Hesperus

Am 29. Februar 1792 war die »Unsichtbare Loge« beendet. Anderthalb Jahre lang hatte Jean Paul mit dem Stoff gerungen. Zweifel über Zweifel kamen ihm, immer wieder suchte er dem allzu großen Vorwurf in andere Arbeiten auszuweichen. »Wuz«, die »Mondfinsternis«, die phantasierende Geschichte: »Der Mond«, »Rektor Fälbel«, »Amtsvogt Freudel« – es waren alles Anzeichen des schweren Ringens gewesen. Nach welcher Seite hin später Jean Paul sein Werk ausbauen mochte, in jenen anderthalb Jahren, da er mit der »Unsichtbaren Loge« rang, war der Grund dazu gelegt worden. In dieser Zeitspanne, da ihm die Berührung mit der Kinderseele immer neue Kräfte zuführte und hinwegnahm, wurde der Umkreis seiner Welt zum erstenmal völlig durchmessen. Sein Drang nach weltumfassenden Riesenentwürfen setzte sich gegen das eng umfriedete »altfränkische« Element in ihm ab. Rein auf zarteste Empfindung gestellte romantisierende Poesie gegen den gestrafften epischen Stil. Aufklärung, Sturm und Drang, beginnende Romantik wirbelten in seinem Innern durcheinander. Was sich später in drei Seiten des deutschen Geistes zerlegte, bei ihm war es noch verbunden und verschmolzen und suchte nach dem angemessenen Stil in Leben und Werk. Fülle und Zucht spannten sich als Pole gegeneinander.

Am 25. Februar, als das Manuskript noch Lücken aufwies, übersandte er es an Otto. Wahrscheinlich fehlte noch der Schluß, der durch Fenks Brief über Gustavs Gefangennahme und Ottomars heroischen Entschluß zu den nächsten Teilen hinüberleiten sollte, die dann nie mehr geschrieben wurden. Der Brief an Otto vom 25. zeigt jedenfalls, daß Jean Paul die Arbeit für beendet ansah. »Endlich ist nach einem Jahr die konvulsivische Geburtszeit meines Romans vorüber. Ich wollte Dir tausend Dinge sagen; folglich kann ich gar keines. – Wo fang ich an? – In der künftigen Woche, wo ich nichts zu tun habe, will ich über meinen und alle Romane reden. – Apropos: auf dem Titel des meinigen steht mit »romantische Biographie«. – Ich konnte es nimmer erwarten, ihn Dir zu geben – also bekömmst Du ihn mit allen Lücken, mit allen Mängeln, die ich selber sehe und aus Minuten-Armut stehen lassen muß, und mit leeren Seiten und ohne satirische und philosophasterische Depressionen. Ich will es doch noch einmal sagen: daß ich ihn noch nicht korrigiert habe und daß die letzten – der erste Ausbruch aus meiner Konzeptfeder sind. – Wie ein Vieh habe ich diese Woche geschrieben – der Appetit ist längst fort – je näher man dem Ende kömmt, desto krampfhafter schreibt man und ich, der ich sonst alle 2 Tage schrieb, brütete täglich 2 mal daran.«

In rasender Spannung wartet er auf das Urteil des Freundes, hofft, daß Otto ihm bis zum nächsten Sonnabend geschrieben haben werde. Zwei Tage später setzt er den Brief fort. »Ich wollte noch 1000 Dinge sagen – meine unvorteilhafte Lage für einen Romanschreiber – daß ich ferner keinen einzigen lebenden Charakter brauchen können, kaum etwas vom alten Oerthel ausgenommen – daß ich leider die obersten Stände, die ich selber nicht gesehen, zu schildern mich erfrecht . . . und daß ich alle Szenen, sie mögen immer meine Kräfte überstiegen haben, doch geschildert, anstatt daß andre darüber wegspringen. Denn es gibt eine Menge Mittel, den Leser um die Schilderung mißlicher Szenen zu bringen. – Übrigens ist dieses Pack ein corpus vile, an dem ich das Romanenmachen lernte: ich habe jetzt etwas besseres im Kopfe! – ist an den auf anderes Papier geschriebenen Szenen nichts – dem Eintritt aus der Erde in die Erde – an der Szene auf einem Berg in einem Park während eine Orgel geht – an denen mit der Residentin, die mich die meiste Mühe gekostet und noch größere kosten werden – an der Badzeit, an dem Tage auf der Molukke Teidor – so ist der ganze Bettel nichts wert. – Bloß die zwei Hauptcharaktere hatt ich darin zu entwickeln Zeit. Behandle mich mit Strenge, aber doch nur mit so vieler als der Wert des Buches aushält: hält er gar keine aus, so mußt Du mich loben. – Wenn nur die – Tage weg wären! Ich versichere Dich, ich werde zu Hause ordentlich erröten wenn ich mir denke, jetzt ist er da, jetzt da!« Wenige Tage darauf legte er die Feder aus der Hand. »29. Februar«, heißt es im Tagebuch. »Am Tage nach dem Schaltjahr war das letzte Blatt meines Romans geboren, dessen Bildung ein Jahr dauerte.«

Noch einmal waren während des Briefes an Otto die Hauptszenen des Romans an ihm vorübergezogen, von Gustavs romantischem Eintritt auf die Oberfläche der Erde an der Hand des freundlichen Genius bis zu jener Sommernacht in Dr. Fenks Häuschen in der künstlichen Südsee. Man sieht, er hatte diese Szenen auf besonderem Papier gesondert ausgearbeitet. Gleichzeitig bedeutete der Brief aber auch bereits die innere Loslösung von dem Werk, mit dem er, wie er schreibt, ein Jahr, in Wirklichkeit aber über anderthalb Jahre gelebt hatte. Und doch war die unter dem Schreiben erwartete Befreiung nicht eingetreten. Zu schwer lastete das Schicksal seiner früheren Bücher auf ihm. Konnte er anders denken, als daß nun wieder eine Zeit bitterster Enttäuschungen vor ihm lag? Verlegersuche, Zurückweisungen, wie sie seit den »Grönländischen Prozessen« sein Schaffen begleitet hatten. Hinzu kam eine steigende Unrast, die sein Dasein aufwühlte. In der »Unsichtbaren Loge« hatte er die Liebe zu Beate geschildert, wie er sie an dem verstorbenen Jugendfreunde Oerthel beobachtet hatte. Nun brannte er selbst, nicht von Liebe, aber von Sehnsucht nach ihr. Übermächtig stieg sein Verlangen nach einem Menschen, der ihm, dem er angehören konnte, hoch. Ein Thema, das mehr und mehr sein Schaffen, seine Briefe und seine Gespräche durchdringt. Die furchtbare Einsamkeit des Alleinseins erschreckte ihn. Er wurde nicht müde, sich auszumalen, wie er in die fremde Welt eines andern Wesens hineinströmen würde. Je ferner er schon durch seine unvollkommene wirtschaftliche Lage der Begründung eines eigenen Hausstandes war, desto mehr sehnte er sich nach bürgerlicher Gebundenheit und menschlichem Glück in vollkommener Gemeinschaft. Um Renate Wirth und Amöne Herold kreisten seine Gedanken, mit Helene Köhler versuchte er jene höchste innere Übereinstimmung zu gewinnen, die ihm vorschwebte. Aber er mußte bemerken, daß unter den Hofer Freundinnen keine war, die jenen Gipfelpunkt höchster Vollkommenheit, wie er ihn ersehnte, bedeutete. Damals war es ihm noch nicht klar, daß seine Sehnsucht jede Wirklichkeit überstieg, daß er einem Phantom nachjagte, das die Erde ihm nicht bieten konnte. Daß nur die Dichtung ihm, dem Sehenden und alles Wissenden, die Erfüllung darreichen konnte, die die Erde nur dem weniger Durchschauenden bietet. Es ist ein Beweis von der kosmischen Verankerung seines Ungenüges, daß ihm später die glänzenden Frauengestalten der großen Welt nicht geben konnten, was er bei seinen bürgerlichen Freundinnen vergeblich suchte.

Eine quälende Spannung kam in den Verkehr mit ihnen. Zerwürfnisse mit den Eltern zerrissen das harmonische Verhältnis. Sein Mangel an einer festen und gesicherten Stellung im bürgerlichen Leben mochte verwirrend hinzukommen. Er selbst bebte vor einem bindenden Wort zurück oder fühlte sich zurückgestoßen. Voll schwellender Empfindungen lief er von Schwarzenbach in die Stadt. »Im Konzert, Wut zu Tanz«, lautet eine der zahlreichen Tagebucheintragungen. »Vertraulicher Dialog mit Renate.« Und einige Monate später: »Die Liebe zur Heroldin wächst oder entsteht.« Aber das heilige Ineinanderschmelzen von zwei Welten blieb ihm versagt. Um so mehr mußte es seine nächste Dichtung durchschwingen. Schon die »Unsichtbare Loge« hatte den schicksalhaften Bann der Liebe zu gestalten versucht. Aber das Zueinanderfinden von Gustav und Beate war doch noch andern, mehr erzieherischen Zielen untergeordnet gewesen. Noch nicht genug Hindernisse waren zwischen den Liebenden aufgetürmt. Im Grunde sollte ja Beate nur nach dem unausgeführten Plan des Ganzen eine Vorstufe für Gustav bedeuten. In dem Augenblick, da die feindlichen Gewalten sich gegen die Liebenden wandten, war Beate ja schon dem Tode anheimgegeben und die Kraft des Dichters im ersten Anlauf zerstoben. Noch einmal ein solches Schicksal anspinnen und durch alle Hindernisse hindurch zur seligen Erfüllung führen; die im ersten Roman noch wahllos schweifenden Gedanken bewußter dem fester erfaßten Ziele hinzuwenden – das mußte nach den inneren Spannungen, die sich in der »Unsichtbaren Loge« nur teilweise entladen hatten, reizen. »Ich habe jetzt etwas besseres im Kopfe«, heißt es schon in dem Briefe an Otto vom 27. Februar, also zu einer Zeit, als die »Unsichtbare Loge« noch nicht völlig beendet war. Nichts anderes konnte dieses »bessere« sein als ein neuer Roman, sein zweiter, der »Hesperus«.

Und doch wären die ersten Blüten dieser Ranken im Frühfrost der vergeblichen Anstrengung dahingesunken, wenn nicht von Karl Philipp Moritz die erste begeisterte Anerkennung aus der großen Welt gekommen wäre, und mit ihr zugleich die endgültige pekuniäre Entlastung und Befreiung von den drückenden Sorgen. Es wurde bereits im vorletzten Kapitel angedeutet, mit welcher Begeisterung Moritz Jean Pauls Brief und das Manuskript seines ersten Romans aufnahm. Nur schwer war er von seinen Angehörigen zur Lektüre bewogen worden. Als er aber endlich Richters Brief aufmachte, so heißt es in der Schilderung dieses Vorgangs von seinem Bruder, da hellte sich bei den ersten Zeilen sein Auge auf. Kaum konnte er das Manuskript von der Post erwarten, so tief hatte ihn die innere Verwandtschaft mit dem Briefschreiber gleich bei den ersten Worten gepackt. Das sei kein unbekannter Gelehrter, meinte er, das sei Goethe, Herder oder Wieland, irgendeiner, der ihn durch eine fremde Hand in Versuchung führen wolle. Und als er einige Blätter des Romans gelesen hatte, rief er enthusiastisch aus. das begreife er nicht; das sei noch über Goethe; es sei ganz etwas Neues! Zwei Tage brachte er über der Lektüre zu und las am dritten, dem ersten Pfingstfeiertage, auf dem Observatorium, das er sich auf dem Dach seines Hauses hatte anbringen lassen, mit begeisterter und gerührter Stimme die Auferstehungsszene Gustavs seinen Brüdern und seiner Braut vor.

Jean Paul hatte, als er das Manuskript an Moritz schickte, nicht ahnen können, daß Moritz sich gerade mit der Schwester des bekannten Buchhändlers und Verlegers Matzdorff verlobt hatte und so in der Lage war, seiner Begeisterung sogleich durch Vermittlung eines glänzenden Verlagsangebotes Ausdruck zu geben. Im August sandte Jean Paul dem neugewonnenen Freunde den »Wuz« nach, der dem Roman in der Buchausgabe angehängt werden sollte. Moritz antwortete begeistert: »Der Wutz' Geschichte verfaßt hat, ist nicht sterblich! – wir werden und müssen uns bald sehen! – Ihnen sind hier mehr Herzen eröffnet, als Sie wissen und glauben!« Zugleich sandte Moritz im Auftrag seines Schwagers die ersten 30 Dukaten von den 100, die dieser als Honorar angewiesen hatte.

Die »Grönländischen Prozesse« wie die »Teufelspapiere« waren anonym erschienen. Der Verfasser hatte sich gescheut, seinen Namen mit den witzigen Büchern, die ihm persönlich den Vorwurf der Herzlosigkeit eintragen konnten, in Verbindung zu bringen. Oder hatte er in intuitiver Voraussicht des Kommenden den endgültigen Schriftstellernamen für die Bücher aufgespart, in denen er in endgültiger Gestalt dem Publikum unter die Augen treten würde? Er fühlte, daß die »Unsichtbare Loge« das erste der Bücher einer langen Reihe war, die seinen Namen unsterblich machen würden. Unter welchem Namen wollte er in diese Unsterblichkeit eingehen? Er wählte: »Jean Paul«. Bereits im Mai 1792, noch ehe er also das Buch an Moritz abgesandt, hatte er sich in einer Gelegenheitsarbeit, einem Hochzeitsgedicht für eine Freundin von Friederike Otto, der Schwester Christians, als »Jean Paul« bezeichnet. Es war der Gleichklang mit den Vornamen Rousseaus, der unter der abgekürzten Bezeichnung Jean Jacques über die Herzen Europas wie ein Sturm dahingefahren war. Kein größeres Vorbild konnte er wählen als den großen Franzosen, den einzigen »großen Menschen« der Zeit, den sein Herz groß macht über die Gewalt seines Geistes hinaus, wie Jean Paul es bereits in der Leipziger Zeit formuliert hatte. Wie Rousseau wollte er als Sturmwind über die Erde dahinbrausen, an den Herzen und den menschlichen und staatlichen Institutionen rüttelnd. Sein bürgerlicher Name Richter schien ihm nicht zweckentsprechend, jedenfalls konnte er ihn sich nicht mehr vorstellen ohne in Verbindung mit dem vorgesetzten »Jean Paul«. Als Jean Paul bezeichnete er sich also auf dem Titelblatt seines ersten Romans, und nur die Vorrede mit der Unterschrift »Jean Paul Friedrich Richter« und der Ortsbezeichnung »Auf dem Fichtelgebirg« lüfteten den Schleier der Anonymität. Jean Paul wollte also wohl zunächst seinen Schriftstellernamen französisch ausgesprochen wissen, aber bald bürgerte sich das gut deutsche »Paul« ein, und es ist bezeugt, daß in des Dichters eigener Familie die Aussprache »Paul« und nicht etwa »Poll« üblich war.

Mit einer ungleich größeren Gewalt als vor einigen Jahren durch Karoline Herder sah sich der Dichter durch Moritz in der Gemeinschaft der großen Geister der Zeit willkommen geheißen. Weit sprang sein Herz auf und rief der eigentlichen Heimat des Genies den Gruß zu. Es war, als sänken alle lästigen Bande, die ihn an untergeordnete Menschen gebunden hatten, zurück. Mit einem Schlage sah er sich in höhere Zusammenhänge gehoben. Der Verfasser des »Anton Reiser«, der Freund Goethes, war sein Freund, mehr noch: sein begeisterter Bewunderer geworden. Die bedeutendste aus dem deutschen Pietismus herausgewachsene Erscheinung hatte, wenn auch nur einen Augenblick lang, sein Werk über Goethe gestellt. »Sie sollten den tonigten böotischen Boden kennen, in den mich das Schicksal gepflanzt und gedrückt, die allgemeine Kälte um mich her, gegen alles was den Menschen über den Bürger hebt.« Mit weit offenen Armen wächst er Moritz entgegen. Erschütternd ist das Geständnis: »Wenn Sie mein Land kennten: so könnten Sie verstehen, wie einem Bewohner desselben 2 glühende Blättchen taten!« Jetzt erst wurde er sich des Drückenden und Unwürdigen seiner Lage ganz bewußt, und im Augenblick der Freude mochte er sogar ungerecht gegen seine Freunde und Freundinnen werden und gegen den Naturklang, den ihm sein Land bot, in dem er aufgewachsen war und der das Höchste in ihm entbunden hatte. »Kuhglocken wirkten oft so viel auf mich als Harmonikaglocken; aber es kam nicht von dem, was ich dabei hörte, sondern was ich dabei dachte.« Aber wieviel Tieferes hatten die Kuhglocken der heimatlichen Berge in ihm ausgelöst als die fehlenden Harmonikaglocken der Romantik!

Moritz wurde mit einem Schlage sein Vertrauter. Auf einer weit höheren Ebene konnte er ihm sich mitteilen als Otto. Er wußte, daß Moritz die Seligkeit schöpferischer Stunden verstand. An ihn und nicht an Christian Otto schickte er unmittelbar nach Fertigstellung die »Sieben letzten Worte«, die den Beschluß des »Wuz« und damit des zweiten Bändchens der »Unsichtbaren Loge« machen sollten. »Ich werde selten eine Stunde haben, wo mein Herz so hoch schlug, wo mir fast alle Sinnen so vergingen wie in der Geburtsstunde jener 7 Worte«. Mochte Ottos Urteil in vielem einzelnen noch so treffend sein, jetzt trat es zurück hinter der Seligkeit, von einem Dichter gleich ihm selber verstanden zu werden.

Erst mit Moritz' Freundschaft erhielt der Roman für Jean Paul seine befreiende Kraft. Noch voll von der Stimmung der Tage in Lilienbad, frei von drückenden Sorgen gab er sich dem Genuß der so lange ersehnten »Sabbathwochen« hin, wie er sie bald in seinem nächsten Buch schildern sollte. Fast das erste war, daß er eine größere Summe des erhaltenen Geldes auf eine Neuausstattung seines Äußern verwandte, und gewiß hat der in den ärmlichsten Verhältnissen lebende kleine Schulmeister allein in dieser Möglichkeit einen Akt der Befreiung genossen. »Liebe Renata,« schreibt er der nach Baireuth zu ihrer Tante gereisten Freundin, »auch Sie müssen von der Seite des Herzens den alten Flausrock erst aus seinem Buche kennen lernen. Jetzt bei so vielem Golde und Silber wäre der Flausrock ein Narr, wenn er vernünftig bliebe; aber das tu ich schon nicht, sondern ich habe über 40 rth. schon aufgewandt, meinen alten Körper und Adam zu konvertieren und zu verzinnen, wie ich denn nächstens Ihnen in Baireuth mich mit Bänderschuhen und dreieckigem Hut und Gesicht präsentieren will. – Es ist alles mein Ernst und in 14 Tagen erblick ich die Eremitage und die Renata, die vielleicht nicht viel hineinkömmt.«

Er hielt Wort. Schon am 2. September schreibt er ihr aus Baireuth ein französisches Billett. Am Tage vorher ist er zu Fuß, um 4 Uhr morgens »traurig unter dem Mond« aufbrechend, mit seinem Bruder angelangt. »Froh Abends«, berichtet das Tagebuch, »Lebensläufe geholt.« Wahrscheinlich also hat er noch einmal Hippels »Lebensläufe in aufsteigender Linie«, dieses Urbild des sentimentalen Romans, durchflogen, ehe er sich an sein zweites Werk machte. Der geplante Besuch der Eremitage wird durch ein Gewitter verhindert, aber am nächsten Morgen wandert er, an der Rollwenzlei vorüber, die ihm später so vertraut werden sollte, nach dem fürstlichen Lustschloß mit seinem Zaubergarten, die Stätten aufsuchend, an denen er Teile der »Unsichtbaren Loge« hatte spielen lassen. »Traurigkeit, daß ich schon fort muß . . . . Vormittag ging mein geliebter Eleve Oerthel in die andere Welt . . . Die Empfindung unserer Lebensflucht drückt mich nieder.«

Wieder war einer zu den Schatten hinabgestiegen, der ihm nahegestanden hatte. Eremitage, Renate, die Vergänglichkeit des »Menschensalpeters, der anschießt«, wie er es in den »Sieben letzten Worten« zum »Wuz« ausdrückt – aus alledem wob sich die Stimmung seines ersten Aufenthalts in Baireuth, den er mit wachen Sinnen genoß. In wenigen Tagen schreibt er Renate bereits wieder aus Schwarzenbach. »Baireuth und meine paar vertrauten Minuten darin liegen jetzt vom Abendrot der Erinnerung vergüldet vor mir.« »Gute Renate, ich bin heute zu ernsthaft. Denn am nämlichen Montagsmorgen, wo ich in der Eremitage künstliche Ruinen bestieg und bewunderte, fiel 12 Stunden weit das schönste Herz, das noch über diese kotige Erde ging, in ewige Ruinen zusammen – – mein guter Oerthel starb an Blattern. Niemand als ich weiß, was in seinem Kopf und Herzen, die nun auf immer der Sargdeckel und die Töpener Kirche überdeckt, für Tugend und Kenntnisse und Knospen und Blüten verborgen lagen. Sehen Sie, so sieht man, eh man 30 Jahre alt ist, die Lieblinge unsers Innern einsinken – so steht vor dem verarmenden Menschen ein Grab ums andere auf, und der Greis sieht die Sonne bloß unter Totenhügeln auf- und untergehen.« Der Tod des einstigen Schülers drückte ihn in eine jener Stimmungen nieder, über die er an Moritz schrieb: »Ich habe Stunden, nicht Tage, wo Ottomarische Ideen mich niederfällen.«

Schon während seines Baireuther Besuchs hatte Jean Paul die Arbeit an seinem zweiten Roman, dem »Hesperus«, begonnen, aber die stärksten stofflichen Anregungen sollten ihm erst während des Schreibens kommen. Renate stand an den Toren des Werks, aber im Verlauf der Arbeit wurde sie von Amöne Herold abgelöst. »Ach, Dir allein war meine brennende Seele offen, als der Hesperus aus ihr quoll«, schrieb er einige Jahre später an Amöne, die während der Hesperusarbeit mehr und mehr von ihm Besitz ergriff. Und hier scheint es sogar, als wenn Jean Paul zum erstenmal von wirklicher Leidenschaft ergriffen worden. Unter den Freundinnen war Amöne die am wenigsten schöne aber klügste. Vielleicht daß die zurückhaltende Sprödigkeit ihres Wesens den Dichter am heftigsten anzog und ihn sogar weiter vortrug, als er wollte und Amöne es zu gestatten geneigt war. Es gab Mißhelligkeiten und erregte Briefe. Jean Paul glaubte sich selbst bestrafen zu müssen damit, daß er sie nicht mehr sieht. Aber es ist unmöglich. »Ich würde dann nicht bloß viele fremde, und meine eigenen Freuden zerrütten, Zusammenkünfte stören und alle schönen Örter fliehen müssen: sondern dieser Entschluß wäre nichts als eine versteckte Absicht, mich zu rächen und Sie zu quälen. – – Das will ich nie, das kann ich nie, das hat die Person nie verdienet, die mir so viele schöne Stunden gegeben und der ich nichts vorzuwerfen habe als meine Ungenügsamkeit.« »Es war bloß Unsinn der Empfindung, zu versichern, daß ich nur die Wahl hätte zwischen Haß und Kälte. – Es ist noch jetzt Unwahrheit, zu versichern, daß ich eh ich noch alle unsere Gegenden verlasse, mein eigenes Herz bezwungen haben werde.« Das Tagebuch berichtet ergänzend von »leidenschaftlichen Szenen mit Amöne«. »Ich machte von den Zeichen ihrer Freundschaft zu eigennützige Auslegungen.« Einige Tage später: »Das Spiel ist aus. Ich zerrütte alles durch meine Wut, alles entschieden zu sehen.« »16. Jenn. Merkwürdigster Abend meines Lebens, da ich im Konzert unter dem Taumel, den Musik und Tanz über mich häufte, in ihr eine doppelte Entdeckung machte und ein vom Schicksal zerschnittenes Herz wider meinen Willen zusammenquetschte. – 17. Ging ich am Morgen zu ihr: rote Augen und die Fiebernacht zeigten die jammernde Seele. – 19. Jenn. sagt ich meinem teuren Freund die Entdeckung. – Mein Zurückprallen, da meine Vermutungen falsch und meine Hoffnungen zertrümmert waren. – Ich rase zu ihr und bekenne alles und will mich trennen von der geliebten Gestalt auf ewig. Ich laufe durch die Nachtkälte hin und her – mit den bittersten Tränen; lege mich im Finstern aufs Ottoische Klavier. Die Augen wurden von etwas anderm bedeckt als vom Schlaf.« Endlich im Februar: »Völlige Gleichgültigkeit gegen sie.«

Erst allmählich lief nach diesen Stürmen das freundschaftliche Verhältnis wieder in die alten Bahnen ein. Aber etwas blieb zwischen ihnen doch zerrissen. Die Zeit seiner sich anspinnenden Liebe mit ihrem Zauber lag ungelöst hinter ihm. Solche Abende wie der des Jahresendes blieben in seinem Herzen haften. Damals hatte er in das Tagebuch eintragen können: »Blieb in Herolds Hause bis 2 Uhr; schönste Abend meines kargen Lebens; ein gesungenes Wort von ihr ›Die Tage sind nicht mehr‹ beklemmt mich zu Tränen . . . Schöner letzter Tag. Neujahrswunsch an H.« Als er von diesem schönsten Abend nach Hause kam, hatte er ihr noch in der Nacht den erwähnten Neujahrswunsch geschrieben. »Für meine Freundin Amöne am Ende des Jahres 1792.« Es eine kurze poetische Erzählung »Der Genius«. In der Mitternacht, die zwischen zwei Jahren liegt, wird die Sanduhr des alten umgestürzt – Alle Genien der schlafenden Menschen ziehen in den Mond und fallen nieder vor dem Throne des Höchsten. Jeder Genius führet hinter sich die 365 Wolken, durch die er seinen Menschen zog. Amönes Genius fleht zum Höchsten: da der Mensch doch eine versunkene Wasserpflanze ist, die ihre erschütterten gepreßten Blüten mühsam über die Wellen hebt, ihn über seinen Schützling fallen zu lassen wie eine finstre Wolke, die nicht weichen will, in der Gestalt eines Gedankens, in der Gestalt eines Liedes, in der Gestalt eines Traumes mit liebendem Zittern und sie liebend zwingen zu weinen, damit er ihr das Zeichen gebe, daß ihr guter Genius sie umarmt habe. »Das Schicksal antwortet nie.« – »Mein Genius fliegt neben deinem und seine Wolken decken, wenn Güsse in ihnen liegen, einen tiefen Schatten auf die des meinigen und einen Purpurwiderschein, wenn Abendgold sie überzieht.«

Wenige Wochen später kam es zu den »leidenschaftlichen Szenen«, die die einzige große Liebe seiner Jünglingsjahre begruben.

Es war ein ungeheures Glück für Jean Paul, daß er im »Hesperus« die Stimmung solcher Abende, wie den des Jahresendes mit Amönens Gesang, unmittelbar wiedergeben konnte. Als Victor Klothilde singen hört, da packt ihn das gleiche Weh und treibt ihn in den Garten hinaus und ringt ihm einen Brief ab, diesmal nicht an Klothilde selber, aber an ihren gemeinsamen Lehrer Dahore oder Emanuel. Und wenig später wiederholen sich die leidenschaftlichen Auftritte, wiederholt sich der ungeheure Schmerz um die ewige Aussichtslosigkeit seiner Liebe zu der Angebeteten, die dem Freunde angehört. Während er den »Hesperus« schrieb, führte auch das Schicksal auf seltsame Weise den Roman fort, in dem er selbst mitspielte. Ja, als hätte der Dichter seherisch in das Innere seiner Gestalten und ihrer Vorbilder geblickt, schien er im Buche nur vorwegzunehmen, was sich gleich darauf in Wirklichkeit zutrug. Die seltsame Einkleidung des Romans: daß ihm nämlich die Begebenheiten erst während des Schreibens zugetragen werden, entfernt sich gar nicht so weit von der Wirklichkeit. Zwei Jahre nach jenem Silvesterabend im Heroldschen Hause schrieb Jean Paul selber den über Amönens und Christian Ottos Liebe entscheidenden Brief an den Freund. Er übersandte ihm Tagebuchblätter, die Amöne ihm anvertraut hatte, und schrieb dazu: »Ich setze zu den Schilderungen ihres Tagebuchs keine dazu; jetzt wirst Du glauben, daß ihr gespanntes trübes Aussehen in Gesellschaften nicht verheimlichter kämpfender Groll sondern daß er das Zurückpressen der überwältigenden Rührung ist. – Gib mir Deine Antwort wie Du willst, mündlich, schriftlich, schweigend; aber verzeih mir diese eiligen ohne Wage des Ausdrucks hingeschriebenen Bogen. – Es war meine Pflicht: ich konnte es nicht länger ansehen dieses allmähliche Versinken aus einem Schmerz in den andern, diese zergehende Erweichung des Herzens, in das jetzt die Töne des Konzerts zu schmerzhaft tief einschneiden und das in allen Büchern nicht mehr die kleinste Ähnlichkeit mit seiner Geschichte aushält.«

Am gleichen Tage schrieb er an Amöne selbst, und seine Worte lesen sich wie eine Charakterisierung Klothildens, der Heldin des »Hesperus«: »Nur ich und noch jemand, den ich Ihnen wohl nicht zu nennen brauche, erkennen Sie vielleicht ganz, und vorher war es Wernlein, Ihr letzter und einziger Lehrer, der der verkannten Seele ihre Rechte gab. Nur das beste Herz konnte nicht zum bittersten werden unter den immerwährenden pädagogischen Mißhandlungen und unter lauter sarkastischen Umgebungen. Ich sehe und bewundere Ihre stille Ergebung in die väterliche Härte, Ihre unbegreifliche Geduld mit allen Giftmischereien der Anspielungen und Taten, Ihre häusliche und außerhäusliche Sanftmut mit Ihrer gewöhnlichen Raschheit und Lebendigkeit, über die Sie so viele Gewalt bei kränkenden Zufällen haben. Sie sind aus meiner Bekanntschaft die einzige Ihres Geschlechts, der ich jedes Wort heilig glauben darf und die in den mißlichsten Lagen zu keiner Wendung Zuflucht nimmt als höchstens zum Schweigen . . . Verschiedene Stellen des von Ihnen erhaltenen Tagesbuchs schrieb ich ohne Ihr Wissen ab, aber mit Ihrem nachfolgenden Ja–Nein, obwohl ohne Ihren Auftrag gab ich sie weiter. Ich habe wie vor Gott gehandelt und auch Otto nichts verborgen; und dieser Brief ist meine erste gewißgute Handlung in diesem Jahr.«

Auch die äußeren Lebensumstände Klothildens sind denen der Freundin nachgebildet. Auch Amöne hatte unter der »väterlichen Härte« zu leiden. Ihr Vater war, wenn auch nicht ohne Witz und Geist, so doch ein unerträglicher Tyrann in seinem Hause, und es bedurfte der ganzen Sanftmut und Seelenstärke Amönens, einer Katastrophe auszuweichen. Wenn auch nur diese wenigen Andeutungen vorhanden sind, können wir doch annehmen, daß der Vater sie für seine Zwecke rücksichtslos ausnutzte und seine Tochter in die schwersten Konflikte hineintrieb. Aber noch ein anderer Hinweis in diesem Briefe lenkt unsere Aufmerksamkeit auf sich: der auf Amönens einstigen Lehrer, Friedrich Wernlein, der zur Zeit, als Jean Pauls und seine Freundschaft begann, bei Herolds Hauslehrer war. Wir entsinnen uns des großen und bedeutenden Briefes an ihn, der die Arbeit an der »Unsichtbaren Loge« einleitete und in dem Jean Paul das Fazit seines bisherigen Lebens zog. Wernlein war der einzige seiner Freunde, der ihm an philosophischer Bildung gleichkam. Mit Wollust stürzte sich der Dichter in den Briefwechsel mit dem jungen Kandidaten, der ihm innerlich fast noch näher als Otto stand und der vielleicht überhaupt der einzige der Höfer Freunde war, mit dem er sich in seinen letzten Zielen verbunden fühlte. (Otto war ihm doch immer mehr ein bloßes Echo der eigenen Worte.) Mannigfache Anschauungen verknüpften die beiden. An Wernlein waren Jean Pauls Ausführungen über die Überschätzung des Studiums der Alten, die hernach in der »Unsichtbaren Loge« ihren Platz fanden, gerichtet worden. In dem Briefwechsel mit Wernlein hatte sich Jean Paul zu seinen philosophischen Überzeugungen durchgerungen. Wernlein wirkte seit Anfang 1791 als Kollaborator am Gymnasium in Neustadt a. d. Aisch, und die plötzliche Entfernung mochte das Bild, das Jean Paul von ihm im Herzen trug, noch verstärken. Jedenfalls war es von jetzt ab einer seiner Lieblingspläne, den Freund hinter den Bergen aufzusuchen, und wohl auch Amöne bangte sich nach dem verständnisvollen Lehrer, der ihr der liebste gewesen und der ihren starken philosophischen Neigungen reichliche Nahrung geboten hatte. Die beiderseitige Zuneigung zu dem Fernen mußte ein neues Band zwischen Jean Paul und Amöne weben. Wenn auch im »Hesperus« der gemeinsame Lehrer Klothildens und Viktors nicht in allem Wernleins Züge trug, so hat doch Wernlein vieles zu seiner Gestalt gegeben: die philosophische, der herrschenden Zeitströmung abgekehrte Einstellung und die gemeinsame Liebe der Liebenden zu ihm. Und wohl mag es ein Lieblingsplan Jean Pauls gewesen sein, mit der Freundin zu Wernlein zu pilgern, um dort Tage in philosophischen Gesprächen hinzubringen, die er über alles liebte und zu denen sich ihm in Hof und der näheren Umgebung keine Gelegenheit bot.

Aber noch von anderer Seite zog Emanuel oder Dahore Nahrung an sich. Bereits in der »Unsichtbaren Loge« hatte Jean Paul in dem Genius einen idealen Erzieher gestaltet. Der Genius war aus dem Herrnhutismus herausgewachsen, aber er trug doch bereits deutlich Züge, die über den deutschen Pietismus hinaus nach Indien wiesen. So lag es nahe, diese Gestalt ganz in einen indischen Weisen umzuwandeln. Man brauchte damals nicht Welten zu überbrücken wie heute. Vieles im Pietismus neigte dem Indischen sich zu. Wenige Jahre später (1808) begründete bekanntlich Friedrich Schlegel, auch hier wieder einer Anregung Herders folgend, mit seiner Schrift »Über die Sprache und Weisheit der Indier« die deutsche Indienforschung, die in ihrem weiteren Verlauf von so einschneidender Bedeutung für den deutschen Geist werden sollte. Auch Schlegel drang, von der durch Herder inspirierten »Sakuntala«-Übersetzung von Georg Forster angeregt, von der mystischen Erfassung des Protestantismus zu den Indiern vor. Ohne Herder und Schleiermacher wäre dieser Schritt für ihn unmöglich gewesen. Es war nur eine wenn auch höchst geniale und dichterische Vorwegnahme der späteren Entwickelung, wenn Jean Paul seinen dem Herrnhutismus entwachsenden Genius als indischen Weisen auftreten ließ. Inzwischen aber hatte er ja selbst mit einem der bedeutendsten Vertreter des Pietismus, mit Karl Philipp Moritz, Freundschaft geschlossen. Mit der Intuition der Freundesliebe erkannte Jean Paul das Weiche und Schwärmerische in Moritz, soweit es ihn nicht bereits in dessen Büchern, vor allem in dem Roman »Andreas Hartknopfs Predigerjahre«, ergriffen hatte, der zwei Jahre vorher erschienen war. Wenn Wernlein einige der äußeren Umstände zu der Gestalt Emanuel-Dahores hergab, alles übrige empfing der angebetete Lehrer von Moritz, und vollends Moritzens plötzlicher Tod am 26. Juni 1793, also mitten in der Arbeit an dem Roman, mußte seine Gestalt ins Ungeheure vergrößern. Jean Paul empfing die Todesnachricht, als er gerade unvergeßlich schöne Tage in Neustadt und Baireuth hinter sich hatte.

Außer der Todesnachricht fand er in Schwarzenbach die ersten Exemplare der »Unsichtbaren Loge« vor. Zum erstenmal, anders als in den beiden Satirenbüchern, hatte er sich in einer Gestalt herausgestellt, zu der er sich freudig bekennen konnte. Schon im Herbst 1792 hatte er von Baireuth aus an Renate schreiben können: »Mein Roman wird zu Michaelis mit Kupfern von Chodowiezky in Berlin sehr schön gedruckt.« Aber etwas anderes ist es doch – zumal jungen Mädchen gegenüber –, einen Vertrag in der Tasche zu haben oder ein fertiges Buch auf den Tisch legen zu können. In die Erschütterung über den Tod des ungekannten Freundes mischte sich die Freude über die empfangenen Exemplare. Bei dieser Gelegenheit mußte er wohl eines Mannes gedenken, an den er seit fast vier Jahren nicht mehr geschrieben hatte: des Pfarrers Vogel in Arzberg. Als er kurz vorher seine Briefe neu geordnet hatte, waren ihm die Vogelschen wieder in die Hände gefallen. »Meine Jugendliebe zum Jugendfreund Pfarrer in Arzberg kömmt wieder und ich bereue mein eitles und undankbares Betragen«, hatte er dem Tagebuch anvertraut. Vogel beantwortete die Übersendung des neuen Buches mit der alten Herzlichkeit und voller Begeisterung für die »Unsichtbare Loge«.

Inzwischen war die Arbeit am »Hesperus« bereits vorgeschritten. Moritz hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen können, Christian Otto war wieder der einzige und erste Kritiker. Ende Juli oder Anfang August 1793 schickte Jean Paul ihm den ersten Teil: sechzehn Kapitel und einen Schalttag. »Der Tod des Moritz ist am meisten schuld, daß ich Dir das Buch gebe, damit Du mir wieder Lust zum Fortsetzen gibst – zumal da mich eine Person im Buche beständig an ihn erinnert.« Diese Person war natürlich Emanuel-Dahore. »Meine ganze gegenwärtige Seele ist mit allem Inneren, was mich glücklich und nicht glücklich macht, und was Du nicht mit dem äußern kleinen Bürgerleben und meinem äußern Schein vermengen darfst, diese ist so wie die Wirkungen der Tage, durch die ich ging, in diese Blätter und die künftigen hineingedrückt; ich fühle aber täglich mehr, wie jeder Bogen, den ich schreibe, mich fähiger macht, entweder glücklicher oder bekümmerter zu werden.« »Wenn Du hinausgelesen – zumal das was im Januar und Februar geschrieben ist, wo mich Entschluß und Schicksal in einer steten Erschütterung erhielt – so wirst Du mit einem, der seine innere Lage in immer größeres Mißverhältnis mit den meisten äußern bringt und dessen Seelennerven jetzt bloß liegen, weil er sich die Haut davon wegschreibt, so wirst Du mit einem solchen vielleicht eine gelindere Rechnung halten als er selber mit sich halten sollte. Auch dieses wird vorübergehen und wenn man sich weich schreiben kann, wird man sich auch wieder hart schreiben können.« Man entsinnt sich der Ereignisse im Januar und im Februar des Jahres, von denen er schreibt, daß sie ihn in einer steten Erschütterung erhielten. Es war die Liebe zu Amöne und die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, die sie im Gefolge hatte. Die Briefstelle zeigt, daß er unter dem unmittelbaren Eindruck der Geschehnisse über die Begegnung zwischen Viktor und Klothilde geschrieben hatte. Aber die Erschütterungen, die ihm aus dem Freundinnenkreise kommen sollten, waren noch keineswegs beendet. Ende des Sommers verlobte er sich mit Karoline Herold, der Schwester Amönens.

Was ihn an dieses erst fünfzehnjährige Mädchen band, ist schwer zu sagen. Seine Briefe an sie sind weit weniger schwärmerisch als an die älteren Freundinnen. Vielleicht wollte er durch diese Bindung allen Anfechtungen entgehen; vielleicht sich vor einer wieder erwachenden Leidenschaft zu Renate Wirth flüchten, die ihm doch während der ganzen Jahre am nächsten stand. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir diese Verlobung mit Karoline als eine Antwort auf die Verlobung Renatens mit dem älteren der Brüder Otto auffassen. Es war hierbei zu Eifersuchtsszenen gekommen. Christoph Otto hatte beobachtet, wie sich Jean Paul von seiner Braut verabschiedete, offenbar mit einem Kuß, und ihr das Zusammensein mit Jean Paul verboten. Renate mußte ihn bitten, sie nicht mehr zu besuchen. »Hätte ich doch Beredsamkeit genug, ihm ein Verhältnis zu erklären, das er immer mit so falschen Augen betrachtet . . . Leben Sie wohl, – Glücklicher als ich, durch den Besitz einer andern Freundschaft. Darf ich mich auch nie öffentlich Ihre Freundin nennen, so werde ich nie aufhören, mit Ehrfurcht an eine Freundschaft zu denken, die so oft mein Trost war.« Am 9. März 1795 fand die Hochzeit zwischen Christoph Otto und Renate statt. Die neuen Verhältnisse glichen die aufgeregten Wogen allmählich wieder aus, aber nicht ohne daß ein bitteres Gefühl in Jean Pauls Brust zurückblieb.

»Dieser erste Teil«, schrieb Jean Paul im Juli 1793 an Otto über den »Hesperus«, »zwirnt nur das Garn, aus dem ich die Geschichte webe. – Er wird, da ich darin nur für meine Schwelgereien besorgt gewesen, bloß für die Minorität, ja nur für die Minimität sein. – Er wird zu heftig sein. Meine Lieblingsgerichte werden zu oft wiederzukehren scheinen.« Man bemerkt den durchgreifenden Unterschied in der Einstellung des neuen Romans gegenüber der »Unsichtbaren Loge«. Dort wollte Jean Paul ein Weltgebäude errichten. Alle in ihm widerstreitenden Ideen sollten sich zu einem Ganzen runden, der Held den höchsten Zielen zugeführt werden. Diesmal schrieb der Dichter sich ganz persönliche Nöte vom Herzen, schwelgte in großen Empfindungen. Das Thema Liebe, seit dem ersten Romanversuch aus der Muluszeit gewaltsam zurückgedrängt, brach riesenhaft hervor. Was ihn seit dem Silvesterabend erschütterte, ihn seiner selbst nicht mehr mächtig umtrieb, das sollte den »Hesperus« erfüllen. Die »Schwelgereien«, die er sich seit zehn Jahren verboten hatte, hier gab er ihnen Raum im Werk. In der »Unsichtbaren Loge« herrschte die Freundschaft vor, jetzt trat die Liebe an ihre Stelle, und die Freundschaft zwischen Viktor und Flamin wurde sogar durch diese Liebe bedroht, in einem viel höheren Grade als die Freundschaft zwischen Gustav und Amandus durch die Liebe zu Beate. Erst jetzt war Jean Paul fähig, alle Enpfindungen auf ihren Gipfelpunkt zu treiben, da er am eigenen Leibe die Gewalt der Leidenschaften erfahren hatte. So finden wir sein ganzes Erleben vor und während der Niederschrift im »Hesperus« vor. Wie Amöne zwischen Christian Otto und Jean Paul stand, so steht Klothilde zwischen Viktor und Flamin. Und in den Eifersuchtsszenen, zu denen Flamin sich hinreißen läßt, spiegelt sich auch die Eifersucht Christoph Ottos, der seiner Braut Renate das Zusammensein mit Jean Paul verbieten wollte. Wie aber Jean Paul, von Liebe zu Amöne ergriffen, sich mit Karoline Herold verlobt, so fällt Viktor, da seine Leidenschaft zu Klothilde hoffnungslos erscheint, in die Schlingen Joachimes.

Aber noch einer andern Voraussetzung des Romans müssen wir gedenken. Schon in den Satiren hatte sich der junge Jean Paul gegen die Mißwirtschaft der Fürsten gewandt, und der Kampf gegen sie war einer der Angelpunkte seines Denkens gewesen. In der »Unsichtbaren Loge« bewegte sich seine Schilderung noch völlig auf dem Niveau seiner Satiren, etwa der »Scherzhaften Phantasie« von J. P. F. Hasus. Inzwischen war die französische Revolution losgebrochen. Im August 1792 waren die Tuilerien erstürmt, am 21 Januar 1793 war Ludwig XVI. hingerichtet worden. Danton und Robespierre entfalteten in Paris ihr Schreckensregiment. Es war klar, daß diese Ereignisse auf Jean Paul den tiefsten Eindruck machen mußten. Im März 1793 versprach er in einem Brief an Otto, »zu Ostern 1794 einige Winke über das Terzianfieber der Weltrevolution« zu geben, und er schreibt von den Fürsten: »da sie die ihrem Stande eigene Unverschämtheit besitzen, Torheiten und Ungerechtigkeiten zu gleicher Zeit zu begehen und einzusehen: so bringt sie kein Licht, so wenig wie den Papst, sondern nur das Schütteln von ihren Throngipfeln herab.« Das waren andere Töne als nur satirische, und sie sollten wohl ursprünglich den ganzen Hesperus durchschwingen. Dennoch unterschied sich schließlich die Schilderung des Hofes in dem neuen Roman nicht allzusehr von der früheren Tonart, und nur die jungen Engländer, die sich in dem Hause des Pfarrers Eymann einquartiert haben, tragen in ihren Reden diese Tonart fort. Von ihnen wird auch in der Todesnacht Emanuels der Pulverturm in die Luft gesprengt als weithin leuchtendes Fanal der Freiheit.

Im übrigen macht sich auch in der Schilderung des Flachsenfinger Hofes bemerkbar, daß Jean Paul von Höfen und höfischen Sitten eine genauere Vorstellung erhalten hatte. Wenige Tage, bevor sein erster Roman beendet war, war das Fürstentum Baireuth durch Erbfolge in preußischen Besitz gekommen. Am 8. Februar 1792 fand in Hof die feierliche Huldigung der Beamten vor dem König von Preußen statt. Zum erstenmal konnte Jean Paul bei dieser Gelegenheit einen richtigen König beobachten. Und bald darauf wurde er Zeuge eines zweiten höfischen Vorgangs, den er im »Hesperus« wirklichkeitsgemäß wiedergegeben hat. Die satirische Schilderung von der Übergabe der fürstlichen Braut Agnola in Großkussewitz ist ein getreuer Bericht der Zeremonien, die Anfang Mai 1792 anläßlich der Vermählung der Prinzessin Karoline von Parma mit dem Prinzen Maximilian von Sachsen in Hof, der Grenzstadt zwischen Baireuth und Sachsen, stattfanden. Im »Hesperus« läßt der Dichter seiner Prinzessin sogar ihre südliche Herkunft. Mit der Wollust des Autors stürzt er sich auf diese Begebenheiten als auf Fundgruben seiner Darstellung.

Schon bei der »Unsichtbaren Loge« fiel die ungeheure Verwicklung der verschiedenartigsten Verhältnisse zwischen den einzelnen Personen auf. Sie tritt uns im »Hesperus« noch gesteigert entgegen. Aber sie ist bei Jean Paul nicht Selbstzweck, versinnbildlicht nur die Atmosphäre, die um jeden einzelnen seiner Menschen liegt. Das Durcheinander von Beziehungen verschiedenster Art, in das das Leben die einzelnen Menschen verwirrt, wird durch diese romanhaften Verflechtungen zum Ausdruck gebracht. Das Leben knüpft die Fäden kaum weniger zahlreich und verworren, als es in Jean Pauls Romanen geschieht, wenn auch auf andere Weise. Um aber dieses verschiedenartige Verflochtensein des Lebens darstellen zu können, bedarf es in der Dichtung eines Untergrundes von dunklen Verwachsungen und Verflechtungen. Die Erlebnisformen einer Generation werden bereits in der früheren Generation angesponnen. Beziehungen zwischen den vergangenen oder vergehenden Menschen spiegeln sich im Leben der gegenwärtigen als Schicksal. Nicht immer freilich kommt es im wirklichen Dasein zu Verknüpfungen des Blutes, Kindervertauschungen, Wechselehen. Man kann nur in seltenen Fällen damit rechnen, daß Liebende sich auf einmal als Geschwister erkennen müssen. Aber nur, weil die meisten Gedanken nicht zur Ausführung kommen und die meisten Wünsche keine Erfüllung finden. Wenn nur ein Teil der konventionellen und pekuniären Hemmungen, die sich dem Wollen des Menschen entgegenstemmen, fortfiele, würden in der Tat die Beziehungen zwischen den verschiedensten Menschen genau so vielfach und verwirrend sein wie in den Romanen Jean Pauls. Man kann mit gutem Grund sagen, daß Jean Paul zwar die bestehende Wirklichkeit überbietet, wenn er überhaupt die damals an den Höfen bestehenden Verhältnisse wirklich überbietet, aber kaum über den Bereich der Möglichkeit hinausgeht.

Im »Hesperus« wird der Ideenkomplex der »Unsichtbaren Loge« noch einmal aufgenommen, aber auf den Umkreis von vornherein beschränkt, der in dem ersten Roman wirklich umschritten war. Der Plan des ersten Romans reichte weiter, wollte in dem Verhältnis zwischen Gustav und Beate nur eine Vorstufe künftiger Entwickelung des Helden sehen. Diesmal sollte in dieser ersten Liebe des Helden sein Schicksal umgriffen werden. Gustav sollte, wenigstens in der endgültigen Fassung, nicht zu der höchsten Aufgabe eines Menschen, zum Herrscherberuf, geführt werden. Deshalb war es nicht nötig, ihn nach Erfüllung seiner ersten romantischen Liebe noch eine zweite, wirklichkeitsnähere erleben zu lassen. In dem einen Liebesschicksal konnte Jean Paul sich diesmal ausschwelgen und deshalb zwischen die Pole der Sehnsucht und Erfüllung eine ganze Welt legen. Er brauchte den Charakter des Helden nicht höher zu treiben, als er von Anfang an war. Viktor ist fertig, wie er zuerst auftritt. Er wird im Verlauf der Handlung vielleicht bereichert aber nicht mehr entwickelt. Er ist in viel höherem Sinne als Gustav das Ebenbild Jean Pauls selber, der auch als kein anderer aus den erotischen Verwicklungen jener Jahre heraustrat, Weichheit und Stärke sollten in dem Helden zum Bunde verflochten werden, und sie sind es von Anfang an. In Viktor ist aber auch zum ersten Male jene für Jean Paul selber so charakteristische Zweiheit von Humor und Empfindung verwirklicht, die bereits auf das Zwillingspaar der »Flegeljahre« hinweist. Gustav war noch vom Zeitalter der Sentimentalität umfangen, Viktor ist seine Überwindung, nicht in dem Sinne, daß er die edle Schwärmerei des Herzens durch Härte ersetzt hätte, aber seiner seelischen Eindrucksfähigkeit steht eine seltene Kraft des Gemüts und ausgebildete Reife des Verstandes zur Seite. Alle Empfindungen durchklingen sein Wesen in voller Stärke, aber es erliegt nicht mehr der Welt, sondern hat die umwandelnde Kraft der männlichen Stärke. Er ist Arzt, aber wenn er wie Gustav dem Offizierberuf bestimmt wäre, so würde er sicher ein guter Offizier sein und den Zweck auch dieses Berufs zu vertiefen und zu erfüllen vermögen. Die Figur Viktors allein beweist die Unhaltbarkeit der Auffassung, daß Jean Paul lediglich ein Vertreter des sentimentalen Zeitalters wäre. Allerdings stellt er ein Menschenideal auf, das von unserer entseelten Zeit nicht erfüllt zu werden vermag, weil wir im Betonen der äußeren Embleme der Kraft die Kraft selbst sehen und die Mächte der Seele ignorieren zu dürfen glauben. Überwindung der Sentimentalität besteht aber nicht in dürftiger Seelenarmut, sondern im Ausgleich der starken Empfindungen mit dem schaffenden umwandelnden Willen. Nur eine entseelte Zeit darf in Jean Pauls Menschenideal süßliche Empfindelei erblicken. Von seiner Zeit aus betrachtet, bedeuten seine Idealgestalten die innere Überwindung des sentimentalen Zeitalters. Von ungeheuren seelischen Kräften und Empfindungen fühlten seine Leser sich getragen, und nicht zum mindesten hierauf beruhte die Stärke seiner Wirkung immerhin auf ein Geschlecht, das die Schlachten der Befreiungskriege schlug.

Viktor verspottet ausdrücklich die Sentimentalität und erklärt sie für die März- oder Naßgalle am menschlichen Acker, für eine immer naßbleibende Stelle, auf der alles verfaule. Er verspottet die flachen Köpfe, die zu Herzen werden und uns statt der Ideen nur Tränen geben. Gerade sein Humor – als der »humoristische Liebling« wird er bezeichnet – ist außerordentlich stark ausgeprägt. Wir hören von seinen humoristischen Rösselsprüngen, seiner Lust zu Tollem und Kindischem. Er mißfällt zunächst sogar Klothilde, die ihn für allzu satirisch und boshaft hält. Hier wird auf Jean Pauls satirischen Hang angespielt, der ihm zunächst die Frauen entfremdete. Bezeichnend ist auch für den Helden wie für den Autor sein Hinuntersteigen zu Hanswürsten, Fuhrleuten, Matrosen und Kindern. Viktor liest mit Begeisterung den »Wuz«, diesen »Flügelmann der Freudenhandgriffe«, und lernt von ihm, daß entweder nichts in diesem Leben wichtig ist oder alles. So charakterisiert tritt Viktor von Anfang an im Roman auf, und es sind nur die schweren und ernsten Schicksale im Verlauf des Buches, die seinem Wesen die dunkleren Farben zumischen.

Über den Charakter seiner Partnerin Klothilde ist wenig mehr zu sagen. Sie ist durch ihre Ähnlichkeit mit Amöne hinreichend gekennzeichnet. Auch sie ist nicht durchaus eine Vertreterin der Sentimentalität. Gerade die Herrschaft ihres Verstandes über ihre Empfindsamkeit wird gerühmt. Auch bei ihr sind es erst die schweren und ernsten Erlebnisse, die ihrem Wesen die jugendliche Frische nehmen und ihr Herz bloßlegen. Gerade darauf beruht der Reiz ihrer Gestalt, daß ihr Schicht auf Schicht die Sicherheit und Stärke genommen werden und ihr Wesen immer rührender hervortritt. Von Anfang an ist sie die alles Wissende, des Lords Vertraute und in alle Geheimnisse der Geschichte eingeweiht. Sie weiß, daß Flamin, der sie liebt, ihr Bruder ist, und eine fast übermenschliche Stärke gehört dazu, sich in diesen Wirrnissen des Herzens zu behaupten. Eine Stärke, die weniger die eines Helden als eben die eines stark empfindenden Mädchens ist.

Zwischen Viktor und Klothilde steht Flamin. Er gilt für den Sohn des »Hofkaplans« Eymann, ist aber in Wirklichkeit der Sohn des Fürsten Januar und der Nichte des Lords. Flamin ist völlig Tatmensch. Als Soldat will er, der wie er glaubt Bürgerliche, Ruhm gewinnen, um Klothilde heimführen zu können. Sein Beruf als Regierungsrat sagt ihm nur wenig zu. Er ist jähzornig, edel, gutmütig, mehr Natur als Geist. In einem der Schüler Jean Pauls wird er sein Vorbild haben, vielleicht in dem gerade verstorbenen jungen Oerthel.

Mit einer Idylle fast setzt der Roman ein. Wir befinden uns in St. Lüne, einem Badedorf bei der Residenz Flachsenfingen, und zwar im Hause des Pfarrers Eymann. Dieser Pfarrer mit dem noch zu erklärenden Titel Hofkaplan ist von dem Geschlechte der Freudel, ein »Anti-Wuz«, »auch einer«, dem alles zum Unglück ausschlägt, stets verfolgt von der Tücke des Objekts. So führt er einen hoffnungslosen Kampf gegen die Ratten des Pfarrhauses, denen er mit Trommeln und andern Mitteln beikommen will, ohne etwas anderes als Unheil anzustiften. Seine Frau, die Pfarrerin, ist eine jener mütterlichen Idealgestalten, wie sie Jean Paul immer wieder mit sorgfältiger Liebe umrissen hat. Wir lernen Flamin kennen, den die Pfarrerleute selbst für ihren Sohn halten, und Agathe, ihre Tochter, eine liebende und prächtige Tochter und Schwester. In der Küche wirkt, von niemandem beachtet, Apollonia, die »Küchen-Appel«. In der Wiege schreit Eymanns jüngster Sproß, dessen Tauffest bevorsteht. Zu dieser Taufe wird Viktor, oder auch Horion oder Sebastian genannt, erwartet, der Sohn des mächtigen Lords, der, seit langem mit dem Fürsten Januar befreundet und ihm verwandt, großen Einfluß auf die Geschicke des Fürstentums hat. Lord Horion wird sich mit seinem Sohne bei Eymanns treffen. Der Lord ist vom Star befallen und will sich von Viktor, der sich in England zum geschickten Arzt herangebildet hat, im Pfarrhaus operieren lassen. Die Operation gelingt, der Lord erhält sein Augenlicht wieder.

Dem Pfarrhause gegenüber liegt das Schloß des Oberstkammerherrn Le Baut. Le Baut wohnt dort mit seiner zweiten Frau und einer Tochter aus erster Ehe, Klothilde. Das Fräulein Le Baut und die Pfarrerstochter Agathe sind in herzlicher Freundschaft verbunden. Daß Flamin von unglücklicher Liebe zu Klothilde entbrannt ist, wurde bereits gesagt. Das Landleben hat die Schranken des Standes zwischen den Kindern des Pfarrhauses und Klothilde niedergerissen. Wenn auch Le Baut und seine Gattin nicht auf gleichem Fuß mit dem Pfarrer und seiner Familie verkehren, so dulden sie doch wohlwollend die Freundschaft der Kinder.

In übersichtlicher Klarheit scheint sich die Geschichte vor uns zu entwickeln. Aber schon das zweite Kapitel zeigt, daß wir es mit den verwickeltsten Verhältnissen von der Welt zu tun haben. Zunächst wird Jean Paul selbst in die Handlung eingeführt. Er sitzt auf der Insel St. Johannis in den »ostindischen« Gewässern im Fürstentum Scheerau, wie sie uns aus der »Unsichtbaren Loge« bekannt sind. Durch einen Hund, den Spitzius Hofmann, erhält er von den Ereignissen der Geschichte Kunde. Daher die Bezeichnung der einzelnen Kapitel als »Hundsposttage«, wie überhaupt zuerst der Roman heißen sollte. Die Berichte, aus denen Jean Paul den Roman zusammenstellt, sind mit »Knef« unterzeichnet, woraus wir mühelos auf den humorvollen Dr. Fenk aus der »Unsichtbaren Loge« als Absender schließen können. Durch die Hundspost erfahren wir nun auch einen Teil der Vorgeschichte des »Hesperus«. Danach hat Januar, der Fürst von Flachsenfingen, in Frankreich drei uneheliche Söhne: den Walliser, den Brasilier und den Calabrier, und einen Sohn, den Mosge (Monsieur), der irgendwo auf den sieben Inseln der künstlichen ostindischen Gewässer verborgen sein soll. In England verliebte sich Januar in die schöne Nichte seines Freundes, des Lord Horion. Sie gebar ihm einen fünften Sohn, den sogenannten Infanten. Der Oberstkammerherr, der die Nichte des Lords gleichfalls liebt, heiratet sie und datiert die Heirat um drei Quatember zurück. Offenbar hat sich der Fürst mit Einwilligung des Kammerherrn Le Baut und unter seiner Maske bei der Lady eingeschlichen. Als die Lady von ihrem Oheim, dem Lord, darüber aufgeklärt wird, verläßt sie ihren Gatten und flüchtet nach England. Die Tochter, die sie ihrem Gatten geboren hat, Klothilde, muß sie ihm zurückgeben, aber der »Infant«, ihr Sohn von dem Fürsten her, bleibt bei ihr und wird von ihr erzogen. Der Fürst will, daß auch seine drei andern Söhne dort mit dem Infanten zusammen erzogen werden, aber sie werden geraubt und entführt und schweifen später als »Gelehrte und Semperfreie« in der Welt umher.

Pfarrer Eymann hat als Reiseseelsorger den Fürsten auf seinen verschiedenen Reisen begleitet. In England lernte er als eine Freundin der Lordnichte seine spätere Frau kennen. Er heiratete sie, und sie gebar ihm noch in England einen Sohn, nämlich Flamin. Flamin wurde bei der Lady zusammen mit dem Infanten und Viktor, dem Sohne des Lords, erzogen. Ihr Erzieher war ein indischer Weiser namens Dahore. Übrigens wird aus jener Zeit noch berichtet, daß der Infant an den Blattern unheilbar erblindete.

Le Baut war bei dem Fürsten in Ungnade gefallen und lebte seitdem mit seiner zweiten Frau und seiner Tochter Klothilde auf seinem Gute St. Lüne. Den Reisepfarrer Eymann, der mit ihm in Ungnade gefallen war und der deshalb die ihm versprochene Stelle als Hofkaplan in Flachsenfingen nicht erhielt, stellte er als Pfarrer in St. Lüne an.

Diese Vorgeschichte lüftet den Schleier der sonderbaren Beziehungen, in denen die verschiedenen Menschen zueinander stehen. Damit ist die Grundlage für die Entwickelung des Romans gegeben. Noch wissen wir nicht, daß Flamin eigentlich der fälschlich blindgesagte Infant ist. Wirklich erblindet ist vielmehr der wirkliche Sohn Eymanns, der irgendwo im Verborgenen leben soll. Flamin selbst ahnt nicht, daß er der Bruder der von ihm geliebten Klothilde ist. Viktor, auf den Klothilde von Anfang an tiefen Eindruck macht, achtet in ihr die Geliebte seines Herzensfreundes Flamin. Ihm selbst unbemerkt wächst im Innern eine tiefe Leidenschaft zu Klothilde heran. Sie würde von ihm nicht beachtet und jedenfalls mit aller Kraft unterdrückt werden, wenn er nicht auf einmal durch seinen Vater, den Lord, erführe, daß Klothilde und Flamin Geschwister sind und die Liebe Flamins also ein Irrtum des brüderlichen Gefühls ist. Mit einem Schlage wird er sich jetzt seiner Leidenschaft zu Klothilde bewußt und zugleich in einen schweren Konflikt hineingerissen. Mit Flamin hat er bei dem Wiedersehen in St. Lüne den Schwur unverbrüchlicher Freundesliebe getauscht. Wenn er sich Klothilden nähert, muß er dem Freunde als der verächtlichste Verräter an ihrer Freundschaft erscheinen. Lüften darf er ihm das Geheimnis seines verwandtschaftlichen Verhältnisses zu Klothilde nicht, da er dem Vater unverbrüchliches Schweigen gelobt hat. Dem Phantom des Freundes muß er seine Liebe opfern. Bis zu diesem Punkte führt uns der erste Teil des »Hesperus«.

In einem prachtvollen Aufbau entsteht vor unsern Augen dieser eine ganze Anzahl von Personen einschließende Konflikt. Der Spaziergang der Freunde, ihr Treueschwur auf der Baumkanzel, von der man weit in das Land hinein sieht; das erste Auftreten Klothildens, von der wir sogleich ahnen, daß sie tief in Viktors Schicksal eingreifen wird. Die Gesellschaft im Schlosse Le Bauts. Das Auftreten des Junkers Matthieu, des Sohnes des regierenden Ministers von Schleunes am Flachsenfinger Hof. Der Tauftag im Pfarrhause. Das Handbillett des Fürsten Januar, das Flamin zum Regierungsrat ernennt und ihn, wie Flamin wähnt, der erträumten Verbindung mit Klothilde wieder einen Schritt näher bringt. Die Gespräche mit Klothilde, die von ihrem Lehrer Emanuel in Maienthal erzählt. Magisch wirkt der Name Emanuels auf Viktor ein. Er fühlt, daß ihn das Schicksal irgendwie mit diesem von Klothilde geliebten und angebeteten Mann verknüpft hat, ohne bisher zu ahnen, daß Emanuel sein eigener geliebter Lehrer Dahore ist. Schon hier zeigt sich Viktors beginnende Liebe zu Klothilde, deren leiseste Herzensregung ihm heilig und vertraut ist. Dann die unvergeßliche Szene, da Viktor unter dem Gesange Klothildens das Zimmer verlassen muß, weil ihn der Anprall der Empfindungen überwältigt, und er oben in seinem Zimmer den ersten Brief an Emanuel schreibt und sich dem Unbekannten an die Brust wirft: Das alles zieht wie anhebendes Schicksal an unserm Auge vorüber und schlägt uns in magischen Bann.

Klothilde wird in der Klosterschule von Maienthal erzogen. Gerade ist ihre liebste Freundin, Giulia von Schleunes, des Junkers Matthieu Schwester, gestorben und hat ihr Herz durch ihren Tod allzu tief verwundet. Auch hier spinnen sich wieder Fäden zur »Unsichtbaren Loge«. Giulia ist offensichtlich Beate, deren früher Tod in dem ersten Roman angedeutet wird und die hier als unendlich rührender Schatten über der ganzen Handlung des Romans herzieht. Klothilde erzählt von ihrem Leben in Maienthal, von dem Leben Emanuels, der mit einem bildschönen erblindeten Jüngling Julius in einer selbst erbauten Lindenhütte wohnt. Wir ahnen, daß dieser blinde Julius der an den Blattern erblindete Sohn des Pfarrers, oder nach den bisherigen Enthüllungen der Vorgeschichte, der erblindete Infant ist. Schon langsam von den Strudeln der nahenden Begebenheiten erfaßt, verlebt Viktor in St. Lüne seine »Sabbathwochen«. Es war dasselbe traumhaft glückliche Umherschlendern, das Jean Paul selbst in diesen Wochen nach dem erlösenden Brief Karl Philipp Moritzens gefangenhielt. Ein Brief des Lords unterbricht die Stille des ländlichen Idylls. Viktor wird als Hofarzt an den Flachsenfinger Hof gehen. Die Braut des Fürsten, die italienische Prinzessin Agnola, wird in Großkussewitz feierlich eingeholt. Der Lord kommt mit Januar durch St. Lüne. Viktor wird ihm vorgestellt und von seinem Vater zur »Insel der Verheißung« befohlen, wo er ihm wichtige Enthüllungen zu machen hat. Inzwischen läuft die Antwort Emanuels auf Viktors Brief ein. Seltsam klingen die Stimmungen durcheinander: die Welt des indischen, lebenabgekehrten Weisen und des fürstlichen Hofes. Viktor wandert allein nach Kussewitz, um Zeuge des höfischen Schauspiels der Übergabe der italienischen Prinzessin zu werden und von dort nach der Insel der Verheißung zu gehen. Die Wanderung nach Kussewitz ist wiederum eines der unerklärlichen Wunder Jean Paulscher Dichtung. Wir kennen den Zauber solcher Wanderungen bereits aus der »Unsichtbaren Loge«. Aber hier ist er noch größer geworden. Einsame Wanderungen des Dichters im Ungestüm seiner Erlösung durch den Erfolg des ersten Romans, die glückerfüllte Losgelöstheit von aller Erdenschwere, das blumenhafte Dahintaumeln im All, – alles das ist doch erst jetzt in ihm lebendig geworden. So gibt sich Viktor noch einmal vor dem Eingespanntsein des Hoflebens einem grenzenlosen Schweifen hin. Die Freiheit ungemessener Tage umfängt ihn. Wie auf Flügeln eilt er durch das Land. Die Landschaft des Fichtelgebirges kreist in großen Ringen um ihn her. Im Freien schläft er ein, kommt in der Dämmerung in das Dorf.

Eine neue Perspektive ist rings aufgebaut. Viktor wohnt bei dem alten Zeidler Lind. Vor seinen Augen rollt sich das bizarre Schauspiel der Brautübergabe ab. Er sieht Agnola, die Prinzessin, und verliebt sich traumhaft spielerisch in sie. Ein italienischer Händler Tostato verkauft Bijouterien. Er besticht ihn und verkauft als italienischer Händler verkleidet der Prinzessin eine Uhr, in die er einen Zettel mit einer verblümten Liebeserklärung hineingeklebt hat. Noch einmal ist Viktor der »humoristische Liebling«, der in leichtem Spiel das Leben einfängt. Noch einmal verkündet er seine heitere Auffassung der »Simultan- oder Tutti-Liebe«: »Wenn nun in diesen ehelustigen und ehelosen Zeiten ein Jüngling, der noch auf seine Messiasin wie ein Jude passet und der noch ohne den höchsten Gegenstand des Herzens ist, von ungefähr mit einer Tanzhälfte . . . hundert Seiten in den Wahlverwandtschaften oder in den Hundposttagen lieset – oder mit ihr über den Kleebau oder Seidenbau oder über Kants Prolegomena drei bis vier Briefe wechselt – oder ihr fünfmal den Puder mit dem Pudermesser von der Stirne kehrt – oder neben und mit ihr betäubende Säbelbohnen anbindet – oder gar in der Geisterstunde (die ebenso oft zur Schäferstunde wird) über den ersten Grundsatz der Moral uneins wird: so ist so viel gewiß, daß der besagte Jüngling . . . ein wenig toll tun und für die besagte Mitarbeiterin . . . etwas empfinden muß, das zu warm ist für die Freundschaft und zu unreif für die Liebe, das an jene grenzt, weil es mehrere Gegenstände einschließt, und an diese, weil es an dieser stirbt . . . Diese Universalliebe ist ein ungegliederter Fausthandschuh, in den, weil keine Verschläge die vier Finger trennen, jede Hand leichtlich hineinfährt – in die Partialliebe oder in den Fingerhandschuh drängt sich nur eine einzige Hand.«

Unter dem Lesen der »Unsichtbaren Loge« kommt Viktor an das Ufer des Sees, in dem die Insel der Verheißung liegt. Keine Brücke führt hinüber. Der Lord ist bereits da und erwartet den Sohn »mit einem Ernst, der seine Freundlichkeit überhüllte, und mit einer Rührung, die noch mit seiner gewöhnlichen Kälte rang«. Durch Bewegen eines Steines hebt sich eine eiserne Brücke aus dem Wasser, die die beiden hinüberführt. Geheimnisvolle Wälder und künstliche Anpflanzungen nehmen sie auf. Durch die Flöre steigen fünf Gewitterableiter in den Himmel auf, ein Regenbogen aus zwei ineinandergekrümmten Wasserstrahlen schwebt flimmernd am Gezweige. Als der Lord den Sohn in ein Birkengebüsch hineinzieht, beginnt die lallende Totenzunge eines Orgeltremulanten zu tönen. In dem Gebüsch liegt ein Grab mit einem schwarzen Marmorstein, auf dem ein überschleiertes blutloses Herz und die bleichen Worte stehen: Es ruht. Es ist das Grab Marys, der Gattin des Lords. »Nie schauderte Viktor so: nie sah er auf einem Gesicht eine solche chaotisch wechselnde Welt von fliehenden, kommenden, kämpfenden, vergehenden Empfindungen; nie starrte ein solches Eis der Stirne und Augen über krampfhaften Lippen – und ein Vater sah so aus, und ein Sohn empfand es nach.« Ottomarstimmung liegt über den Worten des Lords: »Glaube nicht, daß ich besonders gerührt bin – glaube nicht, daß ich eine Freude begehre oder einen Schmerz verwünsche – ich lebe nun ohne Hoffnung und sterbe nun ohne Hoffnung.« Neben dem Grabe der Gattin will er begraben werden, und dann soll auch auf seinem weißen Herzen in schwarzer Schrift stehen: Es ruht! Im Spiegel des blankgeschliffenen Steins erscheint dem Jüngling einen Augenblick das verehrte Antlitz seines Lehrers Dahore.

Hier ist es, daß der Lord dem Sohn, der bei der Asche der Toten Schweigen gelobt, einen Teil der Vorgeschichte offenbart. Flamin ist der Sohn des Fürsten, kenntlich an dem apfelartigen Mal unter dem Schulterblatt. Die drei andern Söhne des Fürsten leben als Gelehrte und Semperfreie in der Welt umher. Es ist der Sohn des Kaplans, der an den Blattern erblindete und seitdem im Verborgenen lebt. (Also der Julius Emanuels?) Der Mosge lebe verborgen auf den sieben Inseln der künstlichen Südsee. Als der Lord erblindete, habe er mit Hilfe Klothildens die Korrespondenz mit der Lady und den Lehrern der Söhne geführt. Hierbei sei das Geheimnis leider in die Hand eines uneingeweihten und gefährlichen Menschen geraten: Junker Matthieu, der Sohn des Ministers Schleunes, habe sich eingeschlichen und in Erfahrung gebracht, daß Flamin der Sohn des Fürsten sei. Seitdem habe er mit Erfolg die Freundschaft Flamins gesucht. Der Minister sei mit dem Sohne im Bunde, und beide suchten aus ihrer Mitwissenschaft Vorteil zu schlagen und bereiteten irgendeine Intrige vor.

Ungeheure Umwälzungen bringen diese Enthüllungen in Viktors Innerm mit sich. Jetzt weiß er, nicht nur, daß Klothilde frei ist und keine Freundschaft ihm ihre Liebe verwehren kann, er weiß auch, daß Klothilde selbst um ihr geschwisterliches Verhältnis zu Flamin unterrichtet ist und den überschwenglichen Bruder mit schwesterlich liebender Hand abzuwehren sucht. Er eilt zu Emanuel nach Maienthal, umarmt in ihm den alten und geliebten Lehrer Dahore. In Entzückung und Beklemmung schwillt sein Herz. Er gesteht Emanuel seine Liebe zu Klothilde, reißt sich von ihm und dem sanften blinden Flötenspieler Julius los und eilt nach St. Lüne zurück.

Wieder umfängt uns die Szenerie des Anfangs, aber alles ist anders geworden. Mit andern Augen betrachtet er nun die quälende Liebe Flamins und die sorgende Zärtlichkeit Klothildens. Der Schwur verschließt ihm die Lippen. Trotz allem ist seine Liebe zu Klothilde ja Verrat am Freunde. Dennoch kann er sich nicht losreißen, zieht seine Abreise nach Flachsenfingen in die Länge, denn er fühlt, daß er das liebvertraute Pfarrhaus mit seinen geliebten Personen nie wieder so friedlich wiedersehen wird. Die kommenden Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Endlich trennt er sich von den Freunden. An einem Sommerabend geleiten sie ihn hinaus, immer wieder umkehrend, immer wieder einander von den nächsten Hügeln noch grüßend. In der Residenz wohnt er beim Apotheker Zeusel, einem charakterlosen komischen Männchen, der von Stadt- und Hofklatsch lebt. Ihm gegenüber beim Stadtsenior wohnt Flamin, der als Regierungsrat gleichfalls nach Flachsenfingen übergesiedelt ist. Sie können sich in die Fenster sehen und miteinander sprechen. Aber was Viktor bisher mit Seligkeit erfüllt hätte, das wird ihm jetzt zur Qual, da er die wichtigsten Dinge dem Freund geheimhalten muß.

Fürst Januar wohnt in einem einfachen Palast. Er ist zu bequem, um die Anstrengungen des Hoflebens auf sich zu nehmen. Das gesellschaftliche Leben des Hofes hat vielmehr der Haushalt des Ministers von Schleunes übernommen. Die junge Fürstin Agnola wohnt im Paulinum, dem alten Schloß. Wiederum sehen wir hier die Baireuther Verhältnisse vor uns, die Jean Paul nunmehr genau aus eigenem Augenschein kennt. Viktor beginnt seine Tätigkeit als Hofarzt damit, daß er den Fürsten zu einer Inkognitoreise durch sein Land überredet. Er vermag ihm allerlei Neues zu zeigen, ohne aber den Fürsten zu durchgreifenden Änderungen bewegen zu können. Denn die Fürsten können nach dem Ausdruck Jean Pauls zu gleicher Zeit Unrecht begehen und einsehen. Die kleine Fahrt endet für Viktor in St. Lüne. Klothildens Geburtstag wird gefeiert. Den Höhepunkt des Tages bildet ein Konzert, wie es Jean Paul kurz vorher in Hof selbst erlebte. Der Mundharmonikaspieler Franz Koch und der Virtuose auf der Viole d'Amour Karl Stamitz, die der Dichter, wahrscheinlich in Gegenwart Amönens, hörte, machten einen derart starken Eindruck auf ihn, daß er die Wirklichkeit im Roman nicht überbieten zu können glaubte und das Konzert der beiden Künstler mit vollem Namen und allen Einzelheiten in den Geburtstag Klothildens hineinflocht. Wieder gab er hier eine jener »Schwelgereien« des Herzens, an denen der »Hesperus« so reich ist. Flamin bleibt die innere Bewegung des Freundes nicht verborgen. Er ahnt seine Leidenschaft für Klothilden. Matthieu scheint ihn überdies aufzustacheln. Auch die Eltern vermuten, daß Viktor sich ihrer Tochter zu nähern beabsichtige, und fragen Klothilde geradezu, wie sie sich zu einer Werbung Viktors stellen würde. Klothilde antwortet, die eigene Liebe schamhaft verhüllend und das Geheimnis von Flamins Abstammung bewahrend, mit einem »Nein!«, was Viktor bald genug erfährt. In toter, leerer Stimmung geht er nach Flachsenfingen zurück. Ein Briefwechsel mit Emanuel ist seine einzige Freude, da er Klothilde sich für ewig verloren glaubt.

Es naht die Zeit, da die Äpfel draußen reif werden, und mit ihnen wird das Muttermal auf Flamins Schulterblatt sichtbar. Viktor vermutet, daß Matthieu die Zeit benutzen wird, um sich durch den Augenschein des Males von Flamins Abstammung zu überzeugen. Er will Flamin davor bewahren und schlägt ihm vor, nach St. Lüne zu gehen. Aber in einer Unterredung muß er erfahren, daß Matthieu bereits unter einem Vorwand das Mal gesehen und zur Heilung eines eingeredeten Leidens dem Fürstensohn ein Pflaster auf den Rücken gepappt hat. Mit Schrecken sieht Viktor, daß das Geheimnis in der Tat im Besitz des gefährlichen Junkers ist.

In seiner Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit seiner Liebe gibt sich Viktor dem oberflächlichen Hofleben hin und beginnt mit Joachime, der Schwester Matthieus, zu tändeln. Auch hierin entspricht der Charakter des Helden seinem Vorbild Jean Paul, den die Aussichtslosigkeit seiner Liebe zu Amöne und vielleicht zu Renate zur Verlobung mit der blutjungen und farblosen Karoline trieb. Es war eine Anklage gegen sich selbst, der Jean Paul in diesem Teil des »Hesperus« stattgab. Viktor verkehrt ständig im Schleunesschen Hause und redet sich ein, dem eifersüchtigen Flamin dieses Opfer bringen zu müssen. Aber er ist von Neigung zu der schönen Joachime keineswegs ganz frei. Sie ist geistvoll und nicht gerade schlecht, wenn auch kokett, aber besonders fehlt ihr der Adel echter Liebe und Tiefe. In diese Situation tritt Klothilde hinein, die als Hofdame der Fürstin nach Flachsenfingen gekommen ist. Vielleicht ist Klothilde bereits von Neigung zu Viktor ergriffen. Dann muß sie ihrerseits ihre Liebe für aussichtslos halten, da sie Viktor, weitab vom ernsten Geiste Emanuels, in den Banden Joachimens sieht und außerdem erfahren hat, daß er ihre Berufung an den Hof zu hintertreiben versuchte. Ein magisches Suchen der Seelen beginnt zwischen ihnen. Viktor überschreit sein Herz in dem Hineinstürzen in den Strudel der Vergnügungen. Dennoch versteht die bleiche Klothilde ihn und behandelt ihn mit zarter Rücksicht. »Tarantelwochen« nennt Viktor im Gegensatz zu den herrlich-ernsten Sabbatwochen diese Zeit. Endlich, während einer Vorstellung der »Iphigenie«, in der gleichfalls Bruder und Schwester sich unheilvoll begegnen, läßt Viktor die Hülle fallen und gesteht Klothilden sein Wissen um die Geheimnisse von Flamins Herkunft. Eine rührende und zarte Freundschaft spinnt sich zwischen den Unglücklichen an. »Wer nicht das Sparrwerk und Zellenwerk des Menschenherzens kennt, den nimmt es wunder, daß Viktors Freundschaft gegen Klothilde ein ganzes Honiggewirke von Liebe für Joachime in seine Zellen eintrug.« Es ist der gleiche Vorgang, der in der »Unsichtbaren Loge« Gustav in die Arme der Residentin trieb und den seine persönlichen Kritiker wie Otto und selbst Wernlein nicht als psychologisch richtig anerkennen wollten, obwohl er von höchster innerer Wahrheit ist. Ein Gespräch zwischen Joachime, Viktor und ihrem Bruder über die Liebe gibt Viktor Gelegenheit, die heiße innere bürgerliche Liebe mit all ihrem Zauber der kalten höfischen Liebe entgegenzusetzen. Hier sieht man, wie Jean Paul sein Thema auf immer höherer Ebene aufzunehmen und durchzuführen vermag. Dieses Gespräch ist in gewissem Sinne ein Gegenstück zu den Ausführungen über die Simultan- und Tutti-Liebe. Viktors Einstellung hat sich wesentlich gewandelt. Das drittemal, man fühlt es deutlich, wird die eigentliche Liebe selbst in Erscheinung treten und die Handlung fortführen. Inzwischen scheint sich allerdings die Handlung ganz ins Höfische zu wenden. Der ränkesüchtige Matthieu beginnt Klothilden nachzustellen, und Viktor steht dicht vor einer Liebeserklärung an Joachime.

Zwischen die weitere Entwickelung hat Jean Paul einen bedeutenden »Schalttag« eingeschoben, wie er im »Hesperus« die »Extrablätter« benennt. »Über die Wüste und das gelobte Land des Menschengeschlechts.« Man wird oft vergeblich die innere Verbindung zwischen solchen Einschiebseln und dem Gang der Handlung suchen. Hier aber steht der Schalttag an bedeutsamer Stelle, und er untersucht das Problem des Fortschritts des Menschengeschlechts und das Ziel des ewigen Friedens. Etwas ungeheuer Revolutionäres steckt in diesen Betrachtungen, die die Problemstellung eines Spengler vorausnehmen und überholen. »Unsre Wetterprophezeiungen aus der gegenwärtigen Temperatur«, heißt es, »sind logisch richtig und historisch falsch, weil neue Zufälle, ein Erdbeben, ein Komet die Ströme des ganzen Dunstkreises umwenden . . . Noch liegen vier Weltteile voll angeketteter wilder Völker – ihre Kette wird täglich dünner – die Zeit schließet sie los – welche Verwüstungen, wenigstens Veränderungen, müssen diese nicht auf dem kleinen bowling-green unserer kultivierten Länder anrichten? – Gleichwohl müssen alle Völker der Erde einmal zusammengegossen werden und sich in gemeinschaftlicher Gärung abklären, wenn einmal dieser Lebens-Dunstkreis heiter werden soll.« Aus der Ungleichheit der nebeneinander wohnenden Kulturen und Machtverhältnisse wird alles Unheil der Geschichte und jedes Verbrechen der Völker hergeleitet. »Ein ewiges Gleichgewicht von Europa setzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Weltteile voraus, welches man, kleine Vibrationen abgerechnet, unsrer Kugel versprechen kann. Man wird künftig ebensowenig einen Wilden als eine Insel entdecken . . . Noch steht ein Gespenst aus Mitternacht da, das weit in die Zeiten des Lichts hereinreicht – der Krieg. Aber den Wappenadlern wachsen Krallen und Schnabel so lange, bis sie sich wie Eberhauer krümmen und sich selber unbrauchbar machen . . . Dieses lange Gewitter, das schon seit 6 Jahrtausenden über unserer Kugel steht, stürmt fort, bis Wolken und Erde einander mit einem gleichen Maß von Blitzmaterie vollgeschlagen haben.« Ein ungeheurer Optimismus rüttelt hier an den bestehenden Ordnungen. »Die Astronomie verspricht der Erde eine ewige Frühling-Tag- und Nachtgleiche; und die Geschichte verspricht ihr eine höhere: vielleicht fallen beide ewige Frühlinge ineinander.« Es ist der Optimismus des 18. Jahrhunderts, der in Herders Humanitätslehre und in Kants Schrift »Vom ewigen Frieden« seinen beherrschenden Gipfel erreichte. Aber hier wird dieser Optimismus nicht mehr von dem kindlichen Zutrauen zur Macht der Vernunft getragen, hier werden die kosmischen Gesetze und ein ungeheurer Überblick über die Gesamtoberfläche der Erde hinzugezogen, um das Ethos eines allmenschlichen Zieles zu stützen. »Wenn diese Festzeit kömmt, dann sind unsre Kindeskinder – nicht mehr.« Unermeßliche Erschütterungen hat die Erde noch durchzumachen, ehe alle Völker auf eine gemeinsame Ebene des Rechts und der Gesittung gebracht sind, und ein unerschütterlicher Wille ist nötig, um dieses Ziel auch nur als Ziel zu zeigen. Ein ungeheures Ethos steht hinter diesen Betrachtungen, die uns im Zusammenhange mit Jean Pauls politischen Schriften noch beschäftigen werden. Ein revolutionäres Grundgefühl bricht hervor, wiederum wie überhaupt Jean Pauls Tugendbegriff von einer Weltverantwortung getragen. Wie ein Block stehen diese Ausführungen mitten in dem Roman, ehe er zur Revolutionsdichtung wird. –

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Joachime und Matthieu kommen von einem Ausflug nach Kussewitz und St. Lüne zurück und sind gegen Viktor wie ausgewechselt. Offenbar haben sie im Fenster des Pfarrhauses Viktors Wachsbüste gesehen, die am Tag vor seiner Abreise angefertigt wurde, und sie für Viktor selber gehalten. Viktor aber ist nicht sicher, ob sie in Kussewitz nicht seinen Scherz mit der Verkleidung und dem in die Uhr geklebten Zettel an die Fürstin in Erfahrung gebracht haben. Er fühlt, daß sich die Dinge einer Entscheidung zuspitzen. Vor der bereits beschlossenen Liebeserklärung an Joachime hat ihn der Zufall der kleinen Reise bewahrt. Sein Gefühl für Klothilde hätte ihn kaum davon zurückhalten können, denn immer klarer wird es ihm, daß sie den blinden Flötenspieler Julius liebt.

Seine scherzhafte Verkleidung in Kussewitz liegt Viktor schwer auf der Seele. Jeden Augenblick kann die Entdeckung kommen, jeden Augenblick der übermütige Zettel gefunden und die Handschrift erkannt werden. Ganz plötzlich wird Viktor zur Fürstin gerufen, und zu seinem Schrecken ist auch der Kussewitzer Händler Tostato dort. Viktor fühlt sich verloren, da der Italiener der Fürstin von der scherzhaften Verkleidung ihres jetzigen Leibarztes erzählt. Aber die Wirkung ist anders, als Viktor geglaubt hat. Die Uhr hat Agnola längst, ohne sie zu öffnen, an Joachime weitergeschenkt. Sie weiß nur von der Verkleidung Viktors und schließt auf eine heimliche Leidenschaft Viktors zu ihr. Mit den Mitteln einer der Südländerin zu Gebote stehenden Koketterie nähert sie sich dem Hofarzt. Infolge eines seltenen Zufalls muß Viktor, um sich aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu ziehen, sie küssen, aber sein kühler Abschied zeigt der Fürstin, daß seine Leidenschaft zu ihr nur die Laune eines Augenblicks gewesen. Durch diesen Vorfall glaubt Viktor seine Stellung am Hof völlig erschüttert. Auch Joachime und Matthieu muß er sich zu Feinden machen. Aus spöttischen Bemerkungen Matthieus glaubt Viktor entnehmen zu können, daß Joachime den Zettel in der Uhr gefunden, die Handschrift erkannt und die Liebeserklärung auf sich bezogen hat. Viktor hält es für notwendig, sie aufzuklären und ihr den scherzhaften Vorfall zu erzählen. Jetzt erst fällt der Zettel aus dem Uhrgehäuse. Joachime ist wütend, und durch die Erzählung hat er sich völlig in ihre Hand gegeben. Er weiß, daß sie im gegebenen Augenblick die Waffe gegen ihn rücksichtslos gebrauchen wird.

Inzwischen sind in St. Lüne große Veränderungen vor sich gegangen. Drei Engländer sind im Hause des Hofkaplans eingekehrt, wilde, freiheitstrunkene Gesellen, von dem Weltfieber der Revolution ergriffen und von Freiheit und Fürstensturz träumend. Unschwer vermutet man in ihnen die drei Söhne des Fürsten, die verschwunden waren und als »Gelehrte und Immer-Freie« durch die Welt schweifen. Das Bild der englischen Freiheit, wie es Jean Paul aus Archenholzs Reisebuch »England und Italien« kannte, hat den drei Gestalten die Farben gegeben. In Verzweiflungsstimmung geht Viktor nach St. Lüne. Er lebt im Pfarrhause mit den drei Engländern und Flamin zusammen. Die revolutionäre Wildheit der drei Freiheitsschwärmer ist ganz seiner Stimmung angemessen. Im Handumdrehen ist er ein Herz und eine Seele mit ihnen, und auch Flamin wird von ihrer Freiheitsbegeisterung erfaßt. Ein ungekannter Geist belebt auf einmal das stille Haus des guten Hofkaplans, dem bei den Reden seiner Gäste gar nicht geheuer ist. Ganz andere Gäste beherbergt das Schloß. Dort weilen außer Klothilde noch Matthieu und Joachime. Den Verwickelungen, denen Viktor entgehen wollte, ist er somit gerade entgegengegangen. Zu seiner Verzweiflung kommt hinzu, daß der schwatzhafte Apotheker Zeusel ihn über die Intrigen der Schleunesschen Gesellschaft aufgeklärt hat: Matthieu hätte ein Verhältnis mit der Fürstin. Jetzt wolle er sich mit Klothilde vermählen, um sie dem Fürsten, der eine Neigung zu der Hofdame gefaßt hätte, auszuliefern. Damit hätte die Schleunessche Familie den Fürsten und die Fürstin an sich gefesselt. Viktor kann für sich diese Aufklärungen noch dahin ergänzen, daß man ihn und Flamin auseinanderbringen wird, um auch diesen, den »Infanten«, ganz in die Hand zu bekommen. Er merkt, daß er im Mittelpunkt einer riesenhaft angesponnenen Intrige steht, die sich im Grunde gegen seinen Vater, den Lord, richtet. Le Baut, glaubt er, wird leicht zur Einwilligung zu bekommen sein, damit er die Gunst des Fürsten wiedererlange, aus der ihn der Einfluß des Lords gerissen hat. So ist die innere Situation in St. Lüne, die sich nach außenhin wie die Feiertage eines festlich und heiter gestimmten Freundeskreises gibt. Aus dieser Stimmung hat Jean Paul eine Partie des Romans geschaffen, die zu den größten Dichtungen der Weltliteratur gehört.

Voll innerer Spannung verrinnen die Feiertage. Klothilde soll in das Pfarrhaus zum Abendessen kommen. Punsch erhitzt die Gemüter. Von unsinniger Leidenschaftlichkeit ergriffen, rast Viktor auf den Wartturm, rast herunter, zecht weiter. Die Freiheitsdisputationen der Tage beherrschen das Gespräch. In fast irrer Verzweiflung schleppt er seine Wachsstatue herbei, stellt sie vor sich hin, steigt auf einen Stuhl und hält seiner leblosen Büste eine Leichenrede, dämonisch das eigene Leben verfluchend. Diese Szene des Rasenden, angefeuert durch die geschickt dazwischengeworfenen Bemerkungen des hämischen Matthieu, sind von einer ungeheuren Größe. Noch nie, und vielleicht nie wieder, wenn nicht etwa bei Dostojewski, fand die innere Zerrissenheit eines Menschen derartigen Ausdruck. Das Sichspiegeln im Angesicht des eigenen Todes, wie es den zweiten Teil des »Siebenkäs« so grandios beherrscht, ist hier zu einer unüberbietbaren Höhe getrieben. Weinend liegt Viktor in seinem Zimmer. Weinend im Schloß ihm gegenüber Klothilde, die Zeuge dieses unerhörten Ausbruchs sein mußte. Sie glaubt ihn im Fenster liegen zu sehen. Es ist aber nur das Wachsbild, vor dem ihre Tränen niederrinnen. Am nächsten Tag erscheint wiederum Franz Koch mit seiner Maultrommel und deckt die zerrissenen Herzen mit unendlicher Rührung zu.

In Flachsenfingen gibt die Fürstin einen Ball. Die ganze St. Lüner Gesellschaft ist gezwungen, dazu herüberzufahren. In der Nacht fährt Klothilde in Viktors Schlitten. Ungeheure Spannungen sind zwischen den Liebenden. Endlich kommt es zur Aussprache. Das Unerhörte wird Ereignis: Klothilde liebt ihn und hat ihn seit langem geliebt und verstanden. Voll unendlicher Trauer ist ihre Seligkeit. Rings sind Hindernisse getürmt. Am nächsten Tag fährt Klothilde nach Maienthal, Viktor nach Flachsenfingen zurück. – –

Eine neue Welt ist angegangen. Briefwechsel mit Emanuel und Klothilde. Die zwei Gefahren: der verfeindete Hof und Flamin recken sich vor den Liebenden auf. Viktor lebt still für sich, liest Kant, Jakobi und Epiktet. Mechanisch verrichtet er den Hofdienst. Zu Pfingsten will er nach Maienthal gehen, um mit Emanuel und Klothilde vereinigt zu sein. Er sucht Flamin auf und teilt ihm seinen Entschluß mit. Flamin rast. Gerade vor einem Jahr verbanden sich die Freunde durch einen Schwur zu ewiger Treue. Aber Viktor ist durch einen Eid gebunden, er kann Flamin nicht über sein nahes geschwisterliches Verhältnis zu Klothilde aufklären, andererseits auch nicht mehr auf ein Zusammensein mit der Geliebten verzichten. Er schwört dem Freund, daß er ihm treu ist, auch wenn alle Anzeichen dagegen sprechen. Zu des Hofkaplans Geburtstag gehen sie beide nach St. Lüne. Wieder finden große Gespräche mit den drei Engländern über Freiheit und Weltentwickelung statt. Wenn auch nicht mit der Leidenschaft des vorigen Zusammenseins, so doch mit größerer Klarheit und Durchdachtheit wird, genau wie gleichzeitig von Goethe in seinen »Lehrjahren«, das Gebäude des Sozialismus in unerhörter Voraussicht vorweggenommen. In diesen Freiheitsgedanken finden sich Viktor und Flamin wieder. Versöhnt kehren sie nach Flachsenfingen zurück.

Und nun beginnt die Seligkeit von Maienthal. Der ganze Zauber der Fichtelgebirgslandschaft wird vor uns ausgebreitet. Berge und Täler fangen die Festtage in ihren Wellen ein. Im Frieden des Lindenhauses glätten sich die Wogen der Erregung unter dem Flötenspiel des Blinden und dem sanften Wesen Emanuels. Man wandelt durch den märchenhaften Abteigarten, der einst vom Lord angelegt wurde. Hinter einer Blütenlaube, die ihn magisch anzog, findet Viktor die Geliebte, die dort auf ihn gewartet. Noch immer liegt die leise Traurigkeit über ihrem Glück. Am Nachmittag vereinigt ein Spaziergang die ganze Gesellschaft. In einem Dorf weilt der eine der drei Engländer. Er hat eine Bande Prager Musikanten angeworben, deren Klänge weithin die Fröhlichen anlocken. Man muß sich hierbei erinnern, daß Böhmen bereits tief in die Täler des Fichtelgebirges einschneidet und böhmische Musikkapellen in Jean Pauls Heimat nichts Seltenes waren, gewissermaßen zum Feiertagsbilde der festlichen Täler gehörten. Von einem Berg aus sehen die Spaziergänger den fernen See mit der Insel der Verheißung liegen. Unendliches Weh und Glück zugleich preßt die Brust der Liebenden. Ein Regen kommt. Viktor und Klothilde suchen eine Laube auf und genießen das Glück des Alleinseins.

Am dritten Pfingstfeiertag wird der Engländer mit seinen Musikanten nach Maienthal kommen, und das ganze Dorf wird ein Fest feiern. Aus der Seligkeit der einzelnen steigt nun der selige Taumel eines ganzen Dorfes, löst sich in Seelentrunkenheit und schläft ein unter den Klängen eines Adagios. Jener letzte Glückstag auf Teidor in der »Unsichtbaren Loge« wiederholt sich hier in ausgedehnteren Dimensionen. Eine beispiellose innere Kraft treibt den Freudentaumel durch tausend Register. Schmerz, Seligkeit, Sehnsucht, Tod und Leben stoßen mit schmalen Grenzen aneinander. Das Fest schwingt in den vierten Pfingsttag hinein. Dem blinden Julius ist Emanuels Vater erschienen. Emanuel deutet es als Vorboten seines Todes, dessen Stunde er kennt und den Seinen mitgeteilt hat. Aber Matthieu ist jener selige Geist gewesen, der dem Blinden erschien. Man weiß jetzt, daß Unheil die Tage von Maienthal umschleicht. Am Abend verweilen die Liebenden am Grabe Giulias, als Flamin, rasend vor Wut, auf einmal hervorstürzt. Es fallen Schüsse. Er verschwindet. Klothilde ist in Ohnmacht gefallen. Im Arm des Freundes erwacht sie. Ein Abschied um Mitternacht endet die Tage dieses unbeschreiblichen Pfingstfestes.

Viktor ist nach Flachsenfingen zurückgekehrt. Der Fürst ist kalt zu ihm, die Fürstin eisig. Viktor geht nach St. Lüne und bewirbt sich beim Oberstkammerherrn Le Baut um Klothildes Hand. Er erhält sie. In eisiger Förmlichkeit geht die Verlobung vor sich. Flamins Schüsse haben jede Verbindung mit dem Pfarrhaus unmöglich gemacht. Wie eine Mauer steht es zwischen dem Schloß und dem Häuschen Eymanns. Nur einmal treffen sich Klothilde und die Pfarrerin zu einem von niemand gesehenen Spaziergang. Emanuels Todesstunde naht. Er bittet Klothilde, zu ihm zu kommen, aber sie muß es dem Lehrer verweigern, weil die Erschütterung dieses Todes sie unfehlbar vernichten würde. Viktor allein wird dem Sterben des Geliebten beiwohnen. Fast glaubt er noch immer, daß Emanuel am Leben bleiben werde, aber als er nach Maienthal kommt, sieht er freilich, daß der Tod Emanuels Gesicht schon gezeichnet hat. Er weiß jetzt, Emanuel wird in der Stunde sterben, die er seit langem für seinen Tod vorausgesagt. Wieder hebt eine der größten Partien an, die vielleicht je geschrieben wurden. Die Abschiedswege um das Tal, der Abschied auf dem Berg, das schon gegrabene Grab des Inders und dann die furchtbare Todesnacht selber. Ein Gewitter dröhnt und quirlt Himmel und Erde durcheinander. Eine furchtbare Explosion erschüttert die Luft. Es ist der Pulverturm, den der eine Engländer als Zeichen der erwachenden Weltbefreiung in die Luft gesprengt hat. Grausige Szenen dazwischen mit dem »tollen Totengebein«, einem wahnsinnigen Krüppel, der in der furchtbaren Nacht um den Sterbenden tollt. Der Blinde kommt, und sie tragen Emanuel, den sie schon gestorben glauben, zu seinem Grabe. Dort erwacht er noch einmal. Noch immer weiß man nicht, ob er wirklich sterben wird oder ob nur der Paroxysmus der Todeserwartung ihn vorübergehend niederwarf. Emanuel glaubt sich gestorben und in einem schöneren Jenseits. Die Mondscheibe hält er für die Erde über sich. Eine paradiesische Beschreibung der Sommernacht verkehrt die Erde zum Himmel. Emanuel erzählt seinen Traum von der auflösenden großen Wonne. Er stirbt. Es ist das Ergreifende an diesem Tod, daß der dem Leben abgekehrte Weise dennoch der Angst der Kreatur unterworfen ist. Er will sterben, und dennoch packt ihn der Todesschrecken.

Ein neues Geheimnis hat der Sterbende aufgedeckt: Viktor ist nicht der Sohn des Lords, sondern des Pfarrers Eymann. Der Blinde hingegen ist, was Viktor zu sein glaubte. Mit dieser Nachricht glaubt Viktor sich nun ganz von seinem bisherigen Leben geschieden. Vier Tage trauert er mit Julius in der Lindenhütte Emanuels und an seinem Grabe, dann führt er den Blinden mit sich nach Flachsenfingen. Die Vergangenheit ist für ihn tot. Auch Klothilden entsagt er, da ihr Vater ihm, dem Bürgerlichen, die Hand der Tochter verweigern würde. Aber das nicht allein ist der Grund seiner Entsagung. Er fühlt allzusehr den Unstern, der über dieser Liebe hing. In Obermaienthal sieht er die Kutsche Le Bauts. Die Pfarrerin und Klothilde sind auf dem Wege nach England. Furchtbares hat sich während des Todeskampfes von Emanuel ereignet: Le Baut ist im Duell erschossen, Flamin im Gefängnis, Matthieu geflohen. Eine letzte Unterredung mit Klothilde zeigt die trostlose Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe. Eine erschütternde »Über-die-Welt-hinaus«-Stimmung liegt über ihnen, etwas Wehmütig-Überirdisches, das eigentlich von Anfang an der Grundton dieser Liebe war. Morgens um vier Uhr langt er mit Julius in Flachsenfingen an.

In der Residenz erfahren wir Näheres. Matthieu hat Flamin aufgehetzt, Le Baut zu fordern, da er die ihm bereits zugesagte Hand seiner Tochter einem andern gegeben hätte. Ein vermummtes Duell fand statt, bei dem Matthieu, überraschend dazwischentretend, den Oberstkammerherrn erschoß. Flamin, der also unschuldig im Gefängnis sitzt, hat den Entschluß gefaßt, sich für die Idee der Freiheit zu opfern. Vor dem Tode will er das Volk zur Freiheit aufrufen und dann sterben. Aus seinem Blute, glaubt er, wird die Revolution geboren werden. Der Engländer, der in der Nacht nach Kussewitz zu Matthieu reitet, der dort versteckt ist, sprengt unterwegs den Pulverturm als Signal der kommenden Ereignisse in die Luft. Es ist die Explosion, die den sterbenden Emanuel niederwarf. Matthieu hat den Engländern verraten, daß Flamin der Sohn des Fürsten ist.

Viktor rast ohnmächtig in seiner Wohnung. Er hat von Flamins Todeswillen gehört, läßt sich dem Fürsten melden, um den Freund zu retten, wird aber kalt abgefertigt. Matthieu kommt nach Flachsenfingen zurück, um Flamin zu retten. Er offenbart dem Fürsten, daß Flamin sein Sohn ist, und hetzt Januar gegen den Lord und Viktor auf. Zum Beweis für Viktors Untreue berichtet er die Geschichte von dessen Verkleidung bei der Übergabe der Braut in Kussewitz und dem in die Uhr gesteckten Zettel. Der Italiener Tostato wird verhört, Hofkaplan Eymann ins Schloß befohlen. Der Minister selbst eilt nach St. Lüne und teilt den Damen Le Bauts Flamins Abstammung mit. Klothilde und die Pfarrerin sind von ihrer Reise zurückgekehrt, und mit ihnen kam die Lady, Klothildens und Flamins Mutter, die Nichte des Lords. Flamin wird befreit. Selig stürzt er zu Klothilde und umarmt sie als Schwester.

Viktor lebt mit dem Blinden fern von allen Menschen und Ereignissen. Er hat nur den einen Gedanken, Flamin zu befreien. Eine Stunde vor seinem Tode darf er das Geheimnis von Flamins Abstammung verraten. Jetzt will er es an den Tag bringen und dann sterben. Durch die Revolutionskrämpfe der Handlung klingt seine Opferbereitschaft. Als Gerücht hört er von den Aufklärungen, die inzwischen durch Matthieu und die Engländer erfolgt sind. Jetzt will er leben für seine Mutter, die Pfarrerin, die in Flamin den geliebten Sohn verlor. Er stürzt nach St. Lüne. Auf der Lindenkanzel, auf der die Freunde sich ewige Treue geschworen, sinken nun Viktor und Flamin einander in die Arme, und auch das letzte Hindernis, das die Liebenden trennte: die bürgerliche Abstammung Viktors, wird hinweggeräumt. Klothilde wußte als Vertraute des Lords längst, daß Viktor der Sohn der Pfarrersleute und nicht des Lords ist. Ihre Mutter, die Lady, segnet ihren Bund. Der eigentliche Roman ist damit beschlossen.

Zur völligen Lösung aller Hindernisse bedarf es jedoch noch der Person des Lords, und dieser ist unauffindbar. Viktors italienischer Bedienter pflegte die Briefe an den Lord zu besorgen, ist aber auf einmal verschwunden. Jean Paul greift auf die humoristische Einkleidung des Ganzen zurück. Er selbst, Jean Paul, der Empfänger der Hundsposten, begibt sich von seinem Wohnsitz in den künstlichen Molucken nach Flachsenfingen, um dort die Zueignung des Romans zu schreiben. In Hof stößt er auf den Lord, der in prachtvoller Kalesche durch das Land fährt. Auf der Weiterfahrt wird Jean Paul im Walde überfallen und mit verbundenen Augen verschleppt. Er findet sich auf der Insel der Verheißung wieder. Dort löst sich alles im Augenblick. Der verschwundene italienische Bediente Viktors ist niemand anders als der Absender der Hundsposten Knef, eigentlich Dr. Fenk. Der unerkannt auf den sieben Inseln lebende Mosge, der fünfte Sohn des Fürsten, ist nun auch gefunden, nämlich in der Person Jean Pauls selber, der von seiner hohen Abstammung keine Ahnung hatte. Flamin und die drei Engländer sind seine Brüder. Der Lord hat dem Fürsten bereits alle Geheimnisse entdeckt. Noch einmal vereinigt sich die ganze Gesellschaft in Maienthal. Der Tod des Lords bildet den ernsten Schlußakkord des Buches. Auf das Marmorherz über seinem längst bereiteten Grabe werden die Worte geschrieben, nach denen das rastlose Herz des gewaltigen Mannes seit langem sich sehnte: »Es ruht!«

Die aus dem Rahmen des Ganzen herausfallende Auflösung des Schlusses, die gewissermaßen vorwegnimmt, was wenige Jahre später als »romantische Ironie« von Friedrich Schlegel heiliggesprochen wurde, wird unbefriedigt lassen. Dieser willkürliche Schluß löst eigentlich den ganzen Roman als Dichtung auf. Die Abneigung des Dichters gegen den üblichen Romanschluß mit seiner glücklichen Auflösung aller Hindernisse tritt in dieser Travestierung hervor. Fast mit einem trivialen Witz wird eine Handlung beschlossen, die den Leser durch alle Höhen und Tiefen der Empfindungen riß. Aber zugleich ist dieser Schluß für Jean Paul ungeheuer charakteristisch. Er empfindet seine Dichtung nicht als aufgebauten und der Wirklichkeit eingeordneten Roman, der sich nun, den Gesetzen der Wirklichkeit entgegen, in allen Teilen zum Schlusse runden müßte. Wir haben hervorgehoben, wie seine Form nicht aus der Architektur, sondern aus einem musikalischen Gefühl heraus geboren ist. Musik hat kein Ende, so kann auch sein Roman kein Ende haben, kann nicht im hergebrachten Sinne »schließen«, in der wörtlichen und übertragenen Bedeutung verstanden. Und wenn er sich dennoch einer eingewurzelten Vorstellung nachgebend schließt, so will der Dichter wenigstens andeuten, daß diese Form seinen Intentionen nicht entspricht. Er travestiert sie. Freilich ist damit noch nichts gewonnen, sondern sogar der musikalische Charakter der ihm eigenen Form zerstört. Auch hierin weist der »Hesperus« über sich hinaus. Gerade an diesem unglücklichen Schluß erkennen wir, daß Jean Paul seine Form noch nicht ganz gefunden, daß er noch einmal, zum dritten Male, nach ihr suchen wird, ehe sie uns im »Titan« in Vollkommenheit begegnet.

Wir sind in unserer Darstellung der Linie der Begebenheiten gefolgt und mußten am Ende feststellen, daß diese Linien nicht zum beruhigenden Ende geführt werden. Aber das zeigt nur, daß die lineare Führung nicht das Wesentliche dieses Werkes ist. Wesentlich ist es in der Gruppierung der Massen, die wie Wolkengestalten oder wie Gebirge an uns vorüberziehen, und von dieser Einstellung aus ist die Komposition in der Tat etwas Ungeheures. Noch nie ward solcher Reichtum in einen verhältnismäßig engen Raum gepreßt. In der »Vorschule der Ästhetik« unterscheidet Jean Paul drei Klassen von Romanen, die italienische, deutsche und niederländische. Im »Hesperus« sind sie alle enthalten. Die niederländische in der ländlichen Idylle des Pfarrhauses, die deutsche in der Empfindsamkeit seiner Helden, die italienische in dem hohen Schwung der Darstellung, dem titanischen Streben der Hauptgestalten. Alle diese Elemente durchdringen hier einander. Man halte nur einmal die poetisch verklärte Welt von Maienthal, die festliche Todessehnsucht Emanuels gegen den Freiheitsrausch der drei Engländer in St. Lüne und die Totenrede Viktors vor seinem Bild. Wie dann in der Todesstunde des Inders diese Welten ineinanderwogen, der in die Luft gesprengte Pulverturm den Sterbenden niederschmettert wie das Gewitter einer höheren Welt. Wie diese Explosion zugleich ein Zeichen von dem eingekerkerten Flamin ist, der sich für die Freiheit opfern und vom Schafott herab das Volk zur Revolution aufrufen will: solches Vorbei- und Ineinandertaumeln von Stoffmassen war vor Jean Paul noch nie gewagt worden. Man hat immer den Eindruck, daß der Höhepunkt erreicht sei, und dennoch geht es gerade dann in schwindelnder Kurve aufwärts. Wenn man die Sicht zu verlieren fürchtet, gerade dann steigen von den Horizonten ganz neue Welten und Aussichten in den Gesichtskreis. Etwa die drei Pfingsttage in Maienthal sind lehrreich für Jean Pauls schöpferische Kraft. Mit dem Sichfinden der Liebenden in der verwachsenen Laube glaubt man den Höhepunkt der Tage von Maienthal erreicht zu haben. Aber sie haben noch gar nicht begonnen, haben überhaupt erst in der Laube während des Regenspaziergangs die erste Stufe erreicht, und noch eine Unendlichkeit geht es aufwärts bis zu dem Taumel des Kinderfestes, bis zu Viktors seligem Einschlafen im Freien, und noch immer steigend und steigend bis zu dem mitternächtigen Abschied der Liebenden auf Giulias Grab.

Der »Hesperus« ging nun allerdings wirklich noch weit über die »Unsichtbare Loge« hinaus. »Das ist etwas ganz Neues, das ist noch über Goethe!« hatte Karl Philipp Moritz bei dem ersten Eindruck der »Unsichtbaren Loge« ausgerufen. Aber erst im »Hesperus« trat dieses ganz Neue völlig in die Erscheinung. Schon der erste Roman wirkte auf einige wenige wie eine Offenbarung, der »Hesperus« aber riß das ganze Volk hin. Mit einem Schlage wurde Jean Paul zum berühmtesten Dichter seiner Zeit, und eigentlich blieb er den weiten Schichten der Bevölkerung immer der Dichter des »Hesperus«. Das ist das Tragische auch des im vollen Glanze des Ruhmes stehenden Jean Paul. Ein gewaltiger Weg lag noch vor ihm, nur die erste Stufe seines großen Schaffens hatte er eben erst erstiegen, aber die Zeit folgte ihm nicht weiter. Im Strahlenglanz des Ruhms blieb er unverstanden und gedemütigt, mochte er auch seine Kunst höher und höher spannen. Für die Welt bedeutete jedes folgende seiner Werke fast eine Enttäuschung. Das aber war erst das Schicksal der späteren Jahre. Nach dem »Hesperus« fühlte er nur, daß seine Sonne in den Zenith gestiegen war.

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