirken diese Gestalten so poetisch und zart. Es ist der Duft einer weichen und feinen Welt, der um sie liegt, und sie stehen vor uns mit einem Glanz umflossen, wie der Liebende die Geliebte empfindet. Wer eine Lenette charakterisieren kann, wie es Jean Paul tat, dem sollte man nicht Mangel an Sicherheit des Zeichenstiftes vorwerfen. In der Art, wie sich Lenette uns gibt, erscheint die mit scharfen Sinnen beobachtete Frau. Die Geliebte aber naht in dem unbestimmten Schimmer Nataliens wie eine duftumflossene Welt, und wie eine Welt senkt sich die Liebe Nataliens auf den gequälten Siebenkäs hernieder. Leibgeber rät, sich von Lenette scheiden zu lassen. Siebenkäs bebt vor diesem Gedanken zurück. So bleibt nichts anderes übrig, als daß Siebenkäs eine tödliche Krankheit fingiert, einen leeren Sarg statt seiner begraben läßt und selbst an Leibgebers Stelle die Inspektorstelle bei einem Grafen übernimmt, um Natalie zu heiraten. Widerstrebend geht Siebenkäs auf diesen Plan ein. Wohl spürt er das Zynische in dem scheinbaren Sterben, aber ihn verlangt allzu gewaltig nach wirklichem Tod und Wiedergeburt aus den Qualen der letzten Zeit, um nicht unwiderstehlich von dem Gedanken Leibgebers ergriffen zu werden. Mit dem Gedanken des Todes im Herzen, kehrt Siebenkäs in das Elend seiner Häuslichkeit zurück. Lenettens Eifersucht erleichtert ihm die Ausführung des Plans. Er weiß, daß sie nach seinem Scheintode mit Stiefel sich trösten wird. Alles Entsetzen wirklichen Sterbens umfängt ihn, wenn er sich Lenettens Zukunft an der Seite Stiefels ausmalt.

Die Sterbeszene ist von einer grausigen Tiefe. Alle Farben seelischer Qual vereinigen sich zu diesem Vorgang, der wie ein Scherz anhebt und mit allem Entsetzen wirklichen Sterbens sich abspielt. Gestalten wie aus dem »Inferno«, mit satirischem Stift gestrichelt und doch von der Unbarmherzigkeit von Höllenbewohnern, sammeln sich um das Totenlager. Der Doktor Oelhafen, der seinen Titel Obersanitätsrat nicht umsonst führt, sondern für Geld. Der Landschreiber Börstel, eine eingedorrte Schnecke mit scheuem, rundem, horchendem Knopfplattenangesicht voll Hunger, Angst und Aufmerksamkeit. Der Frühprediger Reuel, der dem Sterbenden ins Gesicht sagt: er sei ein rechter Teufelsbraten und eben gar. Siebenkäs wird von Qualen gefoltert. »Ich bin's satt, satt, satt – ich mache nun keinen Spaß mehr – in zehn Minuten sag' ich meine letzte Lüge und sterbe, und wollte Gott, es wäre keine!« Er befiehlt dem Freund, kein Licht nach seinem Tode neben ihn zu stellen. »Ich werde meine Augen nicht beherrschen können, und unter der Larve kann ich sie doch nicht weinen lassen, wie sie wollen.«

Während der Sarg in die Erde gesenkt wird, wandert Siebenkäs nach der Fantaisie, um sich zwischen Hof und Baireuth mit dem Freunde zu treffen. Noch einmal ersteht vor uns die Landschaft, die dem Dichter so viel gegeben. Es kommt das letzte Zusammentreffen der Freunde auf dem Bindlocher Berg und ihre Trennung bei Töpen. Leibgeber geht, um in der Ferne zu verschwinden. Siebenkäs aber tritt bei dem Grafen in Vaduz Leibgebers Stelle an. Noch einmal kehrt er nach Kuhschnappel zurück, aber von Lenette findet er nur einen Grabhügel. Sie ist bei der Geburt eines Kindes gestorben. Jetzt erst fühlt er sich frei. Natalie erscheint in Vaduz, das Herz noch voll von Trauer um den gestorbenen Geliebten. Anstatt Leibgebers findet sie den Totgeglaubten. Die Wiedersehensszene vereinigt die Liebenden auf immer. »Wir bleiben beisammen!« Firmian stammelte: »O Gott! o du Engel – im Leben und im Tode bleibst du bei mir.« –»Ewig, Firmian!« sagte leiser Natalie; und die Leiden unseres Freundes waren vorüber.

 

Man könnte den Roman analysieren, sogar von einer Schuld und Sühne des Helden sprechen. Etwa sagen, daß Siebenkäs erst wirklich befreit ist, seit er es über sich gewann, den Grafen in Vaduz von seinem Scheinsterben in Kenntnis zu setzen. Aber mit solcher Begrifflichkeit dringt man nicht in Jean Pauls Inneres. Seine Menschen leben nicht um Probleme und ihre Lösungen herum, sondern sie durchleben Komplexe, werden durch ganze Welten hindurchgetrieben, ehe sie auf der Ebene der Erfüllung anlangen. Geradeaus schreitet die Handlung vorwärts, durch Lebensschichten hindurch. Die letzte berührt sich nur musikalisch mit der ersten des Ausgangs durch die Ähnlichkeit der Motive und Menschen. An Dichte und Atmosphäre ist sie ganz anders, und andere Gesetze walten in ihr. Es ist das Suchen nach diesen Gesetzen eines befreiten höheren Lebens, das den Roman vorwärtstrieb. Noch einmal umfaßt Jean Paul seine Entwickelung vom verbissenen und gequälten Satirenschreiber bis zum Eintritt in die Seligkeit von Baireuth. Die Frage erhebt sich: Wird er selbst in der großen Welt, in die er nun unmittelbar eintreten soll, heimisch werden, wird er in ihr neue Ziele gewinnen? Bringt er es fertig, wie sein Armenadvokat, der Welt, die hinter ihm liegt, abzusterben, um in der klareren und dünneren Luft eines rein geistigen Daseins, wie Goethe und Schiller, luftige Zelte aufzuschlagen? Oder wie wird alles werden? Hier lag ein Problem von solcher Schwere vor, daß es Jean Paul erst in Jahren begreifen sollte. Es handelt sich auch hier in einem eminenten Sinne um die Frage nach der Verwirklichung des deutschen Geistes. Kann große deutsche Dichtung (daß Jean Paul einer ihrer Vertreter war, hatte er nun bewiesen) den Boden, in dem sie wurzelt, zurückstoßen und in die reine Form europäischer Geistigkeit eingehen? Oder ist sie den Kräften der Erde ewig verbunden? Goethe hatte den letzten Schritt gewagt, von einem Verkünder gotischer Besessenheit war er zum europäischen Menschen aufgestiegen, das Kulturerbe des Altertums austragend und nach einer Form suchend, die von der absoluten Allgemeingültigkeit einer Kulturepoche war. Aber hatte er damit nicht schon aufgehört, an der deutschen Verwirklichung zu arbeiten; suchte er damit noch nach einer Form, die Ausdruck einer Zeit und eines Volkes überhaupt war; machte er sich nicht damit lediglich zum Gipfel, wenn auch zu einem überragenden Gipfel einer einzigen Zeit, vielleicht sogar Modeperiode, die etwa mit »Empire« zu umreißen ist? Jetzt, nachdem Siebenkäs gestorben und auferstanden war, war es für Jean Paul an der Zeit, Goethe zu begegnen, um seine in naher Zukunft liegenden Ziele an diesem Koloß abzuklären in Hinneigung oder Widerspruch. Über diese Frage sollte die allernächste Zukunft entscheiden.

Bevor wir Jean Paul auf seinem Wege nach Weimar begleiten, müssen wir noch einen Blick auf die andern Arbeiten werfen, die er dem »Siebenkäs« mitgab. Ursprünglich sollte der Roman ja nur ein kleines Seitenstück zum »Quintus Fixlein« werden, und wie diesem dachte er auch der neuen Idyllendichtung eine Reihe kleinerer Arbeiten beizuschließen, um gegenüber dem »Hesperus«, der seinen Siegeszug angetreten hatte, nicht »dümmer und matter« zu erscheinen. Schon durch den Titel »Blumen-, Frucht- und Dornenstücke« zeigte er an, daß es sich nicht nur um eine einzelne Geschichte, sondern um einen Komplex mehrerer Dichtungen handeln sollte. Als »Dornenstücke« standen in dem Ganzen die Berichte von »Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel«, wie der vollständige Untertitel der ersten Ausgabe lautete. Als Blumenstücke fügte er zwei kleinere Arbeiten bei, von denen wir die erste bereits kennen. Es ist die »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei«. Jener Aufsatz, den er einst in ursprünglicher Fassung als Rede des toten Shakespeare an Herder geschickt hatte. Das zweite Blumenstück ist die der Fürstin Lichnowsky gewidmete kleine Erzählung »Der Traum im Traume«. Er träumt, er stünde in der zweiten Welt, und die Mutter Gottes sehne sich nach der Nähe des Menschengeschlechtes. In einem Traum wird die Erde herbeigezogen, und Maria erlebt den Schmerz der Auseinandergerissenen und den Schmerz des Greises, der nicht sterben kann, und den Schmerz des zu früh Abgerufenen. Aber der Traum zeigt der Himmelsmutter auch die Seligkeit des irdischen Mutterglücks. Von der schönen Entzückung wird sie erweckt und fällt sanft erbebend um ihren eigenen Sohn. Und auch den irdischen Träumer weckt die Entzückung. »Aber nichts war verschwunden als das Gewitter: denn die Mutter, die im Traum das kindliche Herz an ihres gedrückt, lag noch auf der Erde in der schönen Umarmung – und Sie lieset diesen Traum und verzeiht vielleicht dem Träumer die Wahrheit.« Man erkennt die Dedikation an die fürstliche Mutter, mit deren verzärtelnder Erziehungsmethode übrigens Jean Paul ebensowenig wie der Prinzenerzieher Hofrat Schäfer sympathisierte.

Das dem zweiten Bändchen beigegebene »Fruchtstück« greift auf die Personen des »Hesperus« zurück. Es handelt sich um einen Brief des Doktors Viktor an Kato, den einen jener drei englischen Brüder aus dem »Hesperus«. Fast sämtliche Personen des Romans machen am 20. März, also einen Tag vor Jean Pauls Geburtstag, der zugleich das Fest des beginnenden Frühlings ist, eine Kahnfahrt auf dem Rhein. Außer den beiden andern englischen Brüdern sind noch Klothilde und Jean Paul anwesend. Man entsinnt sich, daß Jean Paul den Schauplatz nach dem Südwesten Deutschlands verlegt hatte, um den von der Revolution ergriffenen Ländern näher zu sein. Den Hauptinhalt der kleinen Schrift bildet ein Gespräch »Über die Verwandlung des Ich in das Du, Er, Ihr und Sie«, also um die Frage des Altruismus und der Duldsamkeit. Echt Jean Paulisch wird als die »letzte und beste Frucht, die spät in einer immer warmen Seele zeitigt«, genannt die »Weichheit gegen den Harten – Duldung gegen den Unduldsamen – Wärme gegen den Ichsüchtler – und Menschenfreundschaft gegen den Menschenfeind«. In einem mythischen Erfassen des eigenen Geburtstags klingt die Schrift aus, die wohl eine der schwächeren Jean Pauls ist und dennoch eine Summe von dichterischen Schönheiten in sich vereinigt.

Außerdem ist dem Buch noch ein kleines »Intelligenzblatt der Blumenstücke« beigefügt, nämlich ein Dank an »Septimus Fixlein«. Unter diesem Pseudonym hatte ein unbekannter Verehrer Jean Paul nach dem Erscheinen seines »Hesperus« eine für seine damaligen Verhältnisse beträchtliche Geldsumme zugehen lassen. In der zweiten, 1817 erschienenen Auflage konnte mitgeteilt werden, daß der unbekannte Freund niemand anders als der gütige Dichtervater Gleim gewesen war.

Die wichtigste Beigabe des Romans aber war die Vorrede. Sie erzählt, wie der Dichter am Weihnachtsabend 1794 in der Stadt Scheerau (bekanntlich die Residenz in der »Unsichtbaren Loge«) zu dem Kaufmann Jakob Oehrmann in Scheerau (wir kennen ihn aus der »Salatkirchweih in Obersees«) eintritt, um ihm wichtige Wiener Briefe zu bringen. Wie ein idyllisches Verhältnis ihn mit Oehrmanns Tochter Pauline verbindet. Diese Tochter, die der Vater in die Walkmühle seines Geschäfts eingespannt hat, darf nämlich keine Bücher lesen, und so verdorrt ihre arme kleine Seele. Jean Paul aber ist bei seinen Besuchen ihre Leihbibliothek. Er erzählt ihr nämlich alle Romane, die er gerade unter der Feder hat, und so auch den gegenwärtigen, nachdem er den Vater durch Gespräche über Philosophie und Literatur eingeschläfert. Diese Vorrede ist selbst eine Dichtung von echt Jean Paulschem Reiz, aber sie ist mehr: sie will zugleich die tiefste Tendenz seines Schaffens erklären: die gequälten Herzen aufzurichten und zu erlaben. Sein Herz fließt über von Mitleid mit diesen vom Leben zerzausten Geschöpfen, die von dem geschäftlichen Egoismus des männlichen Geschlechts aufgebraucht werden wie eine geringe Ware. Sie will er erlösen, ihnen ihr Wesen klarlegen und aus den Zerschundenen heimliche Prinzessinnen machen. Wir kennen bereits diese Töne, nicht nur aus den großen Romanen, sondern auch etwa aus seinen Bemerkungen zu dem Programm des Rektors Florian Fälbel, wo er in Cordula, der Tochter des herzlosen und pedantischen Schulmannes, eine solche sanfte, vom Leben und der väterlichen Gewalt geknickte Blume darstellt. Solche Töne sind auch in der modernen Literatur, etwa von Peter Altenberg, wieder angeschlagen worden. Aber was hier eine ästhetische Spielerei ist, hatte bei Jean Paul einen ungeheuer ernsten realen Hintergrund. Im Schicksal seiner Mutter hatte er das Leben dieser unter der Härte der Not verkümmerten Geschöpfe kennengelernt, und vielleicht sah er auch unter seinen Freundinnen manche unter der Gewalt eines ungebildeten rohen Vaters leiden. Wir dürfen bei der Beurteilung dieser Seite des Jean Paulschen Schaffens nicht vergessen, daß er von der Schattenseite des Lebens herkam und die Macht der niederdrückenden Armut kannte. Was heute als dekadenter Hang, sich auszuleben, sich darstellt, das war in Jean Pauls Leben furchtbare Wirklichkeit. Überall lebten sie rings um ihn herum, diese Pauline Oehrmanns, in den kleinen Städten und Dörfern des Fichtelgebirges von jedem geistigen Dasein abgetrennt. Seit seine dichterische Kraft durchgebrochen war, kannte er keine höhere und beglückendere Aufgabe, als diese niedergedrückten Geschöpfe mit dem erquickenden Tau seines Wortes aufzurichten. Auch hierin war er der Dichter der Armen, und seine Hauptwirksamkeit beruhte auf der gewaltigen Stimme, mit der er die vom Leben Erdrosselten auf die vollbesetzten Tische der Lebensfreude hinwies. »Meine jetzige Fähigkeit, den Mädchen zu vergeben. O Gott, mache mich sanfter und fester zugleich!« schrieb er einmal in sein Tagebuch zur Zeit, als er sich von Karoline löste.

Unmittelbar nach der Vorrede für den »Siebenkäs« erfaßte ihn die Welt Weimars. Unmittelbar nach Weimar kehrte er in der Vorrede zur zweiten Auflage des »Quintus Fixlein« in diese Welt zurück. Hier war der Boden, auf dem er sich mit dem Geist seiner Zeit auseinanderzusetzen hatte, auf dem allein er »sanfter und fester zugleich« werden konnte.

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