Biographische Einleitung

Die Vorstellung von dem Einsiedler in der Höhle des Isteiner Klotzes, der die Tage verbringt im schweigsamen Anschauen der schneeweißen Marmorbüste seiner verlornen Geliebten Benigna Serena, erwuchs ihm aus der eigenen Empfindungswelt. Ein Besuch, den er auf der Heimkehr aus Südfrankreich in Säckingen abgestattet hatte, ein im jetzt Basler Gebiet der alten Römerstadt Augusta Rauracorum gemachter archäologischer Fund hatten ihm den historischen Stoff für die »alte Geschichte« geliefert. Wie der tragische Ausgang der Erzählung beweist, war an der Erfindung aber auch wieder »verschmähter Liebe Pein« beteiligt. Benigna Serena ist nicht die Schwester Hugideos. Das kleine, wunderbar objektiv gehaltene, auf jeden Ausschmuck verzichtende, gleichsam Grau in Grau gemalte epische Miniaturbild erschien noch im selben Jahre (1857) in Westermanns »Monatsheften«, als Buch aber erst 1883.

Zwei ergreifende Gedichte aus dem Nachlaß tragen die Überschrift »Maria«; sie sind im Sommer 1857 auf einer Erholungsreise nach Nordfrankreich am Ufer der normannischen Seeküste entstanden, wo der Dichter zur Kräftigung seiner Gesundheit Seebäder nahm. Bei seinen Verwandten in Paris fand er auf dieser Reise nach Etretat viel warme Teilnahme.

Im Herbst dieses Jahres entschloß sich der Gemütskranke, nach einer anregenden Wanderfahrt mit Riehl an die schönsten Stätten des Rheingaus in seinem geliebten Alt Heidelberg das Winterquartier zu beziehen. Längst war er mit Sehnsucht und Spannung von den Freunden im »Engeren« erwartet (vgl. »Der Pfarr' von Aßmannshausen sprach«, »Heimkehr« in »Gaudeamus«; Scheffel hatte hier den Pfarrer von Ziegelhausen nach dem Orte versetzt, wo dessen Lieblingswein herkam). Er sah sich mit einem Jubel empfangen, der später in dem Liebe »Der Heini von Steier ist wieder im Land« nachhallte. Julius Braun, dessen Entwicklungsgeschichte der alten Kunst 1856 in ihrem ersten Teile erschienen war, lebte jetzt wieder als Dozent in Heidelberg und stand im Begriff, sich mit Rosalie Artaria, der älteren Tochter des Mannheimer Kunsthändlers Stephan Artaria zu verloben, dessen Witwe mit den Töchtern und einer Schwester, der lebenslustigen, literarisch sehr gebildeten Witwe des Mannheimer Schauspielers Thürnagel, in Weinheim an der Bergstraße ein Landhaus bewohnte, im Winter aber, der jungen Töchter wegen, viel in Heidelberg war. In dieser Familie und ihrem Kreise, zu dem auch Anselm Feuerbach und seine Mutter gehörten, fand der Dichter ebenfalls eine sehr freundliche Aufnahme. Frau Julie Thürnagel, die »Juletante« (vgl. den Aufsatz von R. Artaria »Gartenlaube« 1886), wußte auch die hafisische Seite von Scheffels Poesie zu schätzen, und sie war es, die ihn jetzt auf Hariri, den Hafis der Araber, aufmerksam machte, dessen von Rückert übersetzte »Makamen« er noch nicht kannte. Dort findet sich der Wein als »der Glättstein des Trübsinns, der Wetzstein des Stumpfsinns« gepriesen. So vereinigte sich alles, um in Scheffel die Erinnerung an die fröhliche Frankonenzeit wachzurufen, die ihm gerade vor zehn Jahren das Lied vom Perkeo entlockt hatte. Im »Engeren« hatte die Nummer der »Fliegenden Blätter« mit Illes köstlicher Illustration zu dem Lied von des Rodensteiners »wilder Jagd« Furore gemacht. Scheffel, der diesmal bei dem Geologen Geheimrat Leonhard am Klingentor wohnte, fühlte sich durch diese Eindrücke und einen erneuten Besuch der Geisterburg im Odenwald angeregt, wie er an Ille schrieb, »den Rodenstein zu einer typischen Gestalt zu machen«, und der durstige Ritter wurde durch die nun entstehenden Lieder von der »Drei-Dörfer-Vertrinkung« zu einer solchen, die seitdem an Popularität mit Shakespeares »Falstaff« wetteifert. In der Zehfußschen Schrift »Die Herren von Rodenstein« war ihm aufgefallen, daß einer der Herren seinen reichen Länderbesitz hatte verpfänden müssen, das Dorf Pfaffenbeerfurt aber dem Stifte Heidelberg vermacht hatte. Das wurde das Motiv zur Dichtung. Zu Heidelberg, wo Scheffel einst selbst im »Hirschen« voll Jugendseligkeit kommersiert hatte, mußte jener zechlustige Rodensteiner seinen Besitz verkneipt haben! Damit war der Anfang gegeben. Aber des Ritters Durst, der »größte, schönste Durst der Pfalz«, hatte früh »in Ruhstand sinken« müssen; Pfaffenbeerfurt hatte er nicht mehr vertrinken können! So ergab sich die heitere Pointe, daß der gewaltige Zecher jenes Dorf der Hochschule Heidelberg, seinen Durst aber »den Herrn Studenten« vermacht. Das war eine so liebenswürdige Blüte von Scheffels Humor, daß sie allein schon die Beliebtheit der Lieder begreiflich macht, die sie sofort in der Studentenwelt fanden. Im Schicksal des Rodensteiners spiegelte Scheffel ins Groteskgroße sein eigenes Mißgeschick, das ihn früh zu einem »zahmen Gast« im Zecherkreise gemacht hatte. Eine Verherrlichung des Trinkens ist der Balladenzyklus gewiß nicht; die drei prächtigen Genreszenen stellen ja, freilich ohne eine Spur von Philistrosität, die üblen Folgen üppigen Zechertums dar. Aber der famose Liederzyklus bildet wie den Abschluß so auch die Krone von Scheffels »feuchtfröhlicher« Dichtung, die der »Genius Loci Heidelbergs« ihm eingab. (Vgl. auch Lorentzen, »Die Sage vom Rodensteiner« S. 49 u. f.)

Der September 1857 sah aber auch unsern Dichter als Gast auf der Wartburg, die er seit dem Burschen-Pfingstfest im Jahre 1848 nicht wieder betreten hatte. Dieser neue Besuch auf der alten Thüringer Landgrafenburg, die der katholischen Welt durch die heilige Elisabeth, der protestantischen Welt durch Luther gleich teuer ist, bedeutet eine folgenreiche Wendung in Scheffels Leben.

Der kunstsinnige Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, der das alte Schloß seiner Ahnen mit historischer Treue und reicher künstlerischer Ausschmückung hatte neuherstellen lassen, trug nun, da das Werk dem Abschluß entgegenging, das Verlangen, neben der romantischen Oper Richard Wagners vom Sängerkrieg auf der Wartburg eine poetische Darstellung jener Begebenheit von historischer Echtheit entstehen zu sehen. Er hatte Scheffels »Ekkehard« mit Entzücken gelesen und der Autor erschien ihm wie berufen zur Erfüllung seines Wunsches. Durch den Kommandanten der Wartburg, den kunstsinnigen Major Bernhard v. Arnswald, der, wie wir sahen, durch Schwanitz dem Dichter näher bekannt geworden war, ließ er diesen nach Weimar einladen, und noch im November dieses Jahres nahm er ihm im Sängersaal der Wartburg vor dem Gemälde Schwind's vom Sängerkrieg das Versprechen ab, einen kulturhistorischen Roman zu schreiben, der das Minnesängerleben am Hofe des Landgrafen Hermann ebenso treu schildern füllte, wie im »Ekkehard« das Leben am Hofe der Herzogin Hadwig auf dem Hohen Twiel geschildert ist. Scheffel, der sich nach einer Ablenkung von den Erinnerungen an die Katastrophen der letzten Jahre sehnte, versprach es. Wie die Aufgabe ihn anlockte, zu welchen ausgreifenden historischen Forschungen er sich durch sie veranlaßt sah, ist von ihm in Kürze in der stimmungsvollen Vorrede zu »Frau Aventiure« und mit näherem Eingehen auf die dabei verfolgten Probleme in den Anmerkungen zu diesen »Liedern aus Heinrich von Ofterdingens Zeit« dargelegt worden. Welchem verhängnisvollen Irrtum er bei Übernahme der verlockenden Aufgabe andrerseits unterlag, und wie ihn sein Gemütsleiden hinderte, dieselbe trotz umfassender Vorarbeiten in der geplanten Weise zu lösen, das habe ich zuerst in meiner größeren Biographie unter Mitteilung und Benutzung der vielen schönen Briefe nachweisen können, die Scheffel während all der Zeit an den Großherzog von Weimar und Bernhard v. Arnswald geschrieben hat.

Die von ihm zu bietende Schilderung der Persönlichkeiten des Sängerkriegs, ihrer Sitten und Lebensgewohnheiten, sollte in dem geplanten Roman aus der Blütezeit des deutschen Helden- und Minnesangs ebenso echt im Zeitkolorit, so »naturgetreu« werden, wie es das Kulturkolorit im »Ekkehard« war. Doch wie anders, wie verwickelt waren hier die Voraussetzungen! Dort wuchs die ganze Handlung aus den früheren Zuständen seiner alemannischen Ahnenheimat hervor. Der neue Stoff wies ihn nach Thüringen, nach Franken, der Heimat Wolframs von Eschenbach, nach der österreichischen Heimat des Ofterdingers an Donau und Traunsee u. s. w. Mit dem Leben und Wesen der ritterlichen Minnesänger, der Kreuzfahrer, der fahrenden Spielleute, dem Hofhalt auf der Wartburg verband ihn keine Familienüberlieferung. Kein so unmittelbar und naiv das damalige Leben schilderndes Chronikbuch bot seiner Phantasie jetzt die Hilfe dar, die ihm beim »Ekkehard« die Casus Sancti Galli geleistet hatten. Er war sich des Unterschieds bei der Abgabe jenes Versprechens nicht klar und mochte die Annales Reinhardsbrunnenses, das alte Gedicht »Die Thüringer vor Accon« für ergiebigere Ergänzungen des alten unklaren Gedichts vom Wartburgkrieg aus dem 13. Jahrhundert halten, als sie es tatsächlich waren. Wie er im September eine Reise durch den Thüringer Wald benutzt hatte, um auf seine Weise das dortige Volkstum zu studieren, das spiegelt gar anmutend sein Brief vom 19. März 1858 an Schwanitz.

Zur Entschließung, den gewünschten Roman zu schreiben, wurde er nicht wenig durch den Umstand ermutigt, daß er kurz vorher die ihm angetragene Stelle eines Bibliothekars der Fürstlich Fürstenbergischen Bibliothek in Donaueschingen vorläufig für ein Jahr angenommen hatte. Seine Hauptaufgabe sollte hier sein, die vom Fürsten Karl Egon von Fürstenberg für diese Bibliothek erworbene große Sammlung altdeutscher Dichtungen aus dem Nachlaß des berühmten Germanisten Joseph v. Laßberg, der 1855 auf Schloß Meersburg verstorben war, zu ordnen und zu katalogisieren. In dieser Sammlung fand er das beste Material, das er sich für die Vorstudien zum Wartburgroman wünschen konnte, beisammen.

Am 1. Dezember 1857 rückte Scheffel in die Stadt an den Quellen des Donaustroms ein, und damit faßte er wieder festen Fuß in dem Heimatland der Großmutter Krederer. Er fand beim Fürsten und der Fürstin Elisabeth, den Hofbeamten und Honoratioren, unter denen der Landstand Kirsner ihm unverwandt war und der Musikdirektor Kalliwoda die Kunst vertrat, die freundlichste Aufnahme. Für ein paar größere Hoffestlichkeiten hatte er sich als Festdichter zu bewähren.

Donaueschingen liegt beinahe gleich weit von Oberndorf wie vom Hohentwiel, und als der Frühling ins Land kam, war für seine Phantasie der Zauber dieser Landschaft weit mächtiger als die alten Pergamente aus dem 13. Jahrhundert, soweit sie nicht, wie die Handschrift des Nibelungenlieds und so manche Liedersammlung, echte, ihn wahrhaft anziehende Poesie boten. Die auf ihm lastende Melancholie, neuerdings genährt durch ein Wiedersehen mit Emma Mackenrodt, deren Mann in Emmendingen bei Freiburg, also nicht gar weit von Donaueschingen, eine Kartonagefabrik betrieb, suchte in der freien Natur Trost und Heilung. Das Wiedersehen war in Freiburg im Hause von Emmas Vater erfolgt und hatte den Dichter in große Erregung versetzt. Bis an den Bodensee, an den Rheinfall bei Schaffhausen, ins Gebiet der Quellen des Neckars erstreckten sich seine Wanderungen. Die alte Streitfrage, ob der ummauerte Donauquell im Donaueschinger Schloßhof, die Quellen im Ried von Allmendshofen oder die Flüßlein Brigach und Breg Anspruch auf die Ehre haben, des Donauquells echter Ursprung zu sein, weckte sein reges Interesse. Das alte »Donauprotokoll« in der Hofbibliothek mit Einträgen von solchen Gästen der Fürstenbergischen Herrschaft, die einst alter Sitte gemäß beim Besuch des Stromquells den »Willekomm« tranken, gemahnte ihn an das Gesellenbuch seines Ahnen, des Schloßhauptmanns auf der Küssachburg. Zu Pfingsten traf er sich mit dem Züricher Maler Corrodi und Ludwig Eichrodt, der jetzt in Stockach amtierte, auf dem Hohentwiel. Stockach war zur Zeit der Nellenburger Herrschaft die Hauptstadt der Hegauer Landschaft gewesen und weit zurück reichte der Ursprung des sogenannten »Narrengerichts«, eines Stockacher Faschingbrauchs, in dessen Dienst Eichrodt jetzt seine humoristische Muse gestellt hatte. Wie einst die Trümmer des Hohentwiels, durchforschte er ferner die Burgruinen der wildromantischen Taler der Gutach, Wutach, Brigach und Gauchach. Auch auf den von Wachholder dicht überwachsenen Neuenhewen mit dem Stettener Schlößchen bei Engen, auf die Feste Blumenegg beim Lindenwirtshaus von Achdorf und in die Ruinen der Stammburg derer von Urslingen bei Oberndorf gelangte er so. Von ganz besonderer Bedeutung wurde ihm die alte Benediktinerabtei Rheinau, auf der unterhalb des Rheinfalls gelegenen Insel. In den Zeiten, die er jetzt erforschte, war hier – wie einst in St. Gallen – eine hochgeschätzte Klosterschule gewesen und die Bücherei der ihn gastlich aufnehmenden Patres enthielt wertvolle Handschriften aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Von seiner guten Laune bei solchen Wanderfahrten zeugt die Epistel an den »Engeren« über die Strafe, die er in Rheinau erleiden mußte, nachdem die Patres »den Ekkehard gelesen« (s. Bd. 4). Für allzu ernsthafte Leser, welchen Wesen und Walten solch schalkhaften Humors zur Ergötzung gleichgesinnter Freunde etwas Ungeläufiges ist, sei bemerkt, daß die dort erzählte Entziehung des famosen Rheinauer Schlaftrunks nur ein lustig Spiel fröhlicher Phantasie war, wie aus einem späteren Brief Scheffels an Arnswald hervorgeht (s. mein Buch »Scheffels Leben und Dichten«).

Das Kloster Rheinau bevölkerte sich ihm im Geiste mit Schülern, den Söhnen schwäbischer Ritter und Vögte auf den Schlössern der Gegend. Ein Mädchenname, Ruchtrut von Almishofen, den eine Sage in Verbindung mit einer der Donauquellen nennt, weckte in ihm die Gestalt einer stolzen Schönen, die zwei dieser Klosterschüler zur Flucht aus dem Kloster und zur Lust am ritterlichen Wesen entflammt, ohne doch einem der beiden Gegenliebe zu schenken, während sie einem gezierten Vertreter der hövischen Sitte den Vorzug gibt. Das Rauschen des Rheinfalls bei Schaffhausen und der Anblick der hier wild an den Felsen berstenden, hochaufschäumend sich überstürzenden Fluten des Rheins fügte zu diesen Vorstellungen des Melancholischen das kühne Bild eines Zweikampfs auf Leben und Tod zwischen den eifersüchtigen Junkern, einer Wettfahrt die Fluten des Rheinfalls hinab. Und wie seinem Ekkehard lieh er auch dem sangesfrohen Klosterschüler Gottfried von Hewen, dem er wegen seiner Vorliebe für den Wachholder des Hewenbergs den Namen Juniperus gab, Züge des eigenen Wesens, so den unruhigen Wandertrieb bei innigster Liebe zur Heimat. Auch daß er den Gottfried ein Lied zum Preise des Wutachtals, der Linde zu Achdorf und der Tochter des Wirts, des Gretleins, dichten ließ, lateinisch nach Klosterschülerart, war ein solcher Zug.

Er hatte sich ausgedacht, den Anfang des Wartburgromans ins Feldlager der Kreuzfahrer vor Akkon zu verlegen, die Landgraf Ludwig der Milde von Thüringen, der Vorgänger und Bruder Hermanns, nach Syrien geführt hat, denn durch die Kreuzzüge hatte erst die deutsche Kultur jene höheren Impulse erhalten, die zur ersten Blüte unserer Nationalliteratur im 12. Jahrhundert geführt haben. Das Studium von Wilkens »Geschichte der Kreuzzüge« genügte ihm aber nicht; seine Phantasie verlangte nach genauer Anschauung der damaligen Trachten u. s. w. So benutzte er seinen Sommerurlaub zu einer Fahrt nach Paris, wo einst Landgraf Hermann am Hofe Ludwigs VII. seine Jugend verbracht und sich für die Pflege der ritterlichen Dichtkunst begeistert hatte. Dort befand sich auch die kostbare Manessesche Liederhandschrift, deren farbige Kostümbilder damals nur teilweise zur Veröffentlichung gelangt waren. Einer der Verwandten seiner Familie, der Gatte von Frida Stolz, Herr Cadou, war als Beamter der Pariser Polizeipräfektur in der Lage, dem emsigen deutschen Forscher nützlich zu sein. Ein Besuch der alten Städte in den Niederlanden folgte; in Brügge widmete er den Gemälden Hans Memlings eingehendes Studium. Nach der Rückkehr suchte er Ruhe und Erholung in Rippoldsau. Wie ihn dort wieder die Melancholie beherrschte, bezeugt das schwermutschöne Widmungsgedicht zu der inzwischen nötig gewordenen 2. Auflage des »Trompeter von Säkkingen.« Erfrischt und erholt kehrte er nach Donaueschingen zurück, bereit mit der Niederschrift der großen Wartburg-Dichtung anzufangen. Statt eines eigentlichen Romans wollte er eine chronikartige Sammlung von Geschichten schaffen, die scheinbar ein Reinhardsbrunner Mönch niederschrieb, der Zeuge des Sängerkriegs auf der Wartburg gewesen war. In seinen Briefen an Arnswald nannte er den Cyklus die »Geschichten der Viola«, womit auf die Schöne hingewiesen wurde, an die der Ofterdinger in Thüringen sein Herz verlieren sollte.

Dem neuen Plan entsprach die Einkleidung der kleinen Erzählung, die den Titel »Geschichte des Schwaben Juniperus« (s. Bd. 3) erhielt, als Scheffel sie im Herbst 1859 dem Großherzog von Weimar auf der Wartburg vorlas. Diese erste der Geschichten konnte Scheffel erst ausarbeiten, als er Donaueschingen verlassen und dort das Werk »Die Handschriften altdeutscher Dichtungen der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen. Geordnet und beschrieben von J. Vict. Scheffel« vollendet hatte. Es geschah im Mai 1859 in seiner grünen Stube im Elternhaus, wo er sich aber durch den Ausbruch des Kriegs zwischen Frankreich-Sardinien und Österreich auf das peinlichste überrascht sah. Beabsichtigte er doch, wegen nötiger Studien für sein Werk nach Beendigung der Juniperusgeschichte eine Reise über Passau die Donau hinauf nach Wien, Preßburg, zu unternehmen.

Ein herrliches Motiv hatte er, zurückgreifend auf die Episode von der Entstehung des Nibelungenlieds durch den Schreiber Konrad von Alzey am Hof des Bischofs Pilgrim von Passau im »Ekkehard« (Kap. 25) für seinen Haupthelden, Heinrich von Ofterdingen, ersonnen. Der »tanzreigenkundige« Ofterdinger, der Verfasser des Sangs vom Zwergkönig Laurin und seinem Rosengarten in Tirol, erschien ihm im Sängerkrieg als Vertreter der volkstümlich deutschen Poesie mit heimatlicher Stoffwelt gegenüber der hövischen, nach französischen Mustern schaffenden Poesie, die vor allen Wolfram von Eschenbach, der Autor des Parzival, vertrat. Scheffel hatte nun geplant, der aus Österreich, dem »freudigen Osterland«, stammende Ofterdinger sollte in einem ersten Sängerkampf vor Landgraf Hermann von Meister Wolfram ausgestochen werden; dann aber sollte er, von seinem Genius geleitet, zum Sänger des deutschen Nibelungenlieds werden, auf Grund des älteren lateinischen vom »Schreiber Konrad«, das er zufällig in Passau entdeckt. Als süddeutscher Dichter den einst nordischen, dann an Rhein und Donau lokalisierten Stoff neugestaltend, sollte also in Scheffels Wartburgdichtung der Ofterdinger die schöne Mission einer künstlerischen Versöhnung des alten Gegensatzes von Nord und Süd im Deutschtum erfüllen.

Um diese wahrhaft geniale zeitgemäße Idee auszuführen, glaubte Scheffel aber erst ganz heimisch in des Ofterdingers Heimat werden zu müssen. Trotz des ausgebrochenen Kriegs, der sich freilich, was allgemein bezweifelt worden war, auf Oberitalien beschränkte, trat er Anfang Juni die geplante Reise an. Zuerst gings in die Schwäbische Alb, wo er die Staufengräber des Klosters Lorch besuchte und den Hohenstaufen bestieg. Am Tage der Schlacht bei Magenta, in der sein Freund Karl Klose als österreichischer Hauptmann mitkämpfte, war er in Passau. Er besuchte die Orte an der Donau, die das Nibelungenlied nennt, das alte Stift Melk, Bechlaren (Pöchlarn) u. s. w., auch Wien, gab aber, unfähig, in dieser Kriegszeit seinen Reiseplan auszuführen, die weitere Fahrt noch im gleichen Monat auf. »Ein Land, das leidet, soll man nicht als Tourist durchstreifen,« schrieb er an Arnswald.

Um so ergiebiger war dann eine lange Wanderfahrt, die ihn von Nürnberg, wo das seit 1852 bestehende, von Hans v. Aufseß gegründete Germanische Museum besucht ward, nach Bamberg und Würzburg, den alten geistlichen Hochschulen und Bischofssitzen des Frankenlands, in die Heimat Wolframs von Eschenbach und weiter in den Thüringer Wald nach Reinhardsbrunn, Friedrichroda, auf den Inselsberg brachte.

Die poetischen Ergebnisse waren aber nicht epischer, sondern lyrischer Art. Überall, wo eine interessante Örtlichkeit in Zusammenhang mit seiner poetischen Vorstellungswelt trat, regte sich in ihm der Drang, diese Beziehung in kurzer Romanzenform zu gestalten. Wie er schon in den »Juniperus« das Gedicht »Laetitia silvestris« als von Gottfried von Hewen verfaßt, eingeflochten, wie er einst für den »Trompeter von Säkkingen« die Lieder Jung Werners und des Stillen Mannes gedichtet hatte, so legte er es jetzt darauf an, die einzelnen noch ungeschriebenen Geschichten der Chronik vom Sängerkrieg im voraus mit Gedichten auszustatten. Was seine eigene Seele empfand beim Nadelduftanhauch des Thüringer Waldes, beim Beschreiten des Rennstiegs, beim Verweilen am Grabmal des Landgrafen Ludwig, es quoll auf zum Lied, und verschmolz sich bei der Gestaltung mit der Ausdrucksweise und Empfindungsart der Personen, denen er ähnliche Situationen nachempfand. So ist ein Teil der Liederzyklen »Wolfram von Eschenbach«, »Reinmar der Alte«, »Biterolf«, »Der Vogt von Tenneberg« in »Frau Aventiure« (s. Bd. 6) entstanden. Sein eigenes Leben glich jetzt dem eines von Fürstenhof zu Fürstenhof ziehenden Sängers der Vorzeit. Was er den die Stiraburg verlassenden, die Wartburg aufsuchenden Ofterdinger als Abschiedsgruß in den Mund legte, war seit er den Fürstenbergischen Hof in Donaueschingen verlassen, sein eigen Empfinden. Eine lange, seiner Gesundheit gar heilsame Station machte er im »Land der Franken« beim Gastwirt Schooner auf Schloß Banz, der einstigen Benediktinerabtei des Mainlands.

Den fahrenden Schülern, jenem lebensfrischen Element, das im Zeitalter der Hohenstaufen eine vermittelnde Rolle zwischen der lateinischen Klosterwissenschaft und der nach Frankreich schielenden hövischen Kunstpflege gebildet hatte, war in der Wartburgdichtung eine bedeutsame Rolle zugedacht. Die alten Freunde seiner Jugendträume sollten ihr lustiges Tirilieren, ihre weltfrohen Spottlieder auch in das Hoflager des Landgrafen Hermann hineinklingen lassen. Der Zyklus »Exodus cantorum. Bambergischer Domchorknaben Sängerfahrt«, dessen erste Nummer »Nun treibt der Frühling Blatt um Blatt und füllt die Welt mit Wonnen« ein beliebtes Studentenlied wurde, entsproßte dieser Absicht. (S. Bd. 6, Frau Aventiure.) In Donaueschingen war ihm der von Schmeller herausgegebene Band alter lateinisch-deutscher Schülerlieder, der Carmina burana, zur Lieblingslektüre geworden. Aus der Seele eines fahrenden Scholaren des Mittelalters jubelte er in fröhlichster Wanderlust und im Gedenken an die Tage, da er als Student mit Braun und Stetten durchs Frankenland nach Thüringen gezogen, beim Besuch des Staffelbergs am Main sein unsterbliches »Wanderlied« in die Lüfte, das seitdem Millionen von Wanderern lustbeschwingt ihm nachgesungen haben: »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein, Wer lange sitzt, muß rosten!« (S. Bd. 6, Gaudeamus.) Auf Schloß Banz, das einem Mitglied des bayrischen Königshauses gehörte, empfing er auch die Anregung zu dem »Waldpsalm« und dem humorvollen Genesungsgedicht vom Kampf mit den Mücken des Mönchs Nikodemus, sowie durch die Riesensaurier, die im dortigen Lias beim Bau einer Straße einst ausgegraben wurden, das Motiv zu dem »Bericht vom Meerdrachen« eben dieses Mönches. (S. Frau Aventiure.) Da konnte sich seine Phantasie zum Besten des »Engeren« wieder einmal in der »Saurierei« erlustieren. Anfang September zog er dann endlich auf der Wartburg ein, wo er bis in den November Gast des ihm sehr huldvollen Burgherrn blieb. In das Gastalbum trug er hier, wo er auch von seiten der Großherzogin Sophie freundliche Aufmunterung erfuhr, bald nach der Ankunft das stimmungsschöne Gedicht »Wartburg-Dämmerung« und vor dem Aufbruch das in »Frau Aventiure« »Wartburg-Abschied« benannte Gedicht ein. Das stimmungsvolle lyrische Kulturbild »Wolfram von Eschenbach dem Landgrafen Hermann den Parzival überreichend« versetzt uns auch auf die Wartburg.

In dieser freien Weise auf der Grundlage seiner Studien für das große erzählende Werk vom Wartburgkrieg sind im nächsten Jahre auch die »Bergpsalmen« seiner Dichterseele entquollen. Dies aber geschah leider, wie der vorwiegend düstere Charakter dieser lyrisch-epischen Dichtung erhabenen Stiles verrät, in einem Zustand tiefster Gemütsdepression.

Jetzt waren es wieder peinigende Herzenswirren, die seiner Melancholie neue Nahrung boten. Seit dem Wiedersehen mit Emma Mackenrodt, zu dem diese ihn um Ostern 1858 nach Freiburg eingeladen hatte, wo sie ohne ihren Mann bei ihrem Vater weilte, war ihm bekannt, daß sie sich in ihrer Ehe unglücklich fühle, daß sie bereue, nicht die Seine geworden zu sein. Schon die Einladung hatte sein Herz in einen Wirbelsturm der Leidenschaft versetzt, wie das glutvolle Gedicht »Wiedersehen« (s. »Nachgelassene Dichtungen«) bezeugt. Beim Wiedersehen selbst kam es zu einer Aussprache. Aber gleich darauf überkam ihn auch das Bewußtsein von dem, was er nach seinen Grundsätzen und denen des Elternhauses dem Seelenfrieden Emmas schuldig war. Er versuchte sie zu meiden. Die ihn in Donaueschingen beherrschende Melancholie sah in dem neuen Verhältnis zu dem ihn dämonisch anziehenden Weibe nur das Demütigende. »Juniperus« war unter dem Druck dieser Stimmung entstanden. Während der Wanderlust des folgenden Sommers hatte er es über sich vermocht, von der Höhe des Inselsbergs einen harmlos klingenden Gruß in heiteren Strophen nach Emmendingen zu senden. Jetzt, im Fasching 1860, erhielt er nach Zell, wo die Cousine bei Freunden ihrer Eltern zu Besuch war, von seiten der letztern eine Einladung, Emmas 25. Geburtstag dort mitfeiern zu helfen. Er schrieb darauf aus Baden-Baden, wo er gerade weilte, an diese in desperatester Stimmung, daß es ihm doch zu den »seltsamsten Prachtgedanken« gehöre, »itzt auf der Biberacher Straße als gratulationssehnsüchtiger Jüngling« mitten im Winter einherzuschreiten. »Ich erinnere mich, daß wir einst einen Bergspaziergang zusammen machten, nach welchem mit Grund zu sagen war: No, aber bei dem Regen! – Wenn ich jetzo gen Zell aufbräche, würde jene Erinnerung durch ein: No, aber bei dem Schnee! gelöscht, und das wäre doch schade!«

Der von dem Gemütsleiden längst in seiner Willenskraft Geschwächte ging aber doch nach Zell und nahm in sehr erregter Stimmung an dem im Hause des Fabrikanten Lenz vorbereiteten Faschingsfest in einem für ihn bereit gehaltenen Rokokokostüm teil. Dieses neue Wiedersehen gab ihm das, bittersten Hohn atmende Gedicht »Irregang« ein, das einen fahrenden Spielmann schildert, der die Braut eines andern liebt und nach dem letzten Kuß von ihr nach dem Aufspielen bei ihrer Hochzeit im Schneesturm untergeht (s. Frau Aventiure).

Doch war es nicht diese Verstimmung, was den Dichter im folgenden März zu einer fluchtähnlichen Reise nach dem stillen Eiland Frauenwörth im Chiemsee, und nach längerer Erholung dort hinauf in die Salzburger Alpen trieb. Vielmehr war es außer bestimmten Forschungszwecken in bezug auf die Entstehung des Nibelungenlieds der gescheiterte Versuch, sich durch die Verlobung mit einem jungen schönen Mädchen, das er schon länger kannte, der Schwester jener Rosalie Artaria in Heidelberg, die sich mit Julius Braun verlobt hatte, Julie Artaria, von dem Fluch der »Unsegensminne« für Emma zu befreien. Er wußte sich in der Familie gern gesehen; aber es wiederholte sich zu seinem Unglück jetzt der Fall, daß das Herz der von ihm Erkorenen nicht mehr frei war. Durch die lange Winterarbeit hinter den Folianten, die ihm über die politischen Zustände in Bayern, Österreich und am Rhein, die Beziehungen zwischen Passau, Bechlaren einer-, Worms, Speyer und Alzey andrerseits in den Zeiten des Meisters Konradus Bescheid geben sollten, war sein Kopfleiden wieder ungemein gesteigert, als dieser neue Schlag seinen Stolz traf. Zwei Monate, bis Mitte Mai, blieb er auf dem lieblichen Klostereiland und in der Umgebung des Chiemsees, seine Tage mit Studien zur Geschichte der Chiemgaugrafen, deren Geschlechte der Bischof Pilgrim von Passau angehört hatte, mit einsamen Fahrten im »Einbaum«, mit Zeichnen nach der Natur, mit Fischen und Angeln, mit Wanderungen ins Kaisertal und andere lockende Gebirgstäler verbringend. Hier entstand das wundersam elegische Gedicht »Schweigsam treibt mein morscher Einbaum« mit dem Seelengruß an die Schwester, das er in das Künstler-Album des Frauenwörth-Wirtshauses, angeregt von einer Zeichnung des Wiener Malers Christian Ruben, schrieb. In »Frau Aventiure« ist es unter der Aufschrift »Am Traunsee« dem Ofterdinger zugewiesen. Die »Seebilder« spiegeln treulichst den idyllischen Aufenthalt. Er pries die Heilkraft, die das Ruhen in schöner Naturumgebung ausübt, und mahnte sich zur Geduld: »Still liegen und einsam sich sonnen Ist auch eine tapfere Kunst.« Sein Psalterbuch fahrender Schüler (»Frau Aventiure«) wurde auch sonst noch bereichert. Er hatte festgestellt, welche Bedeutung einst die Benediktinerabtei auf der Herreninsel im Chiemsee, deren alter Bau jetzt einer Brauerei diente, dank ihrer Lage zwischen Salzburg, der glänzenden Erzbischofsstadt, und den Bischofsstädten im heutigen Bayern mit ihren Domschulen zufiel. Im Salzburgischen hatten die Fahrenden Schüler unter Erzbischof Eberhard II. (1200–1249) gute Zeiten gehabt; Scheffel malte sich aus, wie diese liederfrohe Jugend aus Italien, von dortigen Hochschulen über die Alpen kommend, in Herren-Chiemsee Station machte. Nun kam auch die düstere Seite ihrer Lebensart zum Ausdruck, das Flüchtige, Unstete ihres Daseins. Der Verkehr mit einigen, ihm besonders gewogenen Münchner »Krokodilen«, zu denen jetzt auch Wilhelm Hertz, der genaue Kenner unserer mittelhochdeutschen Poesie gehörte, wirkte gleichfalls anregend (s. Nachgelassene Dichtungen). Einen Teil der auf der Insel entstandenen Lyrik lieferte er, einer Bitte Geibels entsprechend, diesem für das von ihm und Heyse geplante »Münchner Dichterbuch«, das im Frühjahr 1862 im Verlag von A. Kröner in Stuttgart erschien. Für die Feier von Hebels hundertjährigem Geburtstag in Schopfheim, zu der er geladen war, dichtete er auf Frauenwörth den einzig schönen »Festgruß«, wobei er sich als Meister im alemannischen Dialekt bewährte (s. Bd. 6, Gaudeamus).

Auf der nun folgenden Reise durch Salzburg, das Salzkammergut – Eisenhart war wieder sein Begleiter – gelangte er über Mondsee, wo die ehemalige Benediktinerabtei ihn anzog, nach St. Wolfgang am Abersee und beim Anblick der alten Einsiedlerhöhle in der Falkensteinschlucht, die zu Meister Konrads Zeit der Bischof Wolfgang von Regensburg fünf Jahre lang bewohnte, erstand ihm die Idee zu den »Bergpsalmen« (s. Bd. 5). Bischof Wolfgang hatte sich zur Zeit des Bischofs Pilgrim von Passau um die Verbreitung des Christentums in Ungarn verdient gemacht. Er gehörte dem Geschlecht der Grafen von Nellenburg an, das im frühen Mittelalter den Hegau beherrschte, war also ein Alemanne vom Bodensee!

Die Vorstellung, daß ein mit allen Vorteilen mächtiger Stellung und höchster Bildung ausgestatteter Mann einst inmitten der großartigen Gebirgseinsamkeit hier eine kleine Einsiedelei bezog, ganz wie es Scheffel im »Ekkehard« den weltflüchtigen Lehrer der Herzogin Hadwig hatte tun lassen, packte ihn mächtig. Er versenkte sich in das Seelenleben des »frommen deutschen Mannes«, der aus »Kaiserfehde und Fürstenstreit« wirklich im zehnten Jahrhundert »zur Alpeneinsamkeit« geflohen war. Die ersten Gesänge, die am unmittelbarsten das Gepräge epischer Poesie haben, sind in St. Wolfgang und auf dem Schafberg entstanden. »Landfahriges Herz, in Stürmen geprüft, im Weltkampf erhärtet, und oftmals doch Zerknittert von schämigem Kleinmut« – das war sein eigener Seelenzustand. Der Bezug zur Welt des Nibelungenlieds trat im vierten Gesang, »Nebel«, direkt hervor, wo der Falkenschluchtklausner, der frühere Fürstenberater, in einer daherjagenden Nebelwolke ein Weib auf weißem Roß zu erkennen glaubt, das er einst im fernen Ungarlande, im heidnischen Königshause, gekannt hat.

Nach einer diesmal fruchtbareren Studienreise über Ischl, Gmunden, Steyer, Kremsmünster auf der Nibelungen- und Ofterdingerfährte im Traungau und an der Donau, wo die alten Abteien besucht wurden – in der Wachau auch der »Aggstein« (s. »Gaudeamus«) – und die Gedichte »Des Meisters Konradus Spur« unter »Heinrich von Ofterdingen« in »Frau Aventiure« entstanden ging der Dichter daheim an die Sichtung und Ordnung des neugewonnenen historischen Stoffes. Er war entzückt von der großartigen Kulturmission, welche Österreich als Bollwerk deutscher Kultur im Osten Europas in jener Werdezeit erfüllt hat; ein ganzer Roman »von des Nibelungenlieds Anfängen« stand ihm vor der Seele, den er der Chronik vom Wartburgkrieg voraussenden wollte; nach einem Besuch von Worms gestalteten sich die Anfangskapitel! Aber neue Aufregungen lenkten ihn ab von der Arbeit. Ein letztes Wiedersehen mit Emma Mackenrodt vor ihrer Abreise nach St. Petersburg, wo ihr Gatte auf Jahre hinaus eine vorteilhafte Stellung angenommen hatte, bewirkte, daß er sich wieder den »Bergpsalmen« zuwandte. Mackenrodts verabschiedeten sich in Karlsruhe.

Es trieb ihn noch im Spätherbst ins Hochgebirg, diesmal nach der Schweiz. Auf dem bereits tief verschneiten Faulhorn und auf der Aussichtswarte von Seelisberg kam es zum Abschluß der »Bergpsalmen«, die großartigen Hochlandsstimmungsbilder »Nebel« und »Gletscherfahrt« verdanken wir dieser Reise. Voll Todessehnsucht hatte Scheffel im Gedenken an Emma auch unterwegs das in »Frau Aventiure« dem »Einen aus Schwaben« zugeschriebene Abschiedslied »Von Liebe und Leben scheidend« gesungen. Da riß ihn eine neue Einladung ans Hoflager auf der Wartburg aus diesen poetischen Abschweifungen. Er sollte dort, wie ihm Arnswald schrieb, die bisher entstandenen weiteren Abschnitte des Sängerkrieg-Romans vorlesen! Und dabei steckte er mit seiner Arbeit noch immer im 10. Jahrhundert! Er meldete sich außer Stand, zu kommen. Ein Mißverständnis drängte ihm, als er wieder daheim war, die Vorstellung auf, der Großherzog Karl Alexander habe ihn aufgegeben. Da kam die Melancholie des Dichters zu einem kritischen Ausbruch. In der Kuranstalt Brestenberg am Hallwyler See im Kanton Aargau fand er seitens des Arztes Dr. Adolf Erismann vorzügliche Pflege (vgl. meine ältere Biographie und Frey, »Briefe J. V. v. Scheffels an Schweizer Freunde«). Der von der Krankheit benachrichtigte Großherzog entband den Dichter in freundlichster Form von der Aufgabe, die diesem so gegen alles Vermuten zum Verhängnis geworden war. Schnell besserte sich des Leidenden Zustand. Am 1. Januar 1861 dankte er dem Großherzog. »Ganz aufgeben,« schrieb er in dem Briefe, »kann ich aber die Gestalten meiner Träume und die Arbeit meines Herzens erst dann, wenn die arme Seele für immer und jeder Arbeit unfähig geworden, und dies wird, so Gott will, noch nicht mein Fall sein, wenn zur Zeit auch ein wenig Bleistiftzeichnen und Herumsteigen im Schilf und an den flutumspülten Mauern des alten Hallwyler Schlosses schier meine einzige vernünftige Beschäftigung sein darf.«

Scheffel weilte bis in den März dieses Jahres in Brestenberg. Wirklich genesen war er noch nicht, als er ins Vaterhaus zurückkehrte. Ein Dichter war er geblieben: ein Lyriker. Sein Zustand gestattete ihm auf lange hinaus nicht mehr das anhaltende Arbeiten und Beharren des Geists in einer bestimmten Welt fremder Zustände, wie es das Schaffen eines Romans erfordert. Schon am Hallwyler See, wo er auch den ganzen nächsten Sommer über wohnte – in dem Landhaus des ihm befreundet gewordenen Aargauer Oberrichters und Dichters Dössekel – war ihm manches Lied gelungen (s. »Nachgelassene Dichtungen«). Nach Ausflügen von Karlsruhe auf die Burgen der Rheinpfalz entstanden jetzt die Gedichte »König Richard von England« und »Trifels« (s. Bd. 6 »Frau Aventiure« und »Gaudeamus«). Wer wehmütige Schluß des letzteren, die Stauferzeit in klassisch schönen Bildern feiernden Gedichts ist bezeichnend für seine damalige resignierte Stimmung.

Auch im folgenden Jahr bekämpfte er sein Leiden hauptsächlich durch Wanderkuren. Im Frühjahr ging er von Tübingen – wo er beim greisen Uhland vorsprach, ohne den schon schwer Kranken sprechen zu können – über die Schwäbische Alb, wo er auf dem Lichtenstein Wilhelm Hauffs Denkmal besuchte, und durch den Schwarzwald zum Hallwyler See, wo er wieder Station machte. Im Herbst marschierte er den Rhein hinauf ins Engadin. Er verweilte in Vulpera und Pontresina und hier reifte in ihm der Plan, die aus der Stoffwelt seines Nibelungen- und Wartburgromans ihm bisher erwachsenen Lieder, um weitere ergänzt, abrundend zu einem Ganzen zu vereinen. Am 17. September dieses Jahres dichtete er auf einem Steinblock am Fuße des Roseggiogletschers, wo er zehn Jahre zuvor mit Häusser dem Piz Bernina und seinen Nachbarn ein burschikoses Schmollis zugetrunken hatte, das feierliche Bekenntnisgedicht seines Ofterdingers »Auf wilden Bergen«, das in »Frau Aventiure« das Schlußstück bildet. Der Muse des Abenteuers, der die alten Minnesänger gedient und die auch die seine geworden, brachte er jetzt den Becher als Weihetrunk dar. Nach ihr, der »spröden Unholdin«, die sein Sehnen so oft »irrfahrtwärts« getrieben und der er doch als »treuster ihrer Ritter« gedient, benannte er das Buch, das, wie er nun dem Burgherrn der Wartburg schrieb, den Eindruck machen sollte, »als hätte ein zur Zeit des Sängerstreits lebender Mann, der mit ritterlichen Sängern und Singerknaben, Mönchen und fahrenden Leuten bunten Verkehr hatte, eine Sammlung von Liedern der Zeitgenossen zusammengestellt.«

Anfang Juni 1863 erschien die Sammlung unter dem Titel »Frau Aventiure. Lieder aus Heinrich von Ofterdingens Zeit«, dem Großherzog Karl Alexander, Burgherrn der Wartburg, gewidmet, in seiner ganzen Anlage als kulturhistorisch schildernde Poesie der Nation dargeboten. Welche Rückschlüsse die Gedichte auf den von Scheffel nur im Geiste gestalteten Roman vom Sängerkrieg auf der Wartburg gestatten, das findet der Leser in der Volksausgabe meiner größeren Biographie auf Seite 331–333 zusammengestellt. Welche Fülle eigenen Erlebens dieser »historischen« Poesie zugrunde liegt, lassen schon die hier gebotenen Andeutungen erkennen. Wüßten wir Näheres von seinen Aufenthalten im Elsaß und in Paris, in Nord- und Südfrankreich, so würde sich wohl auch ein Persönliches Motiv für den Lieder-Zyklus »Des Meisters Geheimnis« (Walter von der Vogelweide) nachweisen lassen.

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