Letzte Jahre

Schon im März 1819 schrieb Jean Paul: »Ich fühle, was Alter und Vergehen ist, . . . die alte Dichterwelt ist mir untergesunken; ich gehöre nicht zu ihr, denn ich war ihr Schüler, aber ich gehöre auch nicht zur neuen, sondern ich stehe und bleibe allein.« So fühlte er sich zwischen die Zeiten gestellt. Als er begann, kam er aus einer Zeit, die bereits untergesunken war. Zwei Jahrzehnte lang hatte er sich auf dem Höhepunkt seines Schaffens mit der Kurve der Gegenwart berührt. Jetzt war sein Leben wieder abgebogen und trieb der Unendlichkeit zu, indes eine neue Zeit ihn nur noch von fern grüßte. Was in der Welt vorging, berührte ihn nur noch an der Außenseite. Sich von der Gegenwart neu erfüllen zu lassen, blieb ihm versagt. Die Partien des »Komet«, die den Nerv der Zeit bloßlegen sollten, wurden nicht mehr geschrieben. Der Schmerz über den Tod seines Sohnes ließ den Strom, der sich noch einmal in die Lande ergießen sollte, vor der Zeit und plötzlich versiegen. Die europäischen Probleme und das Problem einer deutschen staatlichen und geistigen Verwirklichung waren nicht gelöst worden. Der »Reichskörper« war für lange Zeit endgültig auseinandergefallen, die »Reichsseele« nicht aus den Stürmen der Zeit wiedergeboren worden. Nach zwei siegreichen Kriegen stand man in einem ungeheuren Zersetzungsprozeß. Noch im »Titan« hatte Jean Paul die Zeit in ihrer Gesamtheit in ein einheitliches Werk von geschlossener Wucht bannen können. Jetzt aber klaffte die Welt auseinander. Auf der einen Seite setzte sich die Romantik in einen gesteigerten Mystizismus um, auf der andern Seite zeigte die Tat Karl Sands die politisch überhitzte Stimmung, die sich der studentischen Jugend bemächtigte. Rationalismus und Pietismus, Menschheitsidee und seelische Verinnerlichung, in der klassischen Epoche der deutschen Dichtung für einige Jahrzehnte ineinandergeschmolzen, trieben jetzt wiederum auseinander. Der Geist entbehrte des festen Mittelpunktes, und die schöpferische und gestaltende Kraft hatte ihre zentrale Stellung verloren. Wohl wuchsen große Talente auf, und sie beeilten sich, vor ihrem Aufstieg dem Geiste Jean Pauls ihre Reverenz zu erweisen. Graf Platen, Friedrich v. Raumer, Gustav Theodor Fechner sandten ihm Zeichen ihrer Verehrung; aber schon diese Namen zeigen, auf wieviel verschiedenen Zweigen sich der schaffende oder wirkende Genius niederzusetzen gezwungen war. Was auch noch von bedeutenden Erscheinungen in den nächsten Generationen auftauchen sollte, keine saß mehr im Mittelpunkt der Dinge. Die kritische Teilung Kants in den denkenden, handelnden und fühlenden Menschen trieb auch die Wirklichkeit auseinander. Die Spezialisierung des 19. Jahrhunderts warf bereits ihre Schatten voraus. Weltbürgertum ohne Bodenverwachsenheit, Nationalismus ohne Humanität, Mystizismus, der nicht befruchtend ins Leben zurückschlug, Freiheitsbegeisterung ohne geistige Zucht, Kunst als eine technische Angelegenheit, Lebensführung ohne Verbundenheit mit einem Volks- oder Kulturganzen – das war das Bild der heraufkommenden Zeit. Es fehlte nicht an hohen und höchsten Begabungen, nur an dem geistigen Mittelpunkt, der sie alle zur Einheit verband; nicht an glänzenden Leistungen, nur an einem gesammelten und sammelnden Lebensgefühl. Was jetzt noch kam, war im besten Falle Angelegenheit eines Kreises, einer Partei, nicht mehr der Nation. Die Triumphe, die Jean Paul auf seinen Reisen erlebte, hatten ihn noch eine kurze Zeit über das Fehlen einer kulturellen und völkischen Gemeinschaft hinwegtäuschen können, obwohl es auch hier schon deutlich wurde, daß die Ovationen in erster Linie seinem Namen, nicht mehr seinem Werk galten. Der Tod seines Sohnes aber zeigte ihm, daß die Zeit nicht mehr zu entgegengesetzten Polen spannte, sondern zerrissen war. Es führte keine Brücke mehr zwischen Tat und Gedanken, zwischen Glauben und Kraft.

An einem Septemberabend 1821 stürzte Max Richter, in völlig erschöpftem Zustand aus Heidelberg kommend, plötzlich, ohne vorherige Anmeldung in die Stube und gab drei Tage später in den Armen des Vaters seinen Geist auf. Schon in München hatte Max eine Periode der Schwermut und des Mystizismus durchlebt. Die durch seinen Vater unglückseligerweise vermittelte Bekanntschaft mit Franz Baader sollte ihn bald von neuem in weltabgewandte Aszese hineinführen. Der Vater schickte ihn nach Heidelberg in der Hoffnung, daß dort der Einfluß des Freundes Voß den innerlich gebrochenen Jüngling dem Leben wiedergewinnen würde. Aber gerade Heidelberg wurde für Max verhängnisvoll. Er schloß dort mit Anselm Feuerbach Freundschaft, der noch tief in seiner mystischen Periode befangen war, aus der er sich erst im Laufe des nächsten Jahres herausarbeiten sollte. Der dritte aus dem »Parzen- und Furienverein«, wie Jean Paul es nannte, war Christian Kapp, Sohn eines Baireuther Konsistorialrats, mit dem Jean Paul befreundet war. Kapp, den Max Richter von Baireuth her kannte, schloß damals seine Freundschaft mit dem jungen Feuerbach, die seinen Namen später bekanntmachen sollte.

In langen Briefen rang Jean Paul um die Seele des Sohnes. Als Max sein Studium der Philologie wie Feuerbach mit der Theologie vertauschen wollte, setzte er diesem Plan ein entschiedenes Nein! entgegen. »Die Theologie ist nur eine meinende Wissenschaft; die rechte und wahre Gotteslehre findest du in der Sternkunde, Naturwissenschaft, Dichtkunst, in Plato, Leibniz, Herder, eigentlich in allen Wissenschaften auf einmal.« Auch vor der Vertiefung in Hegel, diesen »dialektischen Vampir«, warnt er, und ebenso muß er dem Sohn entgegentreten, als dieser ihm voller Begeisterung von der Tat Sands schreibt. »Nach seinem Grundsatz dürfte jeder Katholik Luthern, Voltairen und jeden großen protestantischen Minister ermorden.« Aber der Vater hatte, obwohl er von dem Sohn angebetet wurde, jede Einwirkung auf ihn verloren. Vielleicht suchte Max gerade das dem Vater Entgegengesetzte auf, um seine Selbständigkeit einem solchen Vater gegenüber zu behaupten. Die Kluft der Generationen war zwischen ihnen aufgerissen, zu viel Neues stürmte auf den jungen Menschen ein, und unmöglich konnte der Vater, in seiner eigenen Welt wurzelnd und noch immer schöpferisch tätig, dem Sohn auf allen diesen neuen Pfaden folgen, geschweige denn ihm zum Führer dienen. Jedes Geschlecht muß in Irrtum und Erfolg seine eigenen Wege gehen. Der liberale Protestantismus, den Jean Paul den metaphysischen Schwärmereien des Sohnes entgegenzusetzen versuchte, konnte diesen natürlich nicht mehr befriedigen. Professor Corrodi berichtet, daß er Max Richter oft während des Gottesdienstes beobachtete, wie er in lautem Schluchzen zusammenbrach und alle Anwesenden durch die Tiefe seiner Erschütterung rührte. Bald darauf kam Max zu Hause an, statt, wie der Vater gewünscht hatte, eine Rheinreise zu machen. In der Nacht vom 25. zum 26. September 1821 starb er. Jean Paul war mitvernichtet.

Notdürftig vollendete er den dritten Band des »Komet«. Er konnte das Wort »Philologe« nicht mehr aussprechen hören, ohne in Weinen zu fallen. Er floh das Gymnasium, das ihn an Max erinnerte. Als bald darauf seine Augen schwach wurden, schob er es dem unaufhörlichen Weinen um den Sohn zu. Eine unendliche Einsamkeit senkte sich über ihn, und sie hatte ihren Grund nicht nur in dem Tod des Sohnes, sondern vielleicht auch, dem Dichter selbst unbewußt, in dem Gefühl, daß ein Abgrund ihn von der Zeit trennte, die ihm auf dem Fuße folgte. Seines Sohnes haltloser Mystizismus und die Tat Karl Sands, obwohl beide in gewissem Sinne gerade von ihm ihren Ausgang nahmen, zeigten ihm, daß die Welt weitergerollt war, ohne ihn mitzunehmen. Und doch hatte er die Vorrede zu Arnold Kannes erstem Werk geschrieben, und doch konnte Karl Sand seinen Entschluß mit Jean Pauls Schrift »Über Charlotte Corday« begründen, die er beständig bei sich trug und die ihm zur Bibel geworden war. Auch in der öffentlichen Diskussion, die der Tat Sands folgte, spielte diese Schrift eine Rolle. De Wette, der bekannte liberale Theologe, hatte Sands Mutter einen Trostbrief geschickt und in diesem auch Jean Pauls Schrift herangezogen zur Erklärung für die verhängnisvolle und doch aus einem edlen Enthusiasmus erwachsene Tat. Bekanntlich kostete dieser Brief De Wette sein Amt. Jean Paul selbst benutzte jede Gelegenheit, um von der Tat seines Wunsiedler Landsmanns abzurücken. Genau wie er von jetzt ab sich scharf gegen den Mystizismus der Zeit wandte. Es war die Vorrede zur zweiten Auflage der »Unsichtbaren Loge«, in der Jean Paul diese Richtung, und mit ihr auch E. T. A. Hoffmann, verdammte, dessen »Prinzessin Brambilla« sein Mißfallen erregt hatte. Auch sein Aufsatz »Wider das Überchristentum« ist aus dieser Kampfeinstellung gegen den Mystizismus zu erklären, der seinem Sohn das Leben gekostet hatte. Die Zeit hatte sich gewandelt. Der prophetische Verkünder des persönlichen Gottes und der Unsterblichkeit wurde vor den Verstiegenheiten seiner Abkömmlinge zu einem gemäßigten und liberalen Protestantismus gedrängt. Es war Abwehr gegen die Zeit, nicht mehr schöpferische Kraft, die hier zutage trat. Und doch kehrte sich gerade infolge des Verlustes seine Seele der Unsterblichkeit zu. Noch einmal regte sich der Genius in ihm, um auf ein erschütterndes Erlebnis im Werk zu antworten. Die Gestalten des »Kampanertals« kamen wieder. Mitten aus den »Hesperus«triumphen hatte es ihn damals getrieben, seine Gedanken über die Unsterblichkeit der Seele für die schwankenden und zweifelnden Frauen niederzulegen. Jetzt, da sein Sohn ihm entrissen war, mußte er sich von neuem in den Unsterblichkeitsgedanken als letzten Trost hineinbohren.

Damals hatte er in jugendlich überschäumender Phantasie die Gespräche über die Unsterblichkeit in das prächtige Pyrenäental verlegt. Eine herrliche Natur, großartige Bilder umstanden als Hintergrund diese Gespräche, die in einer romantischen Zauberfahrt mit der Montgolfiere ihren Abschluß fanden. Vor solcher Umwelt bebte sein müder Geist jetzt zurück. Wenn er die Gestalten dieser Gespräche noch einmal beschwören wollte, so mußte er sie nach Deutschland zurückziehen, auf vertrautem Boden sich mit ihnen begegnen. Bald nach dem Tode des Sohnes kam ihm der Plan zu diesem Werk, das die Gestalten und die Gedanken des »Kampanertals« noch einmal aufgreifen sollte. Die letzte große Schrift »Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele« wurde damals empfangen. In furchtbarer Einsamkeit, durch fortwährendes Gedenken an den Sohn verdüstert, ging der Winter vorüber. Er versuchte seines Schmerzes Herr zu werden, gab sich Zerstreuungen und anstrengender Tätigkeit hin, aber sein Leben blieb eine einzige große Wunde.

Erst der Frühling des Jahres 1822 sah ihn so weit, daß er sich wieder in die Welt wagen konnte. Keine der alten Stätten, die er noch zu Lebzeiten des Sohnes besucht hatte, war ihm zu besuchen möglich. Weder München noch Heidelberg hätte er ertragen können, nicht einmal den fröhlichen Kreis in Löbichau. Aber reisen wollte er. »Ach, ich brauche jetzt so viel,« schrieb er im März an seine Schwägerin Minna Spazier, die in Dresden lebte, »nicht um zu vergessen – was nicht möglich ist –, sondern um die Erinnerung auszuhalten.« Es war nur natürlich, daß er sich in seiner Verlassenheit näher an seine Familie anschloß und als Reiseziel Dresden bestimmte. Am 5. Mai traf er dort ein. Minna hatte ihm eine Wohnung beim Registrator Aderholt vor dem Wasserturm in den neuen Anlagen der Neustadt besorgt. »Selig lieg' ich am Morgen auf meinem Sopha und auch Abends vor der Sonne – ich mag kaum ausgehen.« Dennoch mußte er gleich am ersten Tag zu Elisa v. d. Recke, die nach Dresden übergesiedelt war. Unlustig ließ er die Ehrungen über sich ergehen. »Ich mußte neben Elisa sitzend vor dem ausgedehnten Zirkel mich hören und sehen lassen; es ist kein Spaß.« Natürlich besuchte er auch Tieck, und wieder zeigte sich, daß Tieck der einzige von den Romantikern war, der ein aufrichtiges Verhältnis zu Jean Paul hatte. Tieck schrieb ihm in seinem Abschiedsbrief: »Ein gerührtes Freundesherz sieht Ihnen nach mit dem vollsten Gefühle, was Sie meiner Jugend waren, was Sie dem Manne sind und künftig immer sein werden.« Bei Tieck traf er auch nach langen Jahren wieder Helmina von Chézy. Aber sie erinnerte ihn jetzt nicht mehr an seine Liane. Die Zeit hatte sie »unkenntlich verdickt«.

Der Sprachforscher Wolke, zu dessen vorzüglichsten Anhängern Jean Paul gehörte, kam von Leipzig herüber, um ihn zu begrüßen. Wolke hatte bekanntlich mit seiner Sucht, die Endung »-ung« im Deutschen fortzulassen, auch auf Jean Paul eingewirkt, und es war Wolkes Einfluß, wenn er seine »Levana« eine »Erziehlehre« statt »Erziehungslehre« genannt hatte. Seite an Seite mit Wolke hatte Jean Paul auch gegen das Verbindungs»s« angekämpft und diesem Gedanken sogar eine stattliche Reihe von Aufsätzen in Cottas »Morgenblatt« gewidmet, die er später unter dem Titel »Über die deutschen Doppelwörter« sogar als Buch hatte erscheinen lassen. Wolkes Versuche, die Sprache zu reformieren, waren natürlich gänzlich ergebnislos, und es war kaum mehr als eine Schrulle Jean Pauls, sich für Wolke einzusetzen. Weniger herzlich als der Reformer wurde in Dresden Adolf Müllner, der Vater der Schicksalstragödie, von Jean Paul begrüßt. Jean Paul lehnte es entschieden ab, diesen Mann, den er für anrüchig hielt, zu empfangen, und Müllners unablässige Versuche, vorgelassen zu werden, führten zu einigen komischen Szenen.

Am wichtigsten aber sollte für den alternden Dichter seine Bekanntschaft mit seinem Neffen Richard Otto Spazier, dem Sohne Minnas, werden. Spazier war damals ein junger Student, noch nicht sehr um Wissenschaften und Künste bemüht. Von seinem berühmten Oheim hatte er noch nichts gelesen und sah überhaupt diesem Besuch mit Zweifel und Angst entgegen. In Minnas Familie galt Jean Paul in erster Linie als strenger Erzieher seiner Kinder und seiner Umgebung, deshalb ging der junge Mann seinem Oheim zunächst aus dem Wege, bis die Mutter schließlich eine Begegnung erzwang. Da Richard Otto im gleichen Monat wie der verstorbene Max Richter geboren war, glaubte Minna ihren Sohn dazu ausersehen, dem von ihr geliebten und angebeteten Schwager den verlorenen Sohn zu ersetzen, und in der Zukunft sollte Spazier dem vereinsamten Jean Paul fast mehr als ein Sohn werden.

Wie erstaunte der junge Student, als er endlich dem gefürchteten Oheim gegenübertrat, über Jean Pauls milde und zurückhaltende Art. Die ausführliche Beschreibung seines Verhältnisses zu dem Dichter, die Spazier später in seiner großen fünfbändigen Biographie gab, ist die rührendste und schönste Schilderung des Dichters in seinen letzten Jahren, die wir haben. »Während ein starker, doch untersetzter, nachlässig in einen unscheinbar grünen Sommerrock gekleideter, freundlicher Mann mit gebräuntem starken Gesicht, einem den Blick des andern nicht niederschlagenden mildstrahlenden blauen Auge in meinen Zügen und dem Profile forschte, fühlte der innere Mensch sich gleich so freigelassen, um mit Vergnügen auf dem danebenstehenden Stuhle den gelben Strohhut mit grünem Futter, dabei einen starken Stock und einen weißen Pudel mit einer Leine um den Hals zu bemerken.« Jean Paul wurde von dem Jüngling sogleich aufs innigste angezogen. Seltsamerweise traf er ihn in einer Situation, die ihn an seine eigene Jugend erinnern mußte. Spazier hatte genau wie Jean Paul in seinen jungen Jahren die Halsbinde abgeworfen, um der Welt eine freie offene Brust zu bieten. Darüber war es zu einem Zerwürfnis mit dem Vormund gekommen. Feurig ergriff Jean Paul sogleich Spaziers Partei, um so lieber, da ihm der Vormund, der Dichter Mahlmann, ebenfalls mit einer Schwester seiner Frau verheiratet, von jeher zuwider gewesen war. Was Spazier aber am meisten sogleich bei der ersten Begegnung an Jean Paul lieben lernte, war seine zurückhaltende Art, die es ängstlich vermied, in die Freiheit eines andern einzugreifen. Selbst über seine Bücher sprach er mit dem Jüngling nicht, und als einige Wochen später Spazier den »Titan« gelesen hatte und nicht sonderlich davon angezogen war, entschuldigte der berühmte Autor den Neffen und führte das Beispiel Jacobis an, der gerade von Lindas Untergang nicht weniger zurückgestoßen worden wäre. »Erst später«, schreibt Spazier, »sah ich ein, daß er sich ein Gewissen daraus gemacht hatte, in der Epoche der Entwicklung, in welcher ich mich befand, irgendwie direkt oder indirekt auf die Richtung derselben dadurch zu influenzieren, daß er eine so gewaltige Welt, wie seine verständlichern Werke enthielten, in meinen Weg zu werfen versuchte. Ich muß es noch heute für ein Glück halten, daß ich damals auch in dieser Beziehung noch von ihm freigelassen blieb.«

Auch von den sonstigen Bekanntschaften, die Jean Paul in Dresden machte, und von seiner Art zu leben, erzählt Spazier aus eigener Anschauung. Scheu verschloß sich der Dichter damals gegen stärkere Eindrücke. Keine der schönen, ihn umschwärmenden Frauen kam ihm mehr näher. Mit Eigensinn vermied er es, Menschen, die ihm gefallen hatten, mehr als zweimal zu sehen, wie er auch die ihm am liebsten gewordenen Häuser nicht mehr als zweimal besuchte. »Welche Todesangst litt ich oft,« schreibt eine Bekannte Spaziers, »wenn er etwa manche dargebotene Hand gar nicht ergriff und diese unberührt wieder sinken mußte; oder andere, die ihm vorgestellt sein wollten, Minuten lang hinter seinem Stuhle reden ließ, ohne die Stellung zu verändern, die ihrem Annahen hinderlich war.« Was bedeuten aber diese Eigenheiten, aus einer müden und abwehrenden Haltung geflossen, gegen die rührende Hilfsbereitschaft, die er sofort zeigte, wo wirklich zu helfen oder teilzunehmen war. Ein kleines Mädchen, der er ihre rasenden Zahnschmerzen mehrmals durch magnetische Striche gelindert hatte, stürzte eines Nachts zu seiner Wohnung, ließ ihn aus dem ersten Schlafe wecken, und wirklich ging der alte Mann barfuß die Treppe hinunter und heilte sie.

Diese Dresdener Wochen, die Jean Paul meistenteils bei seinen Verwandten verlebte, waren die letzten heiteren Wochen seines Lebens. Schon in Dresden sollte das Unglück offenbar werden, das seine letzten Jahre verbitterte. Böttiger, der inzwischen nach Dresden übergesiedelt war, erblindete in diesen Tagen vorübergehend. Jean Paul, zur Hypochondrie neigend, prüfte nun auch seine Augen und mußte plötzlich feststellen, daß die Sehkraft seines linken Auges erheblich nachgelassen hatte. Sofort nahm Jean Paul nach seiner Art den Kampf gegen das beginnende Übel auf. Die verschiedensten Brillen, Lampen, Dochte, Veränderungen der Körperlage beim Arbeiten, die verschiedensten Diäten wurden versucht, medizinische Bücher durchgearbeitet, Hypothesen aufgestellt. Nur zu einem richtigen Augenarzt zu gehen, konnte sich der Dichter nicht entschließen. Später schickte er genaue Aufzeichnungen seines Leidens und der Symptome an verschiedene Ärzte, aber diese Beschreibungen konnten natürlich eine körperliche Untersuchung nicht ersetzen. Jean Paul suggerierte sich und andern, daß es sich um den grauen Star handelte, der fortoperiert werden könne. Aber es war die beginnende Auflösung des ganzen Körpers, die zuerst die Augen befallen hatte.

An Schonung dieses für den Schriftsteller wichtigsten Organs war auch keineswegs zu denken. Zu Hause mußte die zweite Auflage des »Dr. Katzenberger« besorgt werden. Man weiß, wie gründlich Jean Paul seine Werke umarbeitete, bevor sie erneut in die Welt hinausgingen. Dennoch trug ihn diese Arbeit noch in einigermaßen heiterer Stimmung durch den Sommer 1822 hindurch. Im Herbst aber traf ihn der letzte schwere Schlag, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Im November starb ganz plötzlich, ein Jahr nach dem Tode Max Richters, sein Herzensfreund Heinrich Voß im 43. Lebensjahr. Erst Monate später war er imstande, der Mutter des Freundes sein Beileid auszudrücken. »Ach, er und mein Max liegen in meiner Seele in einem Sarge; auf der Erde erwarte ich niemand mehr, der mich zum zweiten Male so liebt.«

Es war der Tod des Freundes, der ihn wiederum zu der bereits nach dem Tod des Sohnes begonnenen »Selina« zurückführte. Wir haben bereits gesehen, wie Jean Paul in diesem seinem Schwanengesang die Personen des »Kampanertals« nach Deutschland in die vertrauteren Gefilde zurückgeführt hat. Noch einmal baut er eine selige Welt auf, um in ihr die Gespräche über die Unsterblichkeit der Seele liebenden und geliebten Menschen in den Mund zu legen. Baron Wilhelmi, dessen Hochzeit mit Gione im »Kampanertal« gefeiert wurde, und sein Freund, der Rittmeister Karlson, haben sich zwei herrliche Landsitze, Falkenburg und Wiana, gekauft. Hier leben die Familien, in enger Freundschaft verbunden. Gione ist gestorben, aber sie lebt in ihrer herrlichen Tochter Selina fort, deren Verlobter Henrion ausgezogen ist, um für die Befreiung Griechenlands zu kämpfen. Karlson hat zwei Kinder, Nantilde, Selinas Freundin, und Alex, den Kraftvollen, auf der Erde Heimischen, der sich in den Gesprächen gegen die Unsterblichkeit wendet, aus einem überschäumenden Diesseitsgefühl heraus. Den einzelnen Abschnitten hat Jean Paul die Planeten als Überschriften gegeben. Durch alle Planeten hindurch, vom Uranos bis zur Sonne, sogar auf den freundlichen Monden verweilend, sollte die Unsterblichkeitswanderung gehen. Es hätte in Jean Pauls Art gelegen, zuerst das ganze Buch niederzuschreiben und dann zum Druck durchzuarbeiten. Diesmal verfuhr er anders. Nur wenig war er über die ersten fünf Abschnitte hinausgekommen, als er mit der weiteren Fortführung abbrach und erst diese Abschnitte fertig machte. Deutlich mochte sich ihm das Bewußtsein aufdrängen, daß er das ganze Werk nicht mehr vollenden würde. Christian Otto, der die Schrift nach Jean Pauls Tode herausgab, fügte einige Aphorismen und aus den Studienbüchern über den geplanten Fortgang der Arbeit so viel an, daß wir ihren weiteren Verlauf erraten können. Selina und ihr Freund Henrion sollen danach beide gleichzeitig an ihrem Geburtstag sterben. »Die höchsten, das Gefühl ansprechenden Trostgründe kommen nach Henrions Tode«, hatte der Dichter sich vorgenommen. Wir kennen aus den Romanen die Kraft des Dichters, wenn schon der Höhepunkt der Darstellung erreicht scheint, die Gestaltung noch weit darüber hinauszutreiben. Genau so hatte er es in der »Selina« beabsichtigt. Wie ihm erst nach dem Tode des Freundes die letzten und großartigsten Gedanken über die Unsterblichkeit aufgegangen sein mochten, so wollte er erst nach dem Ferntode des Freiheitskämpfers Henrion das Werk zu seinem Gipfelpunkt hinantreiben. Wie auch der »Komet« noch eine grandiose Steigerung erfahren sollte. Aber die Kraft reichte nicht mehr aus. Voller Ehrfurcht betrachten wir die letzten Ausläufer dieser vielleicht gewaltigsten Schaffenskraft, die die deutsche Dichtung hervorgebracht hat. Am Ende seines Werks steht Selina, diese Synthese von der Zartheit Lianens, von der innigen Stärke Idoines und dem hohen Geistesschwung Lindas. Ein zugleich rührender und gewaltiger Torso, alle Planeten- und Sonnenkreise durchsuchend.

Unter unendlichen Qualen ging die Arbeit an der »Selina« vorwärts. Jean Paul war nunmehr völlig vereinsamt. Sogar mit dem besten Freunde Emanuel gab es einen Bruch, der anderthalb Jahre anhielt. Ein Baireuther Regierungsrat Krause verfolgte Jean Paul mit feindlicher Gehässigkeit. In der Neckarzeitung veröffentlichte er schließlich einen jedes Maß übersteigenden Aufsatz, auf den Jean Paul energisch zu antworten gezwungen war. Emanuel nahm Jean Paul seine schonungslose Polemik gegen Krause übel und kehrte dem Freunde den Rücken, als dieser auf der Straße mit ausgebreiteten Armen auf ihn zuging. Jean Paul litt außerordentlich, als Emanuel, der ihn in allen praktischen Dingen beraten hatte, fortblieb. Je mehr das Augenübel sich verschlimmerte, desto mehr fehlte ihm auch der geistreiche Plauderer, der bisher jeden Tag in der Dämmerung zu ihm gekommen war, um ihm die Zeit zu kürzen. Das Verhältnis mit Christian Otto hatte schon längst an Herzlichkeit eingebüßt. Erst nach Jean Pauls Tode machte Otto seine alten Freundschaftsrechte geltend und besorgte auch, sehr zum Schaden der Sache, die Ausgabe der sämtlichen Werke.

Es war im Herbst 1823, als Richard Otto Spazier zum erstenmal nach Baireuth kam, um bei Richters einige Wochen zu verleben. Diesmal ließ ihn die Atmosphäre des Hauses nicht mehr los, und wenn er auch schließlich abreiste, so blieb er von da ab doch in ständiger Fühlung mit seinem großen Oheim und siedelte schließlich ganz in das Haus über, um Zeuge der letzten Wochen zu werden. Für Jean Paul war diese Verbindung nicht weniger wichtig als für den Neffen. Zum erstenmal kam er wieder mit einem der besten Vertreter der akademischen Jugend in nahe Berührung, und es sollte sich bald zeigen, in welchem Teil der deutschen Jugend ihm ein Fortleben beschieden war. Börne und Richard Otto Spazier waren die beiden Männer, die das Gedächtnis des Dichters in die Zukunft retten sollten, als das übrige Deutschland ihn allmählich vergaß. Es waren die Vorkämpfer der Freiheit in den dreißiger Jahren, die etwas von dem Geiste Jean Pauls in das Jahrhundert weitertrugen. Spaziers Schilderungen von dem häuslichen Leben Jean Pauls in seinen Jahren sind von unschätzbarem Wert. Er schildert, wie eng die Familie mit dem geliebten Vater verwachsen war. Was nach außen hin wie Strenge aussah, war im Innern nur das Band hingebenster Liebe, das alle Familienmitglieder umschlang. Kein Zettel kam ins Haus, von dem Jean Paul nicht wußte. Keine Bekanntschaft wurde angeknüpft, die er nicht billigte, aber seine Macht übte er nicht als Tyrann aus, sondern als wahrhaft väterlicher Berater der Seinen, und so ordnete sich ihm alles freiwillig unter, glücklich, wenn ein Strahl seiner großen Liebe den verborgensten Winkel des Daseins beleuchtete. Immer wieder trat die Scheu Jean Pauls zutage, sich unbefugt in das Innenleben eines andern Menschen einzudrängen. So überließ er den Neffen während seiner Besuchswochen fast ganz der Familie, um nicht durch seine überragende Persönlichkeit die Unbefangenheit des Kennenlernens zu stören. Er hatte es gern, wenn man ihn in der Dämmerstube besuchte, aber er lud niemals dazu ausdrücklich ein, um auch nicht entfernt einen Zwang auszuüben. Schon bei der Beschreibung ihrer Begegnung in Dresden sagt Spazier, daß es dem Dichter wahrscheinlich unendlich wohlgetan hätte, »wenn schon damals der einzige Jüngling, der ihm so nahe zu treten ein Geburtsrecht und Gelegenheit hatte, mit Vertrauen, Wärme, Offenheit sich an ihn angeschlossen und ihm die volle Anteilnahme an seinem innern frischen Jugendleben gegönnt hätte! – Aber um so ehrwürdiger steht hierdurch der ebenso weise Seelenkenner als liebevoll sorgende uneigennützige Mann da, weil er nur zu wohl wußte, wie leicht die geistig moralische Selbständigkeit eines Jünglings in einen großen Menschen sich verliert.«

»Nur einige Mal daher trat ich damals in das Heiligtum seiner Studierstube, wo es ihm Freude machte, seine Einrichtungen zu zeigen. – Sie machte einen äußerst eigentümlichen Eindruck. Ein wunderbarer, aus dem Geruch von Blumen und Wein gemischter Duft wehte die Phantasie außerordentlich romantisch an. Aus seinen Fenstern, die dem Aufgange der Sonne entgegenlagen, schweifte der Blick über Gärten, hohe Bäume und einzelne Häuser hin zu dem blauen Fichtelgebirge, das den fernen Horizont umgrenzte. Mitten in der Stube stand ein unscheinbares Repositorium mit eisernen Klammern am Boden festgemacht, mit Exzerpten und Manuskripten bis oben heran gefüllt, dem Fenster parallel, das im Sommer die aufgehende Sonne zuerst begrüßte; zwischen beiden der Sopha, auf dem er gewöhnlich halbliegend las und dem deshalb zur größeren Bequemlichkeit und Veränderung der Stellung die Fußlehne fehlte. Davor der eichene Schreibtisch; auf diesem die ausgesuchtesten Federn neben dem verschiedenartigsten, selbst buntfarbigen Papier auf sorgfältigster Unterlage – Gläser, Brillen, Blumen, Bücher –, unter letzteren immer die kleinen englischen Ausgaben von Swift und Sterne – in der bestimmtesten Ordnung. An dem andern Fenster ein kleines (Musik-)Instrument, und neben diesem ein kleiner Tisch, von dem Kanarienvögel aus ihren Behältnissen oft auf einer kleinen Leiter zu seinem Arbeitstisch und von da auf seine Schultern stiegen. Rings an den Wänden andere Repositorien mit Büchern. Alles, was er brauchte, hatte nach der genauesten Überlegung der höchstmöglichen Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit Gestalt und Ort; aber ein an die gewöhnliche Ordnung gewöhntes Auge wäre vielleicht vor seiner Stube ebenso erschrocken als er vor Roquairols im ›Titan‹. In der einen Stubenecke, noch an der Türe, durch die er einen besondern Ausgang zur Treppe hatte, bei dem Kissen, auf dem ein weißer, seidenhaariger Pudel ruhte, hing eine lederne gestickte Jagdtasche und neben ihr lehnt ein großer Rosenholzstock; – alle drei die Begleiter auf seinen Gängen, wenn er in die Gärten seiner Freunde oder dem Fichtelgebirge zu durch die Kastanienallee zu dem Häuschen der Frau Rollwenzel, dort zu arbeiten, wanderte, bis wir ihn zum ländlichen Mahl bei der freundlichen und originellen eben genannten Frau abholten.«

So sehen wir den Dichter zwischen seinen Büchern und Repositorien leben, von Kanarienvögeln umhüpft, dem Dasein fast schon abgestorben. An den über hundertjährigen Fibel muß man bei Spaziers Schilderung denken. Ein Hauch von Rührung und Ehrfurcht geht von dieser Erscheinung aus. »Je größer die scheue Ehrfurcht war, mit der man an seiner geistigen Größe und moralischen Strenge hinaufsah, desto entzückender und heimlicher war der Genuß des Kindlichen und Reinmenschlichen, was er um sich herum zu betten gewußt.«

Man kann vielleicht die geleistete Arbeit dieser Jahre gering nennen. Die »Selina«, die nicht fertig wurde, beschäftigte ihn zumeist. Daneben redigierte er aber auch die »Kleine Bücherschau«, die seine gesammelten Rezensionen enthielt, und immer gab es eine neue Auflage eines älteren Werkes durchzuarbeiten. Je schwerer ihm die dichterische Produktion fiel, um so mehr gab er sich diesen redigierenden oder korrigierenden Arbeiten hin. Nicht zum wenigsten aber nahm nach wie vor eine ungeheure Korrespondenz seine Kraft in Anspruch. Jedes Menschliche, das ihm nahte, nahm er mit liebevoller Sorgfalt auf. Unzähligen war er Berater und Freund. Aus den fernsten Gegenden, aus allen Ständen wandten sich Menschen mit den merkwürdigsten Angelegenheiten an ihn, und nie enttäuschte er. Hierin blieb er bis in seine letzten Wochen der Armenadvokat, als der er sein Schaffen begonnen hatte.

Im Frühling 1824 traf Spazier wiederum in Baireuth ein und blieb nunmehr ein ganzes Vierteljahr dort. Damals bereits nahm die Auflösung des alternden Körpers zu. Die Augen waren so schwach geworden, daß sie nur noch mit Mühe den allerdringendsten Dienst erlaubten. Eine unentschlossene Müdigkeit beherrschte Jean Paul. Kaum konnte er sich entschließen, das Haus zu verlassen. Er, der sonst immer den ersten schönen Frühlingstag herbeigesehnt hatte, um ins Freie zu gelangen, ging diesmal erst im Mai aus, als schon längst die Natur in voller Blüte prangte. Im Herbst hatte das Augenlicht so abgenommen, daß er, der Vorlesen haßte, sich abwechselnd von den Seinigen vorlesen ließ. Kam Besuch, so zog er sich mürrisch und verbissen in seine Stube zurück, den Anblick der Menschen fliehend, »hypochondrisch dabei zweifelnd an der Ergebenheit selbst der Seinigen«.

In dieser Weise quälte er sich bis in den Sommer 1825 fort, als Spaziers Rückkehr aus der Schweiz noch einmal einen vorübergehenden Aufschwung in seinem Befinden brachte. Die farbigen Schilderungen des Neffen von dem Lande, das von jeher seine Phantasie beschäftigt hatte, ließen ihn nach langer Zeit zum erstenmal wieder aufhorchen. Er fragte und hörte voll Spannung. Auf einmal verlangte er nach Punsch, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war. Die Frauen erhoben sich wie verklärt, den Punsch zu bereiten. Im Verlauf der Unterhaltung, die sich nun entspann und die Jean Paul lebhaft wie ein Jüngling führte, kam das Gespräch auch auf seinen lange gehegten Plan einer Gesamtausgabe seiner Schriften. Von Dresden aus führte Spazier dann mit schnellem Erfolg die Verhandlungen mit dem großzügigen Berliner Verleger Reimer so weit, daß die Vorarbeiten begonnen werden konnten. Dieses Ergebnis konnte Jean Paul wenigstens für die Zukunft seiner Familie beruhigen, im übrigen hielt die Besserung seines Befindens nicht lange stand. Anfang September machte er bei kaltem, regnerischem Wetter eine Reise nach Nürnberg zu dem Augenarzt Kapfer, die ihn vollends herniederwarf. Es war wohl nicht mehr als eine Beruhigung, wenn Kapfer ihm sagte, daß er im nächsten Frühjahr seine Augen operieren würde. Der erfahrene Arzt sah, daß der Auflösungsprozeß des Körpers in vollem Gange war.

Im Oktober lud Jean Paul den Neffen ein, ihn bei Besorgung der Gesamtausgabe zu unterstützen. Spazier, der keine Ahnung davon hatte, daß bereits jeder Tag kostbar war, ließ noch zwei Wochen hingehen, ehe er in Baireuth eintraf. »Mit welchem tiefen Schreck fuhr ich da zurück! – Die Fenster waren mit grünen Vorhängen verhangen, nirgends schien mehr die sonst so strenge ordnende Hand zu walten. Ein großer Lichtschirm auf dem Tisch verbarg mir seine Gestalt; und als ich herumtrat, sah ich den vor kurzem noch so kräftigen Mann in einem Pelzüberrock auf seinem Sopha liegen, das Gesicht seltsam verändert, tief eingefallen, gelblich, den sonst so starken Körper in den andern Teilen zusammengeschwunden, mit erlöschenden Augen, die Füße mit Kissen bedeckt. Unbeschreiblich gerührt und dankbar war sein Empfang.« Es hatte sich bereits eine Bauchwassersucht gebildet und die Füße begannen schon anzuschwellen.

Jean Paul hatte keine Ahnung von seinem Zustand. Unverzüglich machte er sich mit Spazier an die Anordnung der Werke. Ungeschwächt waltete der rege Geist. Das Ganze wurde in den vormittäglichen Arbeitsstunden angeordnet, die Geschichte der Vorrede zum »Quintus Fixlein« und beinahe die Hälfte der »Teufelspapiere« wurden ununterbrochen durchgearbeitet. Mit Aufmerksamkeit folgte er der Vorlesung von Herbarts »Psychologie«, Herders »Ideen« und von Musäus »Physiognomischen Reisen«. Täglich besuchten ihn die Freunde: der wieder ausgesöhnte Emanuel, Otto, der katholische Geistliche Östreicher, der sich aus Liebe zu Jean Paul vor einigen Jahren von Bamberg nach Baireuth hatte versetzen lassen. Auch ein in Baireuth lebender Sohn des geliebten Herder gehörte zu den täglichen Besuchern.

Am Morgen des 14. November 1825 trat Spazier nach alter Gewohnheit ein, um die Arbeit mit Jean Paul fortzusetzen. Er fand das Studierzimmer leer. Der Dichter lag im Familienzimmer unten auf dem Sofa, um ihn die Familie und einige Freunde sowie der Medizinalrat von Stranzky. Lange wurde über den »Hesperus« gesprochen, mit dem Jean Paul unzufrieden war. Er sprach von einschneidenden Veränderungen in dem Roman, die notwendig wären. Die Kindervertauschung sollte überhaupt fortfallen. Gegen 2½ Uhr glaubte er – wie er überhaupt seit seiner Augenschwäche die Tageszeiten verwechselte –, es wäre Abend, und verlangte in sein Bett gebracht zu werden. Hier versuchte er sich mit Spazier zu unterhalten. Der aber konnte seine Worte nicht mehr verstehen. »Wir wollen's gehen lassen«, sagte der Sterbende und fiel in tiefen Schlaf. Gegen 8 Uhr abends schlummerte er mit einem letzten tiefen Atemzug, ohne aufzuwachen, in die Ewigkeit hinüber. Die Anwesenden sanken am Lager weinend auf die Knie.

Am Nachmittag des 17. November wurde Jean Paul in feierlichem Zuge beigesetzt. Das Grab seines Sohnes sollte ihn aufnehmen. Es liegt auf dem Kirchhof neben dem Wege zur Fantaisie. Karoline hatte mit eigener Hand das Totengewand genäht. Unter dem Geläute sämtlicher Glocken der Stadt bewegte sich um 5 Uhr der Trauerzug von der Wohnung in der Friedrichstraße nach dem Kirchhof. Gymnasialschüler trugen Fackeln in den Händen. Auf Kissen wurden die »Levana«, die »Vorschule der Ästhetik« und die »Unsichtbare Loge« dem Sarge vorangetragen. Sämtliche Behörden und alle Schulen nahmen teil. Neben dem Leichenwagen gingen zehn Professoren der Studienanstalt und hielten die Quasten des Bahrtuches. Nach der Trauermusik am Grabe wurde statt einer Leichenrede die Stelle über Christus aus dem Aufsatz »Über den Gott in der Geschichte und im Leben« in den »Dämmerungen« vorgelesen. Studienrektor Professor Gabler hielt eine Rede, in der er, wenn auch in akademisch nüchterner Form, die Bedeutung des großen Toten darzustellen suchte. Spazier sprach im Namen der deutschen Jugend ergreifende und feurige Worte über den Dahingeschiedenen. Als Geistlicher fungierte jener Reinhart, der einst dem jungen Höfer Gymnasiasten einen bösen Streich gespielt hatte. Neben ihm stand einträchtig der katholische Geistliche und Freund Jean Pauls, der Pfarrer Östreicher.

Zwei Wochen später, am 2. Dezember, hielt Börne im Frankfurter Museum seine große Gedächtnisrede. Hier war noch einmal, bevor das deutsche Volk einen seiner Größten vergaß, liebevolles Erfassen und prophetisches Verkünden: »Ein Stern ist untergegangen, und das Auge des Jahrhunderts wird sich schließen, bevor er wieder erscheint; denn in weiten Bahnen zieht der leuchtende Genius, und erst späte Enkel heißen freudig willkommen, von dem trauernde Väter einst weinend geschieden . . . Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.«

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