Idyllen

Jean Paul hatte als einer der Ersten einen Blick für das Verhängnisvolle der deutschen Kultur, nach dem Muster entlegener Völker und Zeiten das Gerüst des eigenen Geistes zu errichten. In seiner »Vorschule der Ästhetik« hat er sich später mit dem Geist der Alten auseinandergesetzt, aber schon früh beginnen seine Bemühungen, die Schicht der uns aufgepfropften Latinität zu durchdringen und im nordischen Bildungsgut das eigene Erdreich aufzuschürfen und ans Licht zu bringen. Zwei Völker bestimmten noch immer das Gesicht des geistigen Europa: England und Frankreich. Bekannt ist Jean Pauls Abneigung gegen den französischen Einfluß, dem die deutschen Höfe und die deutsche Gesellschaft hemmungslos erlegen waren. Schon als Student, in einer kurzen Periode, da er der französischen Eleganz zuneigte, war ihm die Abhängigkeit des französischen Geistes von der spätrömischen Zivilisation aufgegangen. Bald hatte er sich den englischen Schriftstellern zugewendet, die der Umklammerung der Latinität weniger erlegen waren. Dieses alte Inselvolk hatte das germanische Erbe besser und reiner bewahrt als der Kontinent, und von hier kam ihm die Kraft, abseits einer der Latinität zugeneigten Kultur nach der eigenwüchsigen Form zu suchen.

Jean Paul stand dadurch von vornherein in einem bewußten Gegensatz zu der allgemeinen Geistesrichtung der Zeit. Sowohl Goethe wie die deutsche Romantik in ihren Anfängen suchte das Erbe der Griechen zu verwalten und zu vermehren. Jean Paul hingegen stieg in sein Inneres nieder, um aus bisher unentdeckten Schachten neues Metall ans Tageslicht zu heben. Es sollte verhängnisvoll für ihn werden. Das Erbe der Alten zeigte sich als stärker, und man maß den um eine eigene Form Ringenden nach einem Maß, das gerade er ablehnte. Die seit einem Jahrhundert verschüttete deutsche Seele begrub auch ihn in Vergessenheit und Unverständnis.

Dieses Bemühen, die fremdartigen Schichten, die uns überwachsen hatten, hinwegzuräumen und den reinen Boden des Menschlichen, das ist für ihn: des deutschen Wesens bloßzulegen, waren der Hauptantrieb seiner Erziehertätigkeit. Pestalozzi und Basedow haben den Erzieher Jean Paul stark beeinflußt und ihm vielleicht erst die Wege gewiesen, die er später in seiner groß angelegten Erziehlehre »Levana« ausbaute. Aber was ihn über seine Vorgänger hinaushob, war ein Kulturprogramm, das die menschliche Erziehung zugleich ins Geistige hineinprojizierte. Hinter seiner Erziehungsmethode stand das Idealbild einer volkhaften, eigenwüchsigen Kultur. Seine großen Romane sind als pädagogische Romane angelegt, der Erziehungsgedanke bleibt oberster Leitpunkt ihres Dichterischen. Immer handelte es sich in ihnen um die innere Gestaltung, das ist: Bildung eines Volkes. Wenn er Dichter sein wollte, so erstrebte er dieses Ziel in einem umfassenden Sinne als Seher und Lehrer. Schon in der »Unsichtbaren Loge« nehmen erzieherische Fragen einen großen Raum ein. Was er später in der »Levana« didaktisch auseinanderlegte, das breitet schon sein erster Roman in poetisch verklärtem Lichte auseinander. Der Genius erzieht seinen Zögling unter der Erde nach sorgsam mitgeteilten Grundsätzen, und als Jean Paul, die Romanfigur, selber Gustavs Erziehung übernimmt, spricht er sich auf wiederum nicht weniger als fünfzehn Seiten über Erziehung aus.

»Abscheulich ist's, daß auch schon unsere Kinder lesen und sitzen und den Steiß zur Unterlage und Basis ihrer Bildung machen sollen. Das belehrende Buch ersetzt ihnen den Lehrer nicht, das belustigende das gesündere Spielen nicht.« Er will die Freiheit der Kleinen nur ungemerkt, aber mit fester Hand leiten und zu festgesteckten Zielen führen. »Wir Erwachsene ständen den abscheulichen Schulzwang unserer Abkommenschaft keine Woche aus, so vernünftig wir sind; gleichwohl muten wir es ihren mit Ameisen gefüllten Adern zu.« Der Erzieher wird hier zum Anwalt der Jugend, und weil er es im Grunde war und seine Zöglinge es merkten, deshalb allein konnte er ihnen die größten Leistungen abgewinnen. Den modernen Gedanken, durch Spielen zu lehren, hat er sich bereits vollkommen zu eigen gemacht, aber ihm auch eine Fassung gegeben, die allein ihn zu rechtfertigen vermag: »Spielender Unterricht heißt nicht, dem Kinde Anstrengungen ersparen und abnehmen, sondern eine Leidenschaft in ihm erwecken, welche ihm die stärksten aufnötigt und erleichtert.« Mit solchen Gedanken durchbrach er die übliche Schablone der Jugenderziehung, unter der er selber gelitten, und nicht in einem fachwissenschaftlichen Werke, sondern in einem Roman; aber wieder nicht als spielender Ästhet, sondern als praktischer Erzieher. Das ist seine pädagogische Bedeutung: daß er diese Grundsätze mehreren Generationen von Lesern immer wieder einhämmerte, und es in einer überredenden Art, aber mit der ganzen tiefen Menschenkenntnis des idealen Erziehers tat.

Schon in der »Unsichtbaren Loge« legte er auch die erste Bresche in die bis dahin als allgemeingültig hingenommene humanistische Erziehung. Es hing mit seiner geistigen Einstellung überhaupt zusammen, daß er sie nicht als das Alleinseligmachende hinnehmen wollte. Er bestreitet ihre bildende Kraft und stellt zum Beweise seiner Behauptung die Gestalten der Vertreter klassischer Bildung vor unser Auge. »O ihr Konrektoren und Gymnasiarchen, die ihr über die Devalvation der Alten winselt und greint, wenn sie noch Augen hätten, sie würden über eure Valvation weinen! – Es gehören andere Herzen und Seelenflügel (nicht bloße Lungenflügel) dazu, als in euren pädagogischen Rümpfen stecken, um einzusehen, warum die Alten Plato den Göttlichen nannten, warum Sophokles groß und die Anthologen edel sind.« »Die Muster haben ja selber ohne Muster geschrieben und Polyklets Bildsäule wurde nach keiner Polyklets-Bildsäule geregelt. Trotz dem Studium der geschriebenen Antiken lag sonst in Deutschland und liegt noch in Italien die dichtende Schöpferkraft auf dem Siechbett.« »Die Griechen und Römer wurden Griechen und Römer ohne die formale Bildung von griechischen und lateinischen Autoren – sie wurden es durch Regierung und Klima.« Hier ist das Ziel angedeutet: frei von fremdem Muster aus unsern Bedingungen heraus die uns entsprechende Form zu gewinnen. »Die Muster haben ja selber ohne Muster geschrieben.« Er weiß, daß kein Muster, und stünde es noch so hoch, die Kraft ersetzen kann, die aus dem eigenen Innern quillt. Diese Kraft auszulösen durch eine Erziehung, die immer nur die vorhandenen Seelenkräfte freimachen will, ist das große Thema Jean Paulscher Dichtung.

Aber dieses Problem hatte auch eine andere Seite, die in den mitgeteilten Sätzen bereits angedeutet ist: die »Rektoren und Gymnasiarchen«, die der deutschen Jugend das Bildungsgut der Griechen und Römer zu vermitteln haben und selbst diesem Geist der Alten so ferne stehen. Man konnte diese Bemühungen der deutschen Schulmänner um das Erbe der Alten ebensogut unter dem Gesichtspunkt der Karikatur ansehen, als unter dem der Idylle. Das boshafte Auge konnte bemerken, welche Zerrbilder gerade die Beschäftigung mit den Alten aus guten deutschen Schulmeisternaturen machte; das gütige Auge des Idyllendichters konnte die Leiden und Freuden eines deutschen Schulmeisterlebens mit liebevoller Sorgfalt vor uns hinstellen und aufweisen, wie weltverschieden das weite deutsche Land mit seinen verstreuten Dörfern und kleinen Städten von der gedrängten Polis Athen oder der Weltstadt Rom war. Nach beiden Richtungen hin hat Jean Paul sich betätigt. Als die gelungenste Karikatur des mit Griechentum geladenen Schultyrannen hat er uns seinen Rektor Florian Fälbel geschenkt, und die Idylle des deutschen Schulmeisterlebens in den unsterblichen Gestalten des vergnügten Schulmeisterleins Maria Wuz und seines Quintus Fixlein für alle Zeiten festgehalten.

Schon am 15. Juli 1790 lag der Plan des Florian Fälbel in Jean Pauls Kopfe fertig. Der Titel steht als erster in einer Reihe von Plänen, die er an Christian Otto schickte mit der Bitte, ihm diejenigen zu bezeichnen, die er ihm zur fertigen Ausarbeitung aufgäbe. Der Fälbel war unter den von Otto bezeichneten Stücken. Im Dezember schickte Otto dem Freunde nach Schwarzenbach einige Aufzeichnungen, die ursprünglich für das Höfer Intelligenzblatt bestimmt waren. Darunter befand sich das geschriebene Porträt des damaligen Quartus am Höfer Gymnasium, späteren Rektors Helfrecht. Jean Paul quittiert darüber in seinem Schreiben vom Weihnachtsabend 1790: »Deine Schwefelpaste vom Quartusgesicht werd ich wirklich zu nichts brauchen können als einmal zu einem Plagiat; irgendeiner Satire (und wär's die von Fälbels Primanerreise) häng ich dieses Medaillon um.« Damit ist das Urbild des köstlichen Rektors Fälbel bezeichnet. Helfrecht hat sich später in der Satire offenbar schnell erkannt, zumal in ihr seine Beschreibung des Fichtelgebirges namentlich angeführt wird, und mit einem anonymen Pasquill geantwortet, dem er eine echt schulmeisterlich pseudopoetische Einkleidung gab: »Shakal, der schöne Geist. Fragment einer Biographie aus dem vierzehnten Jahrhundert, von dem Araber Albezor.« Shakal ist natürlich Jean Paul.

Im Februar des nächsten Jahres hatte Jean Paul den »Fälbel« in Arbeit genommen. Er schreibt darüber an Otto: »Ich habe bisher jede satirische Personage wie eine Pfänderstatue angesehen, die man mit allem Möglichen besteckt und umhängt: Du gewöhntest mich halb davon ab; aber desto kahler steht vielleicht alles da, besonders mein armer Fälbel, an den ich, ohne Deine kritische Ordnung des Heils, sicher alles Närrische gepicht und geheftet hätte, was von den weitesten Sprüngen der Phantasie wäre aufzutreiben und zu erspringen gewesen.« Es kostete Jean Paul demnach einige Mühe, eine Gestalt ohne viele Seitensprünge sauber herauszuarbeiten und einen Einfall lediglich auf sich selbst zu stellen. Indes schlug der angewandte Selbstzwang der kleinen Arbeit zum Besten aus. »Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg« ist ein Kabinettsstück der Porträtkunst geworden, das auch heute noch dem Durchschnittsleser unmittelbar einleuchtet.

Die kleine Schrift gibt sich als Aufsatz eines Schulrektors im Michaelisprogramm seines Gymnasiums. »Mein lateinisches Osterprogramm, das erweisen sollte, daß schon die ältesten Völker und Menschen, besonders die Patriarchen und klassischen Autoren, sich auf Reisen gemacht – von welchen letzteren ich nur den Xenophon und Cäsar, die zwei tapfersten Stilisten, mit ihren Armeen wieder zitiere –, führet vielleicht einige Autoritäten auf, die den Schulmann decken, der mit seinen Untergebenen kurze Ausflüge in deutsche Kreise tut.« So beginnt Florian Fälbel seine Ausführungen. Die Tonart ist damit gegeben: die innere Unsicherheit, die sich mit überlieferter Autorität deckt; die innere Unwahrhaftigkeit, die den Schulausflug mit der Fahrt der Zehntausend in Parallele stellt; schon im Stil das trotzende Prunken mit gleißender Gelehrsamkeit. Diese Tonart wird durchgehalten. Die Darstellung ist die eines Gymnasialprogramms der damaligen und mancher folgenden Zeit. Die »scherzhaften« Umschreibungen für die den Rektor auf der Fahrt ins Fichtelgebirge begleitenden Primaner, wie »Nomaden« oder »Hopliten«, die Ausdrücke klassischer Autoren, hier auf eine Schulfahrt angewandt, die lateinischen Sprechübungen während des »geübten« Naturgenusses, das erstrebte und nach Kommando eingeübte »weltmännische« Betragen: tausend Züge, mit dem schwerfälligen Sprachschatz des bornierten Schulmannes zum unfreiwilligen Ausdruck gebracht, heben fast jedes Wort als eine Pointe heraus. Natürlich ist die ganze Tour ohne sachgemäße Vorbereitung unternommen worden und muß im entscheidenden Moment abgebrochen werden. Das Reisegeld reicht nicht. Fälbel läßt seine Tochter Kordula bei dem Thiersheimer Wirt zum Pfande und tritt mit seinen Primanern den Rückweg an.

Über den Rahmen einer bloßen Humoreske ragen die üblen Charaktereigenschaften des Rektors hinaus. Nicht als Stilwidrigkeit, denn sie verdeutlichen das satirische Porträt durch lebendige Züge. Fälbel ist nicht allein borniert, pedantisch, geizig, er ist herzlos und von einer unbewußten, aber deshalb nicht weniger empörenden Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid. Das tritt schon in seinem Verhältnis zu Kordula zutage, die er wie ein Küchensudel behandelt und ausnutzt, einer adligen Familie zur schrankenlosen Ausbeutung überlassen will, und die er einfach als Pfand bei einem fremden Gastwirt daläßt. Noch viel krasser tritt sein Mangel an Mitgefühl bei der Erschießung eines armen ungarischen Deserteurs hervor, vor dessen qualvoller Todesangst er mit seinen Primanern Sprechübungen im Lateinischen veranstaltet. Vor den Machtmitteln des Staates knickt der eingebildete Pedant in heuchlerischer Anerkennung zusammen. Mit der lateinischen Syntax zerstreut er »glücklich jedes Mitleiden mit dem Malefikanten, gegen das sich schon die Stoiker so deutlich erklären, und das ich nur dem schwächeren Geschlechte zugute halte; daher wird es der Billige mit dem Augentauwetter meiner Tochter wegen des Inkulpaten nicht so genau nehmen.« An diesen Stellen ergreift dann Jean Paul selbst das Wort, um Kordulas und aller niedergedrückten Töchter und Frauen Partei zu nehmen. »Ihr Vater ließ, wie die meisten Schulleute,« schreibt er von der Tochter des Gymnasiarchen, »durch die Römer verwöhnt, nichts einer Frau zu, als daß der Körper ein Koch wurde und die Seele eine Köchin.« »Oh, es ist mir jetzt, als säh' und hört' ich in alle eure Häuser hinein, wo ihr, Väter und Ehemänner mit vierschrötigem Herzen und dickstämmiger Seele, beherrschet, abhärtet und einquetschet die Seele, die euch lieben will und hassen soll . . . o ihr milden, weichen, unter schweren, finstern Schnee gebückten Blumen, was will ich euch wünschen, als daß der Gram, eh ihr mit besudelten, entfärbten, zerdrückten Blättern verweset, euch mit den Knospen umbeuge und abbreche für den Frühling einer anderen Erde? – Und ihr seid schuld, daß ich mich nicht so freuen kann, wenn ich zuweilen eine zartfühlende, unter einer ewigen Sonne blühende Schwester von euch finde, eine hauchende Blume im Wonnemond: denn ich muß denken an diejenigen von euch, deren ödes Leben eine in einer düsteren Obstkammer durchfrorene Dezembernacht ist.« Was nicht in den Rahmen dieser engen Charakterstudie einging, das tat sich hier als Programm des Autors, als Schrei aus dem Werk heraus kund. Es war das alle Werke Jean Pauls beherrschende Thema: sein Mitleid mit der von den Wirtschaftsansprüchen des Lebens und gefühlloser Männer niedergebeugten Frauenseele. Und ebenso aus dem Werk heraustretend nahm er sich des armen füsilierten Deserteurs an, dessen rührende Geschichte er in einer Einschaltung gibt. Hier läßt seine Form noch die Sicherheit ihrer kalten Beherrschung vermissen, und doch freuen wir uns dieser die Form sprengenden Einschiebsel des enthusiastischen Jünglings, der mit rousseaugroßem Mitleid die Welt der Erniedrigten und Beleidigten umfaßt und für sie predigt, wenn ihr Schicksal nicht ins künstlerisch gerundete Bild zu fassen geht. Später, in »Des Feldpredigers Attila Schmelzle Reise nach Flätz«, hat er diese Form der Satire musterhaft durchkomponiert und gleichfalls in einer unfreiwilligen Beichte eine Welt eingefangen, um sie mit ewiger Lächerlichkeit behaftet wieder zu entlassen, ohne die Einheit der Diktion zu durchbrechen. Aber auch der Rektor Fälbel bereits ist das Virtuosenstück einer Charakterstudie. Das große Vorbild der Alten, ihre heroische Lebensführung, wurde hier in komischen Gegensatz zu seinem Bekenner und Nachahmer gestellt. Ein Typus, unter dem er in seiner Jugend genug gelitten hatte, ward hier mit satirischem Behagen abgetan.

Im Februar 1791, also während der Arbeit an der »Unsichtbaren Loge«, hat Jean Paul wahrscheinlich die kleine Arbeit beendet, um sie vor der Drucklegung 1795 noch einmal, nach Ottos Vorschlägen, gründlich durchzuarbeiten.

Eine ungeheure Arbeitslast lag auf den Schultern des jungen Schulmeisters. Damals trat die Aufgabe an ihn heran, Hermanns Schriften für eine Veröffentlichung zu bearbeiten. Wenn er sich für den Namen des Freundes etwas von einer solchen Herausgabe versprochen hätte, wäre er wahrscheinlich dennoch mit Eifer an die Arbeit gegangen. Aber ihn leitete das Gefühl, Wichtigeres zu tun zu haben. Darauf beruht nicht zum wenigsten Jean Pauls ungeheure Leistungsfähigkeit, daß er es verstand, sich von scheinbaren Pflichten freizumachen, um seine Kraft für Wesentliches einsetzen zu können. Was ihm als Egoismus ausgelegt werden kann und ausgelegt worden ist, ist im Grunde die gesammelte Konzentration auf das eigene Schaffen. »Die wenigen, der Ermüdung, der Informazion und der Gesundheit abgegeizten Stunden,« schreibt er über seine Inanspruchnahme durch eigene Tätigkeit, »geben mir diese Elastizität nicht – meine eignen Arbeiten, denen ich nicht entsagen kann, wenn ich nicht meine Abhängigkeit und den Druck der immer sich erneuernden Bedürfnisse verewigen will, teilen sich schon in jene paar Stunden.« Auch hier sieht man, wie ernst der Dichter seinen Erzieherberuf auffaßte. Man kann sagen, daß er völlig in ihm aufging und das eigene Schaffen sogar ganz im Schatten dieser Beschäftigung mit der Kinderseele stand, aus der ihm die stärkste Kraft zuströmte.

Es gehört durchaus zu dem Bilde, das wir uns von Jean Paul machen wollen, daß wir uns auch seine kleine »Winkelschule«, wie er selbst sie nannte, ansehen. Seine Schülerschar setzte sich, wie bereits gesagt, aus sechs Knaben im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren und einem neunjährigen Mädchen zusammen. Wie streng durchdacht seine Erziehungsmethode war, kann man schon daraus ersehen, daß, als er sie viele Jahre später in seiner »Levana« didaktisch auseinandersetzte, sie noch durchaus die gleiche war, nach der er in Schwarzenbach unterrichtet hatte. Nur seine Grundsätze über die Erziehung der kleineren und unmündigen Kinder hatte er zur Zeit der »Levana« inzwischen an den eigenen Kindern erproben können. Was er aber in der zweiten Hälfte des Werkes über den Unterricht schreibt, beruht durchaus auf den Schwarzenbacher Erfahrungen.

In der »Unsichtbaren Loge« konnte es auffallen, welchen Wert er auf die frühzeitige Anwendung des Zeichenunterrichts legt. Musik wachse der jungen Seele von selbst zu, aber des Zeichenunterrichts bedürfe sie, um in ein enges Verhältnis zur Wirklichkeit der Dinge zu kommen. Also gerade zur Praxis des Lebens wollte er seine Schüler erziehen, sie zu tüchtigen Menschen und nicht zu Träumern machen. Dazu gehört aber, daß die jungen Menschen zuerst einmal echte Kinder sind und nicht Karikaturen der Erwachsenen. Die Kindheit hat ihren eigenen Wert in sich und ihre eigenen Gesetze und Schmerzen und Freuden. »Ist denn die Kindheit nur der mühselige Rüsttag zum genießenden Sonntag des späteren Alters, oder ist sie nicht selber eine Vigilie dazu, die ihre eigenen Freuden bringt?« Dieser Satz allein stellt die ganze bis dahin gültige Erziehungsmethode auf den Kopf. Nicht das Alte Testament, wie es gewöhnlich der Fall ist, dürfe an den Toren des jungen Lebens stehen. Naturgeschichte, Geschichten aus der Geschichte, Geographie, Reisen, Rechnen, Geometrie wären die gesundesten Voressen der kindlichen Seele. Vom Naheliegenden, leicht in Gebrauch zu Nehmenden wäre auszugehen. Das Französische ist dem Lateinischen, das Sprechen den grammatischen Regeln voranzustellen. »Wir sind jetzt aus den philologischen Jahrhunderten heraus, wo die lateinische Sprache alle gelehrte Schlafröcke und Schlafmützen von Irland bis Sizilien in einen Bund zusammenknüpfte, und wo man kein Gelehrter sein konnte, ohne ein Inventarium alles griechischen und lateinischen Hausrats und einen Küchen- und Waschzettel dieser klassischen Leute im Kopfe zu führen.« Die Hauptschwierigkeit der alten Sprachen käme daher, daß sie zu früh betrieben würden. Für das Nächstliegende und das Anwendbare interessiere sich das Kind in erster Linie. Sicher hat Jean Paul mit diesen Beobachtungen recht. Der Lerneifer seiner Schüler zeigt, wie eng seine belebende Methode die Kinder an ihn band. Nicht selten standen sie besonders früh auf, um ihren Lehrer noch in den Frühstunden mit besonderen Ausarbeitungen zu erfreuen. Leo Vogel brachte einmal 135 Bogen Aufsätze.

Aber hier zeigt sich bereits die Gefahr, der ein Dichter als Erzieher selten entgehen wird: die Hinneigung zur schriftlichen Fixierung, die gerade bei Jean Paul sehr nahelag. Er wollte die Zöglinge zum Handgreiflichen anleiten und er endete bei einem Übermaß schriftlicher Ausarbeitungen. Er wollte seine Kinder zum »Witz« anleiten, und er erreichte schriftliche Ausarbeitungen über den Witz.

Um diese Anleitung zum Witz im Jean Paulschen Sinne drehte sich ein großer Teil seines Unterrichts. Durch den geweckten Witz dachte er dem jugendlichen Geist die Schwerfälligkeit, das Haften am fixierten Ausdruck zu benehmen. Er wollte sie anregen, das Entfernteste mit dem Nächsten zu verbinden, eine Kunst, die er selbst unübertrefflich handhabte. Wenn er solche Gegenüberstellungen wie »Frühstück« und »Spätstück« macht, so drang er damit allerdings zu dem eigentümlichen Leben des Wortes vor und belud es mit neuer Bedeutung und Eigenart. Ganz dicht kam er bei diesen Bemühungen bis an die Schwelle des Richtigen. Es fehlte ihm nur das Erlebnis des Etymologischen, um auf diesem Wege den Kindern das tiefste Verständnis für Sprache und Wort zu erschließen. Man sieht ihn auf dem Wege umhertasten, dem Geist der Schüler die letzte Beweglichkeit und Geschmeidigkeit zu geben, und es ist ganz sicher, daß er ihnen mit seinen Witzübungen eine ungeahnte Welt erschlossen hat. Was aber schließlich herauskam, waren solche Bonmots, wie sie in der »Bonmots-Anthologie« seiner Schüler aufgezeichnet sind, etwa: »Die Maultiere, die von Pferden und Eseln entstehen, sind die Kreolen, die aus der Ehe eines Amerikaners und einer Europäerin entstehen.« Oder: »Das Gehen ist ein immerwährendes Fallen.« Oder: »Die lutherische Religion und die Renntiere vertragen die Wärme des Südens nicht.« Man sieht mit einem Blick: es war der Satirenschreiber, der hier dem Seelenlöser in den Weg trat. Und ein wenig mochte er sich vielleicht im Rektor Fälbel selbst verspotten, wenn er mit Übungen, denen eine gewisse Schablone und Pedanterie nicht abzustreiten ist, Gelenkigkeit des Geistes zu erzielen suchte.

Und dennoch würde man Unrecht tun, die Mangelhaftigkeit der Ausführung seinen Grundsätzen als Schuld aufzubürden. In der Praxis machte ihm seine überstarke Persönlichkeit und Eigenart einen Strich durch die Rechnung. Der Dichter konnte von der schriftlichen Fixierung nicht abkommen, der Satirenschreiber blieb mit der Ausführung seiner Ideen im 18. Jahrhundert stecken, das über seiner eigenen Kindheit gewaltet hatte. Aber dennoch lag in diesen Erziehungsgrundsätzen eine Zukunft verborgen, die heute noch lange nicht erreicht ist, nicht zum wenigsten deshalb, weil es Erzieher von dem Ausmaß Jean Pauls immer nur in kleiner Anzahl geben wird. Wie er auf Kinder wirkte, davon legen seine Kinderfreundschaften noch in seinen spätesten Jahren Zeugnis ab und die geradezu beispiellose Liebe, die die eigenen Kinder für ihren Vater hatten. Eine Liebe, die seinem einzigen Sohne zum Verhängnis werden sollte.

Er lebte mit seinen Kindern, er trug ihnen hundertfach gesteigertes Leben zu und ließ die Eltern an diesem Leben teilnehmen, oder vielmehr: er drängte es den Eltern auf. Wie ein Prophet wirkte er in dem kleinen Menschenkreise, überall die blühende Seele weckend und zum Lichte kehrend, und vielleicht hat er auf die Eltern noch stärker eingewirkt als auf seine Zöglinge. Die Mittwochnachmittage in dem kleinen Birkengasthof draußen waren allen Teilnehmern unvergeßlich. Die »Birkenpredigt«, die er dort einmal hielt, atmet den frischen Geist einer lebensvollen Freudigkeit, die über alle Kümmernisse des Daseins siegt. Weit hinter ihm lag Hof mit seinen peinlichen Erinnerungen, und nur der Kreis der Freunde und Freundinnen zog ihn immer wieder in die Stadt. In diesen Lebensumständen wurde die »Unsichtbare Loge« geschrieben, in den wenigen Stunden, die sein Beruf ihm freiließ, entstanden die Gesichte eines Dichters voll unerschöpflichem Reichtum, und wohl mochte er fühlen, daß diesmal sein Eintritt in die Welt der Großen sich unaufhaltsam vorbereitete.

Gerade weil er sich über diese schweigende Welt seiner Heimat, die so verloren in den Tälern des Fichtelgebirges lag, zu erheben im Begriff stand, gerade deshalb konnte er sie mit einer liebenden Seele umfassen. Was um ihn lag, das war Dasein schlechthin. Es gibt eine Windstille, die sich manchmal für Jahre oder Jahrzehnte über einen kleinen Erdteil legt. Ringsum brausen die Stürme der Geschichte, und große Ereignisse bereiten sich vor. Aber neben den Ländern, die der Sturm der neuen Schichtung und Geschichte schon ergreift, liegen andere noch im tiefsten Dämmerschlaf. Von Frankreich her drohte die Revolution, in Berlin hatte die Aufklärung ihren Höhepunkt überschritten und begann die Zeit sich neuen Zielen zuzuwenden, indes die kleinen protestantischen Duodezfürstentümer noch immer im Schatten des Westfälischen Friedens lagen. Nur wenige Geister hatte die Welle der Aufklärung ergriffen, nur in wenigen Briefstellen einiger geistig besonders Bewegter wurde der westlichen Revolution Erwähnung getan. Im allgemeinen lag das Land im Schlummer und spann sein kärgliches Dasein, fern von aufreizenden Einflüssen und Einwirkungen. Wie in verlorenes Kinderland mußte Jean Paul seinen Blick über den stillen Frieden dieser Täler schweifen lassen. So hatte er gelebt, bevor der Geist ihn ergriff und ihn in die Zusammenhänge eines höheren Daseins verflocht. Essen und Sonnenschein, häusliche Wärme, Geburt und Tod, Not und Freude, das waren die großen Ereignisse in diesem Dasein voll epischen Dahingleitens. Kinder wuchsen auf und trieben im Schatten der Erwachsenen, die kaum anders waren als Kinder, ihre kindlichen Spiele. Die Jahreszeiten formten in ewiger Gebundenheit an dem Leben des Tages. Groß war das Elend und gering zugemessen die Freude, und doch lag alles in der Riesenhand eines Gottes, war geborgen in Einfalt und schlichtem Sinn und der Unbeirrbarkeit des gegebenen Daseins. Wie vom Himmel kam Not und Teuerung. Man dachte nicht menschlicher Gier und Eigennutzes. Kein Schrei der Empörung stieg aus gequältem Herzen. Mit der Gelassenheit des Naturereignisses wurde hingenommen, was von irgendwoher kam. Geist ist immer voller Empörung, aber Dasein voll frommer Geduld.

Mit solchen Augen blickte Jean Paul von seiner ländlichen Klause in das Leben rings um ihn. Jetzt, da er den inneren und äußeren Abstand zu diesem Dasein gewonnen hatte, konnte er nicht anders als in gläubiger Sehnsucht seinen Blick nach diesem Leben voller Ergebung zurückwenden. Er selbst war einer gewesen wie diese vielen, die mit dem Glück und der Not der Kreatur dahinlebten. Monatelang hatten seine Mahlzeiten aus trockenem Brot und Salat bestanden. Er kannte die Seligkeit, die ein gewonnener Taler über eine Familie ausschütten kann, größer als ein Goldregen über das Leben der Reichen. In diese Bezirke ergebener Menschlichkeit reichte nichts von den geistigen Kämpfen hinein, nichts von den Erschütterungen, die ringsum die Welt in Brand setzten. Eine ungeheure Kunst schien ihm das Leben dieser Armen und doch fast einzig Reichen. Schlicht und evangelisch lief es dahin. Nicht Not und Tod brachte solche Herzen außer sich, sie ruhten immer an der Brust der großen Gegebenheit, die Leben hieß. Ein solches Dasein zu schildern, mußte ihn reizen, je mehr er mit einem Teil seiner Seele noch immer an ihm hing.

Schon in der »Unsichtbaren Loge« wurde liebevoll des Schulmeisterlein Wuz gedacht. Das »Einbein« wohnt in seinem Hause, nimmt teil an seinem Familienleben, vereinigt sich zu Freudenfesten mit diesen Menschen, läßt uns Blicke in das schmale und doch so reiche Glück dieses Familienkreises tun. Aber Jean Paul wollte mehr, wollte in einer besonderen Dichtung ein solches Leben in seiner Totalität vor uns aufrollen, und er tat es in dem »Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal«.

Der »Wuz« (Jean Paul schreibt in späteren Jahren auch manchmal »Wutz«) ist eine der bekanntesten Dichtungen Jean Pauls geworden. Man nahm das Enge und Idyllische darin für einen besonders gelungenen Ausdruck seines Gemüts. Aber man versteht doch den Dichter nicht, wenn man diese seine Idyllendichtung nicht in den großen Zusammenhang seiner Weltschau einordnet. Gewiß ist Jean Paul, schon von Blut, auch ein Vertreter jenes »altfränkischen« behaglichen Geistes, der uns heute so paradiesisch und so entlegen anmutet. Aber er selbst hat an diesem »altfränkischen« Geiste doch nur das vorübergehende Behagen, das wir heute an ihm haben. Er sah weit tiefer. »Tief im Menschen ruhet etwas unbezwingliches, das der Schmerz nur betäubt, nicht besiegt«, heißt es am Schluß des »Wuz«. Hier ist der tiefe Grund bezeichnet, auf dem Jean Pauls Idyllendichtung beruht: das unbezwingliche Ich, das tief im Menschen ruht, das durch ein Jahrhundert der Unrast, der Gier verschüttet werden kann und sich doch immer wieder herausarbeiten wird. Es ist das »Tao« des ewigen, des chinesischen Volkes, das wir als aus der Exotik kommend heute bestaunen, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß es vor einem Jahrhundert noch auch in unserm Besitz war. Das unerschöpfliche Glücksreservoir des bloßen menschlichen Daseins.

Am 17. Februar 1791 weilte Jean Paul in Hof und schickte durch einen Boten Otto den Anfang des »Wuz«, den er unmittelbar nach den ersten Versuchen der »Unsichtbaren Loge« niedergeschrieben haben muß. »Bei diesen mit unendlicher Wollust empfangenen und gezeugten 4 Bogen bedenke 1) daß es in 10 Tagen geschah, 2) und in gestohlenen Stunden vor und nach der Schule, 3) daß es so viel ist, als schlägst du das Ei auf und besiehest das rinnende Hühnchen, 4) und daß es dürre Knospen und Vorübungen sind, damit unser Einer so gut einen Roman in die Welt setzen könnte als H. Thylo, 5) und was ein Vorredner noch beibringt. Suche im Wuz keinen eitlen eingeengten Orbilius, sondern nur ein in sich vergnügtes Ding.« Am 12. März konnte er dem Freunde bereits den Schluß der Dichtung übersenden. Bis zum letzten Buchstaben hält die glückliche Stimmung des Anfangs an. Auch die Schlußbogen sind »mit unendlicher Wollust« gezeugt. Damals hatte Jean Paul wohl auch nicht beabsichtigt, den Sohn des glücklichen Schulmeisterleins Maria in der »Unsichtbaren Loge« auftreten zu lassen. Erst nach der Ausarbeitung dieses Sektoren, ward ihm klar, daß der »Wuz« als Ganzes dem Roman anzuhängen war.

Eine Vorübung für den ersten größeren Roman sollte diese »Art Idylle«, wie der Untertitel besagt, sein. Aber er wurde bald ein in sich ruhendes Ganzes. Nur die Wiederbelebung der eigenen Kinderzeit, die ja auch in der Kindheit Gustavs vorgenommen wurde, läßt den Gedanken einer Vorarbeit aufkommen. Aber wie oft hat Jean Paul sich seitdem in die entschwundenen Kindertage zurückversetzt. Hier floß ihm ein unerschöpfbarer Born der Poesie. Fast jedes Dichterleben hat eine solche Zeit, bei der es den Hebel nur anzusetzen braucht, um den Strom in Fluß zu bringen. Für Hölderlin war es die Zeit mit Susette Gontard, für Hoffmann das Bamberger Julia-Erlebnis. Es ist bezeichnend für Jean Paul, daß er im Quellgebiet allen Lebens: in seiner Jugend, am meisten zu Hause war und aus ihr immer neue Schöpferkraft ihm zuströmte.

»Wie war Dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, Du vergnügtes Schulmeisterlein Wuz!« so hebt die Dichtung an, und diese Atmosphäre von meeresstillem Dahingleiten, nur innerem Jubeln klingt bis zum letzten Wort durch. Mit seligem Zurückschauen breitet Jean Paul das Land der Kindheit vor uns aus, wie es ihm einst in Joditz sich abspielte, nur bewußter ins gleichbleibend Heitere getaucht. Wie es der Dichter selbst getan hatte, arbeitet sich Maria Wuz die eigene Bibliothek. Alle Bücher, deren Titel er erfährt, muß er emsig selbst schreiben, selber heften und in die Reihe stellen. Werthers Leiden schreibt er selbst und Rousseaus Bekenntnisse und überhaupt alle Bücher, die einst Jean Pauls Begeisterung erweckten, wenn er sie aus der Bibliothek des Pfarrers Vogel heimlich hinter dem Rücken des Vaters las. Mit zehn Jahren verpuppt Wuz sich in einem Alumnus und oberen Quintaner der Stadt Scheerau. Eine furchtbare Zeit würde für jeden andern anbrechen, nicht so für ihn. Er kennt die einzig wahre Kunst, glücklich zu sein, und außerdem allerlei kleine Kunstgriffe, diese Kunst zu unterstützen. Dazu braucht man sich nur am Abend eines noch so großen Leidtages im Bett zusammenzukrümmen, die Knie bis zum Nabel emporzuziehen und zu sprechen: »Siehst du, Wuz, es ist doch vorbei.« Und wenn man überdies noch dafür gesorgt hat, daß man morgens fröhlich aufwacht, weil man sich irgend etwas Angenehmes für die Morgenstunde aufhob: einen gebackenen Kloß oder ein Kapitel aus dem Robinson, dann kann nichts Irdisches mehr schrecken.

Das Wichtigste aber dieser Kunst, immer glücklich zu sein, ist, daß man sich verliebt. Wie einst der kleine Jean Paul in Augustina, verliebt sich Wuz in Justel. Hier aber wird der Verliebte beim Wort genommen. Justel ist die ihm ewig Bestimmte, und eines Tages wird er sie zum Altar führen. Wie Jean Paul muß Wuz die verschiedenen Stadien der Liebe durchmachen. Ihr Schnupftuch spielt eine große Rolle. Später schenkt er ihr aus Ruß selbstgemalte Bilder von großen Potentaten, oder er darf ihr einen Leckerbissen zustecken. Wenn er am Sonntag aus der Stadt kommt, um das väterliche Dorf zu besuchen, sieht er schon von Weitem durch das Parterrefenster Justine sitzen, die da alle Sonntag einen ordentlichen Brief setzen lernt. Seine Seligkeit ist grenzenlos, daß er sie sehen und schüchtern um sie herumgehen wird. Wuz wäre Primaner geworden und hätte durch eine große akademische Laufbahn als erster die Reihe der Wuze durchbrochen, die seit undenklichen Zeiten als Schulmeister in Auenthal sitzen, wenn der Vater nicht plötzlich gestorben wäre. Der Patron wollte zunächst seinem Koch die Stelle geben, aber er fand keinen Nachfolger – für den Koch, und so fiel die Wahl auf den kleinen Wuz. Er besteht das Examen vor dem Superintendenten aufs beste, kann das griechische Vaterunser herbeten und hernach das lateinische Symbolum Athanasii. Am 13. Mai geht er als Alumnus aus dem Alumneum heraus und als öffentlicher Lehrer in sein Haus hinein, und am 9. Julius wird er Justel als Lehrersfrau heimführen. Acht elysäische Wochen vor der Hochzeit. »Bloß für das Meisterlein funkelte der ganze niedergetauete Himmel auf gestirnten Auen der Erde.« Hochwichtige Zwischenstationen teilen die Zeit bedeutend ein und verlängern das Glück des Wartens. Am 29. Mai fungiert er zum erstenmal bei einer Kindtaufe und darf eine stattliche Summe von mehreren Kreuzern in sein Einnahmebuch eintragen. »Es ist mein saurer Schweiß«, sagt er eine halbe Stunde nach dem Aktus und trinkt vom Gelde zur ungewöhnlichen Stunde ein Nößel Bier. Das Herrlichste aber ist der Sonntag, »der in einer Glorie brennt, die kaum auf ein Altarblatt geht«. Unter tausend Menschen allein zu orgeln, ein wahres Erbamt zu versehen und den geistlichen Krönungsmantel dem Senior überzuhängen! Das Allerherrlichste aber sind die Vorbereitungen zur Hochzeit. Er selbst tut alles und jedes, schleppt aus dem Pfarrhaus vier geborgte Sessel herbei, das zinnerne Tafelservice, bei dem die Salatiere, die Sauciere, die Assiette zu Käse und die Senfdose ein einziger Teller sind, der vor jeder Rolle abgescheuert werden wird. Er spült mit Wasserschwällen jeden Bettpfosten und den Fensterstock, rupft Hühner und Enten, spaltet Kaffee und Bratenholz und die Braten selbst in der blauen Schürze seiner Schwiegermutter, die Haare in Papilloten eingeflochten und den Zopf wie ein Eichhornschwänzchen emporgebunden, ist überall und vorn und hinten: »denn ich mache nicht alle Sonntage Hochzeit«. In der Nacht wacht er siebenmal auf, um sich siebenmal auf den Tag zu freuen, und steht zwei Stunden zu früh auf, »um beide Minute für Minute aufzuessen«. Und als sich endlich im vollen Putz die Brautleute gegenüberstehen, stoßen sie da nicht so »möbliert und überpudert auf einander, daß sie nicht das Herz haben, sich Guten Morgen zu bieten? Denn haben beide in ihrem Leben etwas prächtigeres und vornehmeres gesehen als sich einander heute?« Die Hochzeitsgesellschaft erscheint: Die Seniorin nieset und hustet der Dorf-La-Bonne die neuesten Personalien vor. Der Senior sieht aus wie ein Schoßjünger des Schoßjüngers Johannes. Der Präfekt schießet als Elegant herum und ist von niemand zu erreichen, geschweige denn zu übertreffen.

Jean Paul setzt diese Schilderung nicht durch Wuz' ganzes Leben fort; er fühlt, daß hier nur die Höhepunkte gegeben werden dürfen. »Ich hätte überhaupt«, fährt er bald nach Wuzens Hochzeit fort, »wenig vom ganzen Manne gewußt«, wenn ihn nicht die inzwischen alt gewordene Justine eines Tages angesprochen hätte, da ihr Mann gerade vom Schlage gerührt ist. So lernt er das alte Schulmeisterlein nur in seinem Tode kennen. Aber dieser Tod ist eine der zartesten und rührendsten Szenen, die je geschrieben wurden. Wuz läßt sich sein Kinderspielzeug ans Bett reichen und sinkt wieder in sein Kinderreich zurück. Seine größte Krankenlabung wird sein alter Kalender, der ihn sein Leben lang begleitet hat mit seinen abscheulichen zwölf Monatkupfern. In ihren Vignetten zieht noch einmal sein Leben mit allen seinen Jahreszeiten an ihm vorüber, ehe er die Augen zum letzten Schlummer schließt. Der Glöckner ist gestorben, seine Justel muß die Glocken bedienen. »Wie die Witwe im stummen Kirchturm mit rinnenden Augen das Seil unten reißt, so fühlt ich unser aller Nichts und schwur, ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen.«

Zu weltumfassender Liebe hatte sich der Satirenschreiber durchgerungen. »Suche im Wuz keinen eingeengten Orbilius«, hatte er an Otto geschrieben. Vielleicht lag bei einigen Stellen der ersten Bogen das Mißverständnis nahe, Wuz als einen satirisch behandelten, engstirnig pedantischen Schulmeister nach Art des Rektors Fälbel aufzufassen. Aber weit lag diese Absicht von Jean Pauls damaliger Stimmung ab. In seinem noch immer fortgeführten Andachtsbüchlein berichtet er über ein kleines Erlebnis, das wie nichts anderes seine liebevolle Einstellung zu Menschen und Dingen wiedergibt. Gereizt durch unzarte Neckereien, schreibt er, wollte er gerade wieder zur Waffe der persönlichen Satire greifen, da sah er zufällig ins ruhende Angesicht eines Knaben, und der Gedanke an künftige Leiden, die darauf wohnen, und an die Tränen, welche seine Augen noch vergießen würden, brach den aufsteigenden Zorn; die Leiden der ganzen Menschheit durchzuckten ihn, und er hätte keinem, der ihr angehört, in den bitteren Kelch seines Lebens noch einen Gallentropfen gießen können. Beruhigt ging er, doch mit dem Entschluß, seine Rechte fortan fest aber sanft zu behaupten, nach Hause.

Es läßt sich denken, daß er in solcher Stimmung, oder mehr als Stimmung: unter solcher Gewalt des Eindrucks vom Leiden des Lebens, unter einer Gestalt wie der seines Rektors Fälbel fast physisch litt und sich mit um so größerer Liebe in die Welt des armen, vergnügten Schulmeisterleins Wuz eingrub. »Ich will daher Euch mehr Freude machen«, schreibt er in sein Tagebuch. »Aufgebend meine großen Pläne, will ich mich darauf beschränken, Euch zu erheitern, und meine komische Kraft dazu anwenden, nicht mehr, wie bisher, Euch zu quälen! Wie ich daher selbst auch für mich in solchen Augenblicken mit meiner Kunst heiter zu sein und mich mit allen Beschränkungen zu begnügen, ihnen Freude abzugewinnen wußte: will ich auch meine Nebenmenschen zu beglücken suchen durch die Mitteilung des Gewinns meines bisherigen Lebens, der nach und nach von der Phantasie neben dem Witz ausgesonderten Kunst: Trost, Heiterkeit und Freude selbst an den beschränktesten Lebensverhältnissen zu finden.« Es konnte nur die Stimmung weniger Monate sein, in der er auf größere Arbeiten Verzicht leisten zu sollen glaubte, eine nur vorübergehende Unterbrechung an der »Unsichtbaren Loge«. Trotz dieses Bekenntnisses zwang es ihn immer wieder zu den großen Romanplänen zurück. Nur in seinem umfassenden Weltbild hatten diese idyllischen und heiterkomischen Ausschnitte eines beschränkten Daseins ihren Sinn. Er rang um das Beharren in der »altfränkischen« Atmosphäre und um das Hinaustreten mit titanischen Schöpfungen. Bei seinem mit berstendem Leben gefüllten Innern konnte es nicht zweifelhaft sein, wo die Entscheidung lag, aber mit einem kleinen Teil seines Wesens blieb er dennoch immer jener kleinen Welt verhaftet, aus der jedoch jeden Augenblick heraustreten zu können, ihm Notwendigkeit war.

Eine jener kleineren Arbeiten, mit denen er nur zu erfreuen und zu erheitern versuchte, war auch »Des Amtsvogts Josua Freudel Klaglibell gegen seinen verfluchten Dämon«. Die aus dem November 1790 stammende Urschrift führt den Untertitel »Schilderung eines Zerstreueten«. Es handelt sich also auch bei dieser Arbeit wie beim »Fälbel« um ein Charakterporträt, diesmal aber, in liebender Stimmung geschrieben, nur dem rein Komischen ohne bitteren Beigeschmack dienend. Allzu deutlich wird man durch den Amtsvogt Freudel, dessen »Dämon« eben in seiner Zerstreutheit liegt, an Vischers »Auch Einer« erinnert, um diese Parallele nicht wenigstens zu erwähnen. Dem Amtsvogt gerät aus Zerstreutheit alles verkehrt. Da er aber natürlich seine Zerstreutheit nicht wahrhaben will, vielmehr verächtlich von zerstreuten Menschen spricht, schiebt er alles Unglück einem Dämon zu, der ihn verfolge. Auch einer, der unter der Tücke des Objekts zu leiden hat. Ein »Antiwuz«, wie Jean Paul ihn selber nennt, einer, der in jedem Trunk einen Tropfen Galle herausschmeckt. Wie Fälbel muß dieser Antiwuz sich durch unfreiwillige Entblößung seines Wesens selber charakterisieren. Erst in diesen Porträts erlangte Jean Paul die Meisterschaft der rein durchgeführten Satire, die einst Christian Felix Weiße an dem jungen Studenten vermißt hatte und die sich anzueignen seitdem Jean Pauls höchstes Bemühen war. Unendlich viel von seinen reifsten und spätesten Arbeiten hat seine Wurzel in dieser ersten Periode seines Schaffens. Alles, was er einmal mit heißem Herzen ergriffen hatte, wirkte in ihm weiter fort. Seine damalige Hinneigung zur französischen Eleganz der Darstellung, zur witzigen Ironisierung, sie wirkte in diesen Charakterbildern, den Fälbel, Freudel und später dem Feldprediger Schmelzle und zahlreichen Gestalten seiner Romane nach, noch zu einer Zeit, da er sonst jeden französischen Einfluß bereits bewußt überwunden hatte. Eine Szene aus dem Leben des zerstreuten Amtsvogts besonders hat Jean Paul bis ans Ende für besonders gelungen gehalten, und noch in der »Vorschule der Ästhetik« bekennt er, sie nicht lesen zu können, ohne sich vor Lachen zu schütteln, wie er bei ihrer Ausarbeitung vor Lachen kaum fortschreiben konnte. Es ist die Szene, in der Freudel auf der Kanzel bei seiner Probepredigt während des stillen Vaterunsers ganz seine Predigt und die andächtigen Zuhörer vergißt, in tiefes Nachdenken versinkt, und als er seiner Vergeßlichkeit endlich inne wird, sich von der Kanzel herunterschleicht und nur die Perücke auf dem Betpult liegen läßt, so daß die Gemeinde immer noch fort glauben muß, er knie im Gebet, bis endlich der Küster, als es allzulange gedauert, hinaufkommt und dem Publikum die im Stich gelassene Perücke vorweisen muß.

Für solche komischen Szenen hat Jean Paul zeitlebens viel übriggehabt. Diese Vorliebe stammte aus seiner Beschäftigung mit der englischen Literatur in seinen entscheidenden Jahren. Stets hielt er eine Menge von derartigen Entwürfen bereit, um sie im gegebenen Fall anzuwenden. Aber im Tiefsten lockten ihn doch ganz andere Ziele. Je ernster er das Leben anschaute, aus je tieferen Erlebnissen seine Dichtung ihre Kraft gewann, um so mehr zog es ihn zur Darstellung und Verklärung dieses im Weltenraum verlorenen menschlichen Daseins. Der Klang des Herzens, der ihn aus seinen Satiren in die Welt seiner Romane geführt hatte, er drang auch in seine kleineren Arbeiten ein. Immer mehr gewannen sie die Atmosphäre jener Rede des toten Christus, die am Beginn dieser neuen Periode seines Schaffens steht. Der Ausarbeitung seines ersten Romans immer noch ausweichend in jene kleineren Satiren und Humoresken, neigte er doch mehr und mehr auch hier zu dem heiligen Ernst, der seit der Todesnacht im November 1790 von seinem Wesen Besitz ergriffen hatte.

Am 3. Januar 1791 übersandte er Renate Wirth einen Neujahrsgruß, dem er die Gestalt eines Traumes gab. »Ehe der Schöpfer die Seele der R—a, mit dem Körper umlaubt, auf die Erde ziehen hieß, traten die zwei Genien vor den Schöpfer, die verborgen um jeden Menschen fliegen«; der schwarze Genius mit dem seelenmörderischen Auge, der sie mit den Nichtigkeiten des Lebens verführen will. Und der gute Genius, der sie beschützen will. Er kniet vor Gott nieder: »Umblüme und umkränze die schöne Seele mit einem schönen Körper: unbesudelt soll einmal diese Hülle von ihr fallen – gib ihr ein großes Auge: die Falschheit soll es nicht verdrehen – leg' ein weiches Herz in ihren Busen: es soll nicht zerfallen, eh es für die Natur und Tugend geschlagen.« Es siegt der gute Genius, und sie fliegen miteinander auf die Erde nieder, gehasset und begleitet vom bösen Genius. – »O du, für die ich dieses schrieb, denk' an mich und an dieses Blatt – und wenn einmal meine Stimme, über der Erde entfernt oder unter ihr verstummt, nicht mehr zu dir reicht: so höre sie auf diesem Blatte – und wenn einmal mein fortgewandertes oder ausgemodertes Auge nicht mehr sieht, ob du glücklich bist: so werde nie unglücklich.« Zu einem neuen Werke war in diesem Neujahrsschreiben der Grund gelegt. Es enthielt den Keim zu der Vorrede zur zweiten Auflage des »Quintus Fixlein«, und zwar im besonderen Sinne zu der in dieser Vorrede mitgeteilten Erzählung »Die Mondfinsternis«.

Jean Paul hat diese Vorrede erst im August 1796 geschrieben, als er aus Weimar zurückkehrte. Sie enthält die große Auseinandersetzung mit Goethe und der Frühromantik, aus der dann der endgültige Plan des »Titan« herauswachsen sollte. Es mag wohl auch der Einfluß Herders gewesen sein, der in den dem »Quintus Fixlein« beigegebenen Erzählungen fortwirkte. An Karoline Herder hatte er ja einst seine erste Erzählung dieser Art, »Was der Tod ist«, geschickt, und sie war als die erste deutsche Frau von dieser Seite des Jean Paulschen Schaffens im Tiefsten ergriffen worden. Aber diese Beigaben zum »Quintus Fixlein« und dieser selbst, obwohl erst Januar 1795 beendet, tragen doch die Stimmung der Zeit weiter, da Jean Paul am »Wuz« arbeitete und der tiefe Gehalt der »Unsichtbaren Loge« sich herausschälte. Wenn er später die genannte Vorrede in die poetische Erzählung »Die Mondfinsternis« ausklingen lassen wollte, so brauchte er dazu nur auf den Neujahrsglückwunsch für Renate Wirth zurückzugreifen und die darin angeschlagenen Töne weiterschwingen zu lassen.

»Auf den Lilienfluren des Mondes wohnet die Mutter der Menschen mit allen ihren zahllosen Töchtern in stiller ewiger Liebe.« Wenn der Schattenzeiger der Ewigkeit auf ein neues Jahrhundert zeigt, dann schlägt der Blitz eines heißen Schmerzes durch die Brust der Mutter der Menschen, denn die geliebten Töchter, die noch nicht auf der Erde waren, müssen ihre Körper anziehen und unter die Menschen gehen, und nur die unbefleckten kehren wieder auf den Mond zu der großen Mutter zurück. Der Zeiger der Ewigkeit nahet dem achtzehnten Jahrhundert, die Welt erdröhnt unter dem Donnerschlage. Der böse Genius des Jahrhunderts ruft laut nach seinen Opfern. Maria, die geliebteste Tochter, löst sich weinend vom mütterlichen Busen. »O Allliebender, nimm dich ihrer an!« Der böse Genius und der Genius der Religion ringen miteinander. Als leuchtender Jüngling zieht der gute Genius mit den Schwestern zur Erde nieder. »Wenn euch nach einer schönen Tat . . . ein süßes Sehnen euer Herz ausdehnt, wenn in der Sternennacht und vor dem Abendrot euer Auge an einer unaussprechlichen Wonne zergeht . . .: dann bin ich in euern Herzen und geb' euch das Zeichen, daß ich euch umarme und daß ihr meine Schwestern seid.« Die Riesenschlange des Bösen fällt über die Erde zurück und zerbricht wie eine hereingebogene Wasserhose über einem Schiffe, flicht sich in tausend Schlingen und Knoten gerunzelt, erwürgend und fangend, durch alle Völker der Erde. »Und das Richtschwert zuckte wieder, aber das Nachtönen des durchflogenen Äthers währte länger.«

Hier werden die Kulissen der Wirklichkeit beiseitegeräumt und das menschliche Dasein in die ungeheure Ewigkeit gerückt. In immer neuen Bildern stellt Jean Paul die Frage nach dem Woher? und beantwortet sie immer von neuem mit der kosmischen Verantwortung der Sittlichkeit. Vielleicht verstehen wir heute dieses Entflammtsein für Tugend und Reinheit nicht mehr recht. Dann aber wehe uns! wenn wir es nicht mehr verstehen. Die Jünglinge und Mädchen jener Zeit entbrannten für diese Ideale und schwärmten miteinander für sie, ohne wie die Schwärmenden unserer Tage mit einem Auge nach der Sünde zu schielen.

Aus ähnlicher Einstellung, und wie die »Mondfinsternis« offenbar angeregt durch Herders Paramythien, erwuchsen die beiden andern Beigaben zum »Quintus Fixlein«. Die erste Erzählung »Der Tod eines Engels« ist die weitere Ausarbeitung der seinerzeit an Herder übersandten Erzählung »Was der Tod ist«, die in Boies »Museum« erschienen war. Auch die zweite Beigabe »Der Mond« hatte eine Vorstufe in dem September 1790 an Herder übersandten Aufsatz »Das Leben nach dem Tode«. Wie die »Mondfinsternis« mit Renate Wirth zusammenhing, so war »Der Mond« für Helene Köhler gedacht, die im Sommer 1792 eine andere Fassung von Jean Paul zum Geschenk erhielt. In der Buchausgabe des »Quintus Fixlein« ist die Erzählung der »Pflegeschwester Philippine« gewidmet. Wir gehen also nicht fehl, wenn wir in Helene Köhler das Urbild der liebenswürdigen Philippine aus der »Unsichtbaren Loge«, der Schwester des »Einbeins«, vermuten.

Wiederum lebt in dieser Monderzählung jene kosmische kopernikanische Weltanschauung, die in Jean Paul ihre ersten dichterischen Blüten trieb. Zu der Silberscheibe des Mondes herüber spannt die – wie der Untertitel sagt – »phantasierende Geschichte«. »Denn im Monde wohnen ja«, sagt Rosamunde zu ihrem Geliebten Eugenius, »die kleinen Kinder dieser Erde, und ihre Eltern bleiben so lange unter ihnen, bis sie selber so mild und ruhig sind wie die Kinder, und dann ziehen sie weiter.« Eugenius und Rosamunde haben sich, zerquält und bedrückt, von der Welt zurückgezogen und sind auf die Höhe der Berge gestiegen, um dort über allem Erdenleben zu wohnen. Ihr blasses Kind hat sie begleitet. Einen Tag lang wandern die Schwachen. Jetzt sind sie müde. Das Kind spielt, in einem Ringe von Blumen eingefaßt, an eine Sonnenuhr gelehnt. Eugenius läßt die ersten Harmonikatöne wie Schwäne in den reinen Alpenhimmel fließen. Als Rosamunde aus ihrer Entzückung über das Spielen des Kindes und das Fließen der Töne den Blick erhebt, ist das Kind eingeschlafen und tot. Eugenius stirbt ihm nach, und da er mild und ruhig ist, kommt er mit seinem Kinde auf den Mond und sieht über sich die weiße große Scheibe der Erde. Träume ziehen zwischen den Liebenden zwischen Mond und Erde, bis nach Qualen des Wartens der Engel der Ruhe auch Rosamunde herüberholt und die drei Liebenden vereinigt.

Erst die unsagbare zarte Poesie der Sprache gibt der kleinen Erzählung ihren Wert. Der Vorwurf ist romantisch und die Wirklichkeit übersteigend. Die Darstellung aber verklärt nur das Wirkliche einer tiefen Trauer und Müdigkeit. Wie Eugenius sein Kind bestattet, oder wie er vom Mond auf die Erdscheibe sieht, das überwindet durch die lebende Anschauung, durch die dem wirklichen Dasein abgenommenen Einzelzüge alles Phantastische des Stoffes. So begräbt weinende Trauer ihr Kind, so sehnen sich Liebende über Welten zueinander. So werden sie nach ihrem Glauben vereint sein in höherer Gemeinschaft.

Man entsinnt sich der schönen Worte, mit denen Helene Köhler in ihrem Alter Jean Pauls Persönlichkeit beschrieben hat. Es muß etwas von der Zartheit dieser Monderzählung in ihr gewesen sein. »Warum sollt ich Phantasieen über den Mond einer Person nicht dedizieren« schrieb Jean Paul ihr im Juli 1792 bei Übersendung des Manuskripts, »die so viele Ähnlichkeit mit ihm hat und die ebenso wie er sanfte, milde, sich in die Nacht der Bescheidenheit verhüllende und magische an Vergangenheit und Zukunft erinnernde Strahlen wirft?«

In die »Mondfinsternis« klang die Vorrede zur zweiten Auflage des »Quintus Fixlein« aus. Die beiden Erzählungen »Der Tod eines Engels« und »Der Mond« wurden als »Mußteil für Mädchen« dem Buche beigegeben. »Einige Jus de tablette für Mannspersonen« machten den Beschluß des »Quintus Fixlein«. Von diesen »Jus de tablette« haben wir die beiden wichtigsten Bestandteile, den »Rektor Fälbel« und den »Amtsvogt Freudel« bereits erörtert. Die andern Teile waren mehr theoretisierender Art. »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft« und »Es gibt weder eine eigennützige noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen« halten sich in dem Bereich der Hunderte von ähnlichen Aufsätzen, wie sie Jean Paul fortwährend produzierte und seinen größeren Arbeiten beifügte oder einschob. Auf seine Ansichten über die Liebe, wie er sie in dem zweiten Aufsatz zum erstenmal niedergelegt hat, wird in anderm Zusammenhang noch zurückzukommen sein.

Wie aber stand es um den Hauptstock des Buches, um den alle diese Beigaben sich nur herumrankten? Erst nach Beendigung des »Hesperus«, des zweiten der großen Romane Jean Pauls, wurde der »Quintus Fixlein« im Juli 1794 begonnen und im Januar des nächsten Jahres beendet. Und doch gehört er seiner ganzen Art nach zu den zahlreichen Arbeiten, die dem Dichter während der Ausarbeitung der »Unsichtbaren Loge« aufgingen. Ein so unbedeutendes Leben zu verachten, zu verdienen und zu genießen, hatte er am Schluß des »Wuz« geschworen, und es ist der Nachklang dieser Stimmung, die im »Quintus Fixlein« weiterschwingt, ja man könnte den versonnenen Quintus fast als eine Wiederholung des vergnügten Schulmeisterleins ansprechen. Die dazwischenliegende Arbeit an den beiden umfangreichen Romanen hat nur insoweit auf die Darstellung eingewirkt, als das spätere Werk durchweg epischer gehalten, das Stimmungsmäßige mehr von der lyrischen Betrachtung ins Gegenständliche gehoben ist. Jugend, Hochzeit und Tod waren im »Wuz« die dargestellten Stationen. Hier ist die Handlung auf drei Jahre zusammengedrängt, gibt die Kindheitsgeschichte, ohne die freilich Jean Paul auch hier nicht auskommen kann, als Erinnerung und Fortwirkung. Statt des ergeben heiteren Sterbens ist ein fast magisches Ringen mit dem Tod getreten. Den Fixleins soll es bestimmt sein, am 32. Geburtstag zu sterben. Auch unser Quintus steht unter dem Bann dieser Bestimmung. Als sich durch den zufälligen Fund einer Urkunde herausstellt, daß er jetzt erst 32 Jahre alt wird, während er annahm, den fatalen Termin seit einem Jahr hinter sich zu haben, ergreift ihn der Todesschauer und wirft ihn nieder. Wieder spielt hier der Dichter mit dem Tode in seiner erschütternden Weise, die aus einer vagen Annahme letzte Todesqualen herauszupressen versteht. So ist der Bogen weiter gespannt als im »Wuz«, die Idylle durch weit mehr Atmosphären getrieben.

Auch der »Quintus Fixlein« klingt in das Gelöbnis aus, dieses kleine bürgerliche Leben nicht zu achten aber zu lieben, aber dieses Schulmeisterleben ist hier doch weit realistischer gefaßt und in der Tat weit weniger »geachtet« und fast mehr geliebt als im »Wuz«. Klarer und genauer ist der Charakter des Helden umschrieben. Er ist wirklich eng und voller Devotion, nicht nur voller Ergebung wie Wuz. Fixlein wird um sich nicht diese helle, immer fröhliche Lebensfreude verbreiten wie Wuz, er wird nicht einmal sonderlich aus der Reihe der Lehrer und Pfarrherren des Fürstentums Flachsenfingen herausfallen. Aber gerade das ist seine poetische Stärke. Nicht mehr in einem besonders liebenswürdigen Einzelfall wird dieses kleine bürgerliche Leben erfaßt, sondern in seiner Allgemeinheit, und siehe: trotz aller Enge und Lächerlichkeit und Pedanterie kann man auch hier schließlich sagen: es ist schön.

Enger als der »Wuz« schloß sich der Quintus an Jean Pauls eigene Verhältnisse und Erinnerungen an. Die Flachsenfinger Schule, an der Fixlein bei Beginn der Erzählung seit vierzehn Tagen als Quintus, das heißt als fünfter Lehrer wirkt, ist natürlich das Höfer Gymnasium. Fixleins Heimatdorf Hukelum ist aus Jean Pauls Joditzer Erinnerungen gewonnen, und die Familie des Patrons hat von den Patronen des Vaters, den Plothos auf Zedwitz, die Farben erhalten. Stadt und Land wurden durcheinandergemischt durch die damals übliche Laufbahn des akademischen Theologen, der an den Schulen und Gymnasien des Fürstentums seine Lehrer- und Hungerjahre absolvierte, bis ihm schließlich, wenn das Glück günstig war, eine Rektorstelle in der Stadt oder eine Pfarre auf dem Lande zufiel. Von der Gnade einflußreicher Gönner, entweder im Ratskollegium der Stadt oder eines Kirchen- und Schulpatrons auf dem Lande, hing das Schicksal eines solchen armen Hungerleiders in jedem Falle ab. Jean Pauls Vater war es im Vergleich zu vielen andern noch gut ergangen, denn er hatte in der Baronin Plotho, wie Fixlein in der Baronin von Aufhammer, eine Gönnerin, die ihm, wenn auch freilich zu spät, die Schwarzenbacher Pfarre verschaffte. Als Vorbild für die rührende Gestalt der Mutter des Quintus hatte Jean Paul seine eigene Mutter vor Augen, und er malte ihr Bild liebevoll mit all den rührenden Zügen aus, mit denen die ehemals wohlhabende Fabrikantentochter all ihr Elend trug. Bis ins einzelnste hat Jean Paul in Frau Fixlein seine Mutter nachgebildet, so wenn er sie die Nachricht vom Tode der Patronin dem Sohne auf dem Wäschezettel übersenden läßt, oder wenn sie den Bettelstudenten von ihrer Suppe reicht, da sie an ihren in Leipzig hungernden Sohn denken muß. Man sieht, wie der Dichter der erlebten Wirklichkeit alle die kleinen Züge entlehnt hat, die seine Idyllen so lebenswahr machen. Das kleine Gärtnerhäuschen, aus dem Frau Fixlein sehnsüchtig zum Pfarrhaus hinübersieht, es ist das kleine Schwarzenbacher Häuschen, das Frau Richter bewohnte, als sie nach dem Tode des Mannes das dortige Pfarrhaus räumen mußte. Freilich hatte Jean Paul damals den Herzenswunsch seiner Mutter, ihn predigen zu hören, mit Spott und Verachtung zurückgewiesen, aber dennoch hatte er diesen rührenden Zug im Herzen bewahrt und ausgetragen und legte ihn jetzt der Mutter Fixleins ins Herz. Auch das Weihnachtsfest, wie es in Joditz gefeiert wurde, erhält in Fixleins Leben seinen Platz. Mit allen Einzelheiten entsteht vor unsern Augen das Leben dieser armen Theologenfamilien, das Jean Paul am eigenen Leibe mit allen seinen Leiden und Freuden erfahren hatte. Nicht einmal des Bruders Heinrich, den das Elend der Familie in die Saale trieb, ist in der Dichtung vergessen. Nur läßt er den Bruder des Quintus durch einen Unglücksfall in den Eisschollen versinken und glättet so das allzu Schreiende des Selbstmordes.

Die äußeren Begebenheiten der kleinen Dichtung sind rasch erzählt. Quintus wandert zu Beginn der Hundsferien zu seiner Mutter nach Hukelum. Erinnerungen der Jugendzeit steigen dort vor ihm auf und durchtränken die Ferientage mit heiterem Glück. Wir lernen Fräulein Thienette kennen, eine arme Verwandte der Aufhammers, die mit ihren sechsundzwanzig Jahren allein in dem großen verlassenen Schloß sitzt, der nicht gerade reichlich fließenden Gnade ihrer Verwandten anheimgegeben. Ein Besuch des jungen Quintus bei Frau von Aufhammer zeigt uns die drückende Abhängigkeit des armen Schulmanns von seinen Gönnern. Herr von Aufhammer hat seine Hand ganz von Fixlein abgezogen, weil er annahm, daß dieser seinen Hund nach ihm getauft habe. Alle Entschuldigungen und Erklärungen verfangen nichts. Der Baron läßt nicht mit sich spaßen und hat geschworen, den jungen Mann nie wiederzusehen. Seine Frau hingegen hat ihn vielleicht gerade deshalb besonders in ihr Herz geschlossen. Sie belohnt ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit, verschafft ihm über Erwarten schnell das Konrektorat an der Flachsenfinger Schule, in das er überraschend vom Quintus aufrückt, schenkt ihm sogar zu Weihnachten eine Wanduhr und setzt ihn, als sie stirbt, zum Erben eines großen Himmelbettes und einer Anzahl Dukaten ein. Ein besonderer Gönner Fixleins in der Stadt ist Herr Metzgermeister Steinberger, der Typus eines urehrlichen, prächtigen Charakters, dessen Vorbild wir mit einigen Veränderungen vielleicht im Amtsverwalter Clöter zu suchen haben. Er unterstützt Fixlein auf eine besondere wohlwollende Art, indem er ihm nicht Geld schenkt sondern gegen Zinsen borgt, die er den jungen Lehrer wieder durch gut bezahlte Stunden bei seiner Tochter verdienen läßt. Besonders entzückend ist die Szene, als Meister Steinberger seiner Tochter die Liebe zu Fixlein kurzerhand mit dem Krummholz austreibt, da ein Gelehrter eine ganz andere Frau verdiene. Als der alte Hukelumer Senior Astmann gestorben ist, erhält Fixlein eigentlich nur infolge einer Verwechselung seine Pfarre, und ebenso auch wieder fast eigentlich nur infolge eines Irrtums die Hand des Fräulein Thienette, die der junge Pfarrer im Ernst nie zu begehren gewagt hätte. Alles ist gut. Vor ihm tut sich die Dorfseligkeit auf. Fixlein besteigt die Kanzel und das Ehebett. Wieder werden die Vorbereitungen zur Hochzeit mit besonderer Liebe vor uns ausgebreitet. Ein Leben voller Seligkeit scheint zu beginnen, bis bei der Investitur ins Amt, die gewöhnlich erst fast ein Jahr nach dem eigentlichen Amtseintritt erfolgt, der Tod sich drohend in das Leben voller Seligkeit hineinneigt. Und zwar in doppelter Gestalt. Einmal ist es jener alte Aberglaube, nach dem die Fixleins nur zweiunddreißig Jahre alt werden, zum andern die nahende Niederkunft Thienettens, die Todesgedanken aufrührt. Jean Paul führt sich wiederum selber in die Handlung ein, indem er mit der Kommission nach Hukelum kommt und vorläufig dort bleibt. Er ist es, der Fixlein von dem unheilvollen Glauben befreit und seine psychische Erkrankung mit psychischen Mitteln heilt. Fixlein genest, Thienette gebiert ihr Kind. Nachdem die Handlung durch Furcht und Todesangst hindurchgegangen, biegt sie wiederum in den fröhlichseligen Alltag ein.

Aber dieser Verlauf der Handlung gibt keinen Begriff von der Stimmung, die über der kleinen Dichtung liegt. Was vom »Wuz« gesagt wurde, das gilt auch hier. Nicht nur in die persönliche Kindheit des Dichters wird der Blick eröffnet, es taut vor unsern Augen etwas wie die unberührte Kindheit einer ganzen Landschaft auf. »Dasein« erschließt sich uns, unbelastet von menschlicher Gier und Hast. Wenn im Wuz ein einzelnes Menschenleben in seiner Allgeborgenheit gezeigt wird, so tut sich hier die Allgeborgenheit des Lebens überhaupt vor uns auf. Aber dennoch muß man auch diese Dichtung in das Ganze von Jean Pauls Weltschau einordnen. Als er den Plan zum »Quintus Fixlein« faßte, trug er ein kleines Erlebnis in sein Tagebuch ein: Er findet in der Kirche, auf dem Chor, wo die Knaben stehen, ein verwelktes falbes Rosenblatt. »Großer Gott! was halte ich da anders als ein geringes Blatt mit ein wenig Staub daran, und auf diesem geringfügigen Dinge wird meiner Phantasie ein ganzes Paradies gereicht! Der ganze Sommer, der in meinem Kopfe wohnet, hält sich auf diesem Blatte auf! Ich denke an die schönen Sommertage, wo diese Blätter fielen, wo der Knabe durch das Kirchenfenster den Teil des blauen Himmels und die vorüberziehenden Wolken sah . . . Ach, gütiger Gott! Du säst überall das Vergnügen hin und gibst jedem Wesen eine Freude an die Hand!« Aus dieser Stimmung erwuchs ihm der »Quintus Fixlein«, nicht als Inbegriff des Lebens überhaupt und Inhalt seiner Dichtung, sondern wie ein kleines Rosenblatt mit ein wenig Staub daran, und damit ein ganzes Paradies. Nicht das beschränkt Idyllische ist auch hier das Wesentliche Jean Paulscher Dichtung, sondern das Herzbewegende, das Weltumfassende, das sich hier mit einem so dürftigen Teil der Schöpfung begnügen konnte, um es mit dem Gebirge seines Geistes zu belasten.

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