In die Zustände der Halbkulturen, aber auch in die Kultur vor der Herrschaft des Christentums pflegen wir die Einheit von Lebenselementen zu verlegen, die die spätere Entwicklung auseinander getrieben und zu Gegensätzen ausgestaltet hat.

So hart der Kampf um die physischen Existenzbedingungen, so unbarmherzig die Vergewaltigung des Individuums durch die gesellschaftlichen Forderungen gewesen sein mag - zu dem Gefühl eines fundamentalen Risses innerhalb des Menschen und innerhalb der Welt, zwischen dem Menschen und der Welt, scheint es vor dem Verfall der klassischen Welt nur ganz vereinzelt gekommen zu sein.

Selbst Platos Loslösung einer jenseitigen Welt der »Ideen« von der empirischen - die sich ihm so wendete, als wäre die letztere von der ersteren, der allein im vollen Sinne realen, abgespalten - wurde zunächst wieder rückgängig gemacht.

Das Christentum erst hat den Gegensatz zwischen dem Geist und dem Fleisch, zwischen dem natürlichen Sein und den Werten, zwischen dem eigenwilligen Ich und dem Gott, dem Eigenwille Sünde ist, bis in das Letzte der Seele hinein empfunden.

Aber da es eben Religion war, hat es mit derselben Hand, mit der es die Entzweiung stiftete, die Versöhnung gereicht.

Es musste erst seine bedingungslose Macht über die Seelen verlieren, seine Lösung des Problems musste erst mit dem Beginn der Neuzeit zweifelhaft geworden sein, ehe das Problem selbst in seiner ganzen Weite auftrat.

Dass der Mensch von Grund aus ein dualistisches Wesen ist, dass Entzweiung und Gegensatz die Grundform bildet, in die er die Inhalte seiner Welt aufnimmt und die deren ganze Tragik, aber auch ihre ganze Entwicklung und Lebendigkeit bedingen - das hat das Bewusstsein erst nach der Renaissance als seine Ägide erfasst.

Mit diesem Herabreichen des Gegensatzes in die tiefste und breiteste Schicht unser selbst und unseres Bildes vom Dasein wird die Forderung seiner Vereinheitlichung umfassender und heftiger; indem sich das innere und äußere Leben in sich bis zum Brechen spannt, sucht es nach einem um so kräftigeren, um so lückenloseren Bande, das über den Fremdheiten der Seinselemente ihre trotz allem gefühlte Einheit wieder begreiflich mache.

Zunächst ist es das Gegenüber von Subjekt und Objekt, das die Neuzeit zu schärfstem Gegensatz herausarbeitet.

Das denkende Ich fühlt sich souverän gegenüber der ganzen, von ihm vorgestellten Welt, das: »Ich denke, und also bin ich - und also ist auch die Welt« - wird, wie umgestaltet und weiterentwickelt auch immer, zur einzigen Unbezweifelbarkeit des Daseins.

Aber andrerseits hat diese objektive Welt doch eine unbarmherzige Tatsächlichkeit, gerade nach dieser Trennung erscheint das Ich als ihr Produkt, zu dem ihre Kräfte sich nicht anders als zu der Gestalt einer Pflanze oder einer Wolke verwebt haben.

Und so entzweit lebt nicht nur die Welt der Natur, sondern auch die der Gesellschaft.

In ihr fordert der Einzelne das Recht der Freiheit und Besonderheit, während sie ihn nur als ein Element, das ihren überpersönlichen Gesetzen untertan ist, anerkennen will.

In beiden Fällen droht die Selbstherrlichkeit des Subjekts entweder von einer ihm fremden Objektivität verschlungen zu werden oder in anarchistische Willkür und Isolierung zu verfallen.

Neben oder über diesen Gegensatz stellt die moderne Entwicklung den zwischen dem natürlichen Mechanismus und dem Sinn und Wert der Dinge.

Die Naturwissenschaft deutet, seit Galilei und Kopernikus, das Weltbild mit steigender Konsequenz als einen Mechanismus von strenger, mathematisch ausdrückbarer Kausalität.

Mag dies unvollkommen durchgeführt oder durchführbar sein, mögen Druck und Stoß, auf die alles Weltgeschehen schließlich reduzierbar schien, noch anderen Prinzipien neben sich Raum geben - mindestens bis zu den Weltanschauungsversuchen der letzten Gegenwart bleibt dieses Geschehen prinzipiell ein naturgesetzlich determiniertes Hin- und Herschieben von Stoffen und Energien, ein abrollendes Uhrwerk, das aber nicht, wie das von Menschen konstruierte, Ideen offenbart und Zwecken dient.

Durch das mechanistisch-naturwissenschaftliche Prinzip scheint die Wirklichkeit in völligen Gegensatz zu allem gestellt, was dieser Wirklichkeit bis dahin Sinn zu geben schien: sie hat keinen Raum mehr für Ideen, Werte, Zwecke, für religiöse Bedeutung und sittliche Freiheit.

Aber da der Geist, das Gemüt, der metaphysische Trieb ihre Ansprüche an das Dasein nicht aufgeben, so erwächst dem Denken, seit dem 17. und besonders dem 18.Jahrhundert, die große Kulturaufgabe, die verlorene Einheit zwischen Natur und Geist, Mechanismus und innerem Sinne, wissenschaftlicher Objektivität und der gefühlten Wertbedeutung des Lebens und der Dinge auf einer höheren Basis wiederzugewinnen.

Von zwei prinzipiellen Gesinnungen, die in sehr mannigfaltigen Ausgestaltungen die Kultur durchziehen, gehen die nächstliegenden Vereinheitlichungen des Weltbildes aus: von der materialistischen und der spiritualistischen - jene alles Geistige und Ideelle in seiner Sonderexistenz leugnend und die Körperwelt mit ihrem äußeren Mechanismus für das allein Seiende und Absolute erklärend, diese umgekehrt alles Äußerlich-Anschauliche zu einem nichtigen Schein herabsetzend, und in dem Geistigen mit seinen Werten und Ordnungen die ausschließliche Substanz des Daseins erblickend.

Neben beiden haben sich zwei Weltanschauungen gebildet, deren Einheitsgedanke jenem Dualismus unparteiischer gerecht wird: die Kantische und Goethesche.

Es ist die ungeheure Tat Kants, dass er den Subjektivismus der neueren Zeit, die Selbstherrlichkeit des Ich und seine Unzurückführbarkeit auf das Materielle zu ihrem Gipfel hob, ohne dabei die Festigkeit und Bedeutsamkeit der objektiven Welt im geringsten preiszugeben

Er zeigte, dass zwar alle Gegenstände des Erkennens für uns in nichts anderem bestehen können, als in den erkennenden Vorstellungen selbst, und dass alle Dinge für uns nur als Vereinigungen sinnlicher Eindrücke, also subjektiver, durch unsere Organe bestimmter Vorgänge existieren

Aber er zeigte zugleich, dass alle Zuverlässigkeit und Objektivität des Seins gerade erst durch diese Voraussetzung begreiflich würde.

Denn nur, wenn die Dinge nichts sind als unsere Vorstellungen, kann unser Vorstellen, über das wir niemals hinauskönnen, uns ihrer sicher machen; nur so können wir unbedingt Notwendiges von ihnen aussagen, nämlich die Bedingungen des Vorstellens selbst, die nun von ihnen, weil sie eben unsere Vorstellungen sind, unbedingt gelten müssen.

Müssten wir darauf warten, dass die Dinge, uns wesensfremde Existenzen, in unsern Geist von außen hineingeschüttet würden, wie in ein passiv aufnehmendes Gefäß, so könnte das Erkennen nie über den Einzelfall hinausgehen.

Indem nun aber die vorstellende Tätigkeit des Ich die Welt bildet, sind die Gesetze unseres geistigen Tuns die Gesetze der Dinge selbst.

Der Verstand, so drückt er es mit unerhörter Kühnheit aus, schreibt der Natur ihre Gesetze vor; denn »Natur«, d. h. ein begreiflich-gesetzmäßiger Zusammenhang des Daseins, wird das Chaos der Sinneneindrücke, eines bloßen blinden Materials, erst dadurch, dass es von den ordnenden Kräften unseres Verstandes in geordnete Reihen eingestellt wird.

Das Ich, die nicht weiter erklärliche Einheit des Bewusstseins, bindet die sinnlichen Eindrücke zu Gegenständen der Erfahrung zusammen, die unsere objektive Welt restlos ausmachen.

Dahinter, jenseits aller Möglichkeit des Erkennens, mögen wir uns die Dinge-an-sich denken, d. h. also die Dinge, die nicht mehr für uns da sind; und in ihnen können alle Absolutheiten der Vernunft, alle Forderungen des Gemüts, alle Ideale der Phantasie verwirklicht sein, während sie in der Welt unserer Erfahrungen, die für uns allein Objekt sein kann, keine Stelle finden.

Genauer angesehen, ist die Kantische Lösung des Hauptproblems, des Dualismus von Subjekt und Objekt, Geistigkeit und Körperlichkeit, die: dass diesem Gegensatz die Tatsache des Bewusstseins und Erkennens überhaupt untergebaut wird; die Welt wird, mit allen Fremdheiten ihrer Inhalte, durch die Tatsache bestimmt, dass wir sie wissen.

Denn auch die Bilder, in denen wir uns selbst erkennen und für uns selbst existieren, sind, ebenso wie die körperliche Welt, die Erscheinungen eines Etwas, das uns in seinem An-sich verborgen ist.

Körper und Geist sind Erscheinungen, Erfahrungen innerhalb eines allgemeinen Bewusstseinszusammenhangs, aneinander gebunden durch das Faktum, dass sie beide vorgestellt werden und den gleichen Bedingungen des Erkennens unterliegen.

In der Erscheinungswelt selbst, innerhalb deren allein sie unsere Objekte sind, sind sie nicht aufeinander zurückführbar, weder der Materialismus, der den Geist durch den Körper, noch der Spiritualismus, der den Körper durch den Geist erklären will, sind zulässig,).

Jedes muss vielmehr nach den ihm allein eigenen Gesetzen verstanden werden.

Aber dennoch fallen sie nicht auseinander, sondern bilden eine Erfahrungswelt, weil sie von dem erkennenden Bewusstsein überhaupt, dem sie erscheinen, und seiner Einheit zusammengehalten werden, und weil Jenseits beider die zwar nie erkennbaren, aber doch immerhin denkbaren Dinge-an-sich ruhen; und diese mögen - so können wir glauben - in ihrer Einheit den Grund jener Erscheinungen bewahren, die nun, von unseren Erkenntniskräften ergriffen und zerlegt, in die Zweiheit von Geist und Körper, von empirischem Subjekt und empirischem Objekt auseinandergehen.

Während also die äußere Natur, als Objekt für uns, keine Spur von Geist enthalten darf, so dass die vollendete Wissenschaft von ihr nur Mechanik und Mathematik wäre, und während der Geist seinerseits völlig anderen, immanenten Gesetzen folgt, binden die beiden Gedanken des übergreifenden, erkennenden Bewusstseins und des Dinges-an-sich, in dem ideale Ahnungen den gemeinsamen Grund aller Erscheinungen finden, beide zu einer einheitlichen Weltanschauung zusammen.

Damit ist die wissenschaftlich-intellektualistische Deutung des Weltbildes auf ihren Höhepunkt gekommen: nicht die Dinge, sondern das Wissen um die Dinge wird für Kant das Problem schlechthin.

Die Vereinheitlichung der großen Zweiheiten: Natur und Geist, Körper und Seele gelingt ihm um den Preis, nur die wissenschaftlichen Erkenntnisbilder ihrer vereinen zu wollen; die wissenschaftliche Erfahrung mit der Allgleichheit ihrer Gesetze ist der Rahmen, der alle Inhalte des Daseins in eine Form: die der verstandesmäßigen Begreifbarkeit, zusammenfasst.

Nach einer ganz anderen Norm mischt Goethe die Elemente, um aus ihnen eine gleich beruhigende Einheit zu gewinnen.

Allerdings fehlt ihm nicht nur die Systematik, sondern die ganze Absicht der Philosophie als Wissenschaft: unser Gefühl vom Wert und Zusammenhang des Weltganzen in die Sphäre abstrakter Begriffe zu erheben; unser unmittelbares Verhältnis zur Welt, das innere Anklingen und Mitfühlen ihrer Kräfte und ihres Sinnes spiegelt sich, wenn wir wissenschaftlich philosophieren, in dem ihm gleichsam gegenüberstehenden Denken; dieses drückt in der ihm eigenen Sprache jenen Sachverhalt aus, mit dem es direkt gar nicht verbunden ist.

Wenn ich aber Goethe recht verstehe, handelt es sich bei ihm immer nur um eine unmittelbare Äußerung seines Weltgefühles; er fängt es nicht erst in dem Medium des abstrakten Denkens auf, um es darin zu objektivieren und in eine ganz neue Existenzart zu formen, sondern sein unvergleichlich starkes Empfinden der Bedeutsamkeit des Daseins und seines inneren Zusammenhanges nach Ideen treibt seine »philosophischen, Äußerungen hervor wie die Wurzel die Blüte.

Mit einem ganz freien Gleichnis: Goethes Philosophie gleicht den Lauten, die die Lust- und Schmerzgefühle uns unmittelbar entlocken, während die wissenschaftliche Philosophie den Worten gleicht, mit denen man jene Gefühle sprachlich-begrifflich bezeichnet.

Da er nun aber zuerst und zuletzt Künstler ist, so wird jenes natürliche Sich-Geben von selbst zu einem Kunstwerk.

Er durfte »singen, wie der Vogel singt«, ohne dass seine Äußerung ein unförmig zudringlicher Naturalismus wurde, weil die Kunstform sie von vornherein, an ihrer Quelle, gestaltete - gerade wie das wissenschaftliche Erkennen von vornherein durch bestimmte Verstandeskategorien geformt wird, die in der sachlich vorliegenden Erkenntnis als deren Formen aufzeigbar sind.

Er selbst benutzt diesen Vergleich zur Erklärung eines Satzes, den er einmal zu Schiller ausspricht: »Nicht allein die Gegenstände der Kunst, sondern schon die Gegenstände zur Kunst haben eine gewisse Idealität an sich; denn indem sie bezüglich zur Kunst betrachtet werden, so werden sie durch den menschlichen Geist schon auf der Stelle verändert.«

Sein Betrachten der Dinge bedeutete schon, dass sie in künstlerische Formen (im weitesten Sinne des Wortes) aufgenommen, in sie hineingebildet wurden; sie selbst, wie sie als Vorstellungen in ihm zustande kamen, waren künstlerische, weil sein Vorstellen ein künstlerisches war.

Es ist deshalb in Hinsicht auf die letzte und entscheidende Gesinnung vollkommen richtig, was, äußerlich genommen, ganz unbegreiflich scheint, wenn er sagt: »Von der Philosophie habe ich mich immer frei erhalten.«

Darum wird eine Darstellung der Philosophie Goethes bis zu einem gewissen Grad ganz unvermeidlich eine Philosophie über Goethe sein.

Nicht um Systematisierung seines Denkens handelt es sich - das wäre ihm gegenüber ein sehr minderwertiges Unternehmen - sondern darum, die unmittelbare Fortsetzung und Äußerung des Gefühls für Natur, Welt und Leben bei ihm in die mittelbare, abgespiegelte, einer ganz anderen Region und Dimension angehörige Form des begrifflichen Denkens überzuführen.

Der entscheidende und ihn von Kant absolut scheidende Grundzug seiner Weltanschauung ist der, dass er die Einheit des subjektiven und des objektiven Prinzips, der Natur und des Geistes, innerhalb ihrer Erscheinung selbst sucht.

Die Natur selbst, wie sie uns anschaulich vor Augen steht, ist ihm das unmittelbare Produkt und Zeugnis geistiger Mächte, formender Ideen.

Sein ganzes inneres Verhältnis zur Welt ruht, theoretisch ausgedrückt, auf der Geistigkeit der Natur und der Natürlichkeit des Geistes.

Der Künstler lebt in der Erscheinung der Dinge als in seinem Element; die Geistigkeit, das Mehr-als-Materie und -Mechanismus, das seinem Hinnehmen und Behandeln der Welt allerdings erst einen Sinn gibt, muss er in der greifbaren Wirklichkeit selbst suchen, wenn es für ihn Überhaupt bestehen soll.

Dies bestimmt seine besondere Bedeutung für die Kulturlage der Gegenwart.

Die Reaktion auf den spekulativen Idealismus der Weltanschauung vom Beginn des 19. Jahrhunderts war der Materialismus der 50er und 60er Jahre.

Das Verlangen nach einer Synthese, die beide in ihrem Gegensatz überwand, rief in den 7oer Jahren den Ruf: zurück zu Kant! Hervor.

Aber die wissenschaftliche Lösung, die dieser allein geben konnte, forderte einen Ausgleich; und den Weg zu einem solchen schienen die ästhetischen Interessen zu weisen, die um die Jahrhundertwende die Führung des geistigen Lebens in weitem Ausmaß übernahmen und deren Weiterwirkung, in welchen Umsetzungen auch immer, aus den bevorstehenden Wendungen des deutschen Geistes nicht ausgelöscht werden kann.

Indem sie eine Form boten, den Geist wieder in die Realität aufzunehmen, die sich der Kantischen entgegensetzte und sie irgendwie ergänzte, verdichteten sie sich in den Ruf: zurück zu Goethe! Für ihn sind die beiden Wege verschlossen, auf denen Kant jenen fundamentalen Dualismus überwindet: er steigt nicht unter die Erscheinungen hinab, um sie, als bloße Vorstellungen, durch das Ich oder die Erkenntnisfunktion umschließen zu lassen, noch kann er sich,

über sie hinweg, mit der Idee der Dinge-an-sich und ihrer unanschaulichen, absoluten Einheit begnügen.

An dem ersteren hindert ihn die Unmittelbarkeit seines geistigen Wesens, die ihm alles Theoretisieren über das Erkennen fernstellt.

»Wie hast du's denn so weit gebracht?
Sie sagen, du habest es gut vollbracht.«
»Mein Kind, ich habe es klug gemacht:
Ich habe nie über das Denken gedacht.«

Und:

Ja, das ist das rechte Gleis,
Dass man nicht weiß, was man denkt,
Wenn man denkt:
Alles ist als wie geschenkt.«

Seiner im höchsten Sinne praktischen Natur war die Beschäftigung mit den Vorbedingungen des Denkens widrig, weil diese das Denken selbst, seinen Inhalten und Resultaten nach, nicht förderten.

»Das Schlimmste ist,« sagt er zu Eckermann, »dass alles Denken zum Denken nichts hilft; man muss von Natur richtig sein, so dass die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen, und uns zurufen: da sind wir.«

Die Abneigung gegen Erkenntnistheorie, die aus solchen Gründen seiner inneren Praxis hervorging, entfernte ihn von dem Kantischen Weg, in den Bedingungen des Erkennens, in dem Bewusstseinszusammenhang, der die empirische Welt trägt, die Versöhnung ihrer Diskrepanzen zu suchen - obgleich er sich der Tiefe und Bedeutung dieses Gedankens keineswegs verschloss.

Das Absolute aber, in dem diese Versöhnung gefunden wird, aus der Erscheinung heraus in die Dinge-an-sich zu verlegen, würde für ihn die Welt sinnlos machen.

»Vom Absoluten im theoretischen Sinne wag' ich nicht zu reden; behaupten aber darf ich: dass, wer es in der Erscheinung anerkannt und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird.« Und ein andermal: »Ich glaube einen Gott.

Das ist ein schönes und löbliches Wort; aber Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.« Nicht außerhalb der Erscheinungen, sondern in ihnen fallen Natur und Geist, das Lebensprinzip des Ich und das des Objekts zusammen.

Dieser anschauende Glaube hat in ihm sein äußerstes, das ganze Weltfühlen durchdringendes Bewusstsein erlangt.

Auf der Voraussetzung, dass Natur und Geist, oder Wirklichkeit und Wert nicht ihrem Wesen nach auseinander klaffen, sondern dass ihre tiefe Einheit an dem einzelnen Werk nur eine besonders überzeugende Deutlichkeit gewinne - darauf steht die Existenz jedes Künstlers.

Sie würde leer und sinnlos sein, wäre er nicht überzeugt, dass die Schönheit und Bedeutsamkeit, die die Erscheinung unter seinen Händen annimmt, kein äußeres Hinzufügesel ist, sondern die eigentliche Wahrheit, das von allen Verfälschungen befreite Wesen dieser Wirklichkeit ausspricht.

In diesem Sinne ist freilich jede Kunst »Naturalismus«, weil für den Künstler als solchen »Natur« eben von vornherein die Einheit des Realen und des Idealen bedeutet.

Wenn Goethe, nach seinem eignen Wort, »die Idee mit Augen sieht«, so heißt das, dass ihm Wert und Vollendung der Dinge, die für uns andre nur wie ein mehr oder weniger traumhaftes Gebilde über ihnen zu schweben scheint, in ihrer Wirklichkeit wohnte, wie er sie zu sehen verstand.

Der tiefe Gegensatz der beiden Weltanschauungen, die doch dem gleichen Problem gegenüberstehen, tritt in dem Verhältnis hervor, das sie beide zu dem berühmten Satz Hallers haben, dass »kein erschaffener Geist ins Innere der Natur dringt«.

Beide bekämpfen ihn mit förmlicher Entrüstung, weil er jenen Abgrund zwischen Subjekt und Objekt verewigen möchte, den es gerade auszufüllen galt.

Aber auf wie verschiedene Motive hin! Für Kant ist der ganze Ausspruch ein logischer Widersinn, weil er die Unerkennbarkeit eines Objekts beklagt, das es als Objekt für uns gar nicht gibt.

Denn da die Natur von vornherein nur Erscheinung, d. h. Vorstellung in einem vorstellenden Subjekt ist, so hat sie überhaupt kein inneres.

Wenn man von einem Inneren ihrer Erscheinung sprechen wollte, so sei es dasjenige, in das Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen wirklich dringen.

Wenn die Klage sich aber auf dasjenige bezieht, was hinter aller Natur liegt, also nicht mehr Natur, weder ihr Äußeres noch ihr Inneres ist - so ist sie nicht weniger töricht, weil sie etwas zu erkennen verlangt, was seinem Begriff nach sich den Bedingungen des Erkennens entzieht.

Das Absolute hinter der Natur ist eine bloße Idee, die niemals angeschaut, also auch nicht erkannt werden kann.

Goethe hingegen, solcher erkenntnistheoretischen Überlegung ganz fern, verwirft jenen Spruch aus dem unmittelbaren Mitfühlen mit dem Wesen der Natur heraus:

Und:

Natur hat weder Kern
Noch Schale.
Alles ist sie mit einem Male.

Und:

Denn das ist der Natur Gestalt,
Dass innen gilt, was außen galt.

Und:

Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten,
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,
Denn was innen, das ist außen.

Dass das Tiefste, Innerste und Bedeutsamste, nach dem man sich sehnen kann, nicht auch in der Wirklichkeit ergreifbar sein sollte, ist ihm schlechthin unerträglich.

Der ganze Sinn seiner künstlerischen Existenz wäre ihm dadurch erschüttert.

Wenn er deshalb jenem Spruch entgegenhält:

Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen -

so ist dies nur scheinbar der Kantischen Ansicht gleich, die die Natur und ihre Gesetze in das menschliche Erkenntnisvermögen, als dessen Produkte, hineinverlegt.

Denn Goethe will sagen: das Lebensprinzip der Natur ist zugleich auch dasjenige der menschlichen Seele, beides sind gleichberechtigte Tatsachen, aber hervorgehend aus der Einheit des Seins, die die Gleichheit des schöpferischen Prinzips in die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen entwickelt; so dass der Mensch in seinem eigenen Herzen das ganze Geheimnis des Seins und vielleicht auch seine Lösung zu finden vermag.

Der ganze künstlerische Rausch der Einheit von Innen und Außen, von Gott und Welt, bricht In ihm, aus ihm hervor.

Solcher Behauptungen über die Dinge selbst enthält sich Kant.

Er sagt nur das über sie aus, was sich aus den Bedingungen ihres Erkanntwerdens ergibt.

Nicht weil Natur und Menschenseele ihrem Wesen, ihrer Substanz nach einheitlich sind, kann man das eine aus dem andern ablesen, sondern weil die Natur eine Vorstellung in der Menschenseele ist, so dass die Form und Bewegung dieser allerdings die allgemeinsten Gesetze jener bedeuten muss.

Man kann den Gegensatz, um den es sich handelt, im Hinblick auf jenen Hallerschen Spruch zu einer kurzen Formel zuspitzen; fragt man nach dem eigenen Wesen der Natur, so antwortet Kant: sie ist nur Äußeres, da sie ausschließlich aus räumlichmechanischen Beziehungen besteht; und Goethe: sie ist nur Inneres, da die Idee, das geistige Schöpfungsprinzip, auch ihr ganzes Leben ausmacht.

Fragt man aber nach ihrem Verhältnis zum Menschengeist, so antwortet Kant: sie ist nur Inneres, weil sie eine Vorstellung in uns ist; und Goethe: sie ist nur Äußeres, weil die Anschaulichkeit der Dinge, auf der alle Kunst beruht, eine unbedingte Realität haben muss.

Goethe meint nicht, wie Kant, dass das geistige Innere des Subjekts das Zentrum der Natur sei; sondern dass dieses letztere, wie und weil überall, so auch im Menschengeist zu finden sei.

Beides sind gleichsam parallele Darstellungen des göttlichen Seins, das sich in der Natur, dem Äußeren, mit derselben Realität entwickelt, wie in der Seele, dem Inneren; so dass die Natur ihre unbedingte äußere, anschauliche Wirklichkeit behält, ohne ihre Wesenseinheit mit dem Menschenherzen aufzugeben, und dazu nicht erst, wie von Kant, in eine Vorstellung in diesem verwandelt zu werden braucht.

Beide stellen sich gleichmäßig jenseits des Gegensatzes von Materialismus und Spiritualismus.

Kant, weil sein Prinzip die Materie und den Geist, die beide bloße Vorstellungen sind, gleichmäßig und gegensatzlos unter sich begreift, Goethe, weil beide, die er als absolute Wesen hinnimmt, doch unmittelbar eines bildeten; er meint zu Schiller, die materialistischen Philosophen kämen nicht zum Geiste, die Idealistischen aber nicht zu den Körpern, »und dass man also immer wohltut, in dem philosophischen Naturstande zu bleiben und von seiner ungetrennten Existenz den besten, möglichen Gebrauch zu machen«.

Soll aber eine objektive, d. h. hier, über dem Bewusstsein gelegene Einheit des Seins gesucht werden, so könnte sie für Kant nur in Gott liegen, den er ja auch ausdrücklich heranzieht, wo es sich um die Vereinigung der divergentesten Lebenselemente, der Sittlichkeit und der Glückseligkeit handelt: ein transzendenter Gott, ein Ding-an-Sich, jenseits aller Anschaulichkeit des Seins.

Für Goethe aber kommt alles darauf an, dass die Einheit der Dinge nicht jenseits der Dinge selbst liegt; er verwirft nicht nur den Gott, »der nur von außen stieße« - das würde auch Kant tun; sondern, indem er das »Bedrängsein« des göttlichen Prinzips in der Erscheinung anerkennt, betont er doch, wie sehr wir uns verkürzen, wenn wir es »in eine vor unserem äußern und inneren Sinne verschwindende Einheit zurückdrängen«.

Er kann sich die Einheit der Welt nur retten, wenn sie nicht in die Einheit eines Wesens projiziert wird, das, indem es der ihm gegenüberstehenden Welt die Einheit erst verliehe, sie in Wirklichkeit aus ihr heraussaugen würde.

Bei allen scheinbaren Analogien zwischen Goetheschen und Kantischen Anschauungen darf diese Grundverschiedenheit nie übersehen werden, dass Goethe die Gleichung zwischen Subjekt und Objekt von der Seite des Objekts her löst, Kant aber von der Seite des Subjekts, wenngleich nicht des zufälligen und personaldifferenzierten, sondern des Subjekts, das der überindividuelle Träger der objektiven Erkenntnis ist.

Wissenschaftlich-methodisch angesehen, ist Kant natürlich der objektive, unparteiische Denker, Goethe der subjektive, das Daseinsbild nach seiner leidenschaftlichen Individualität gestaltende.

Weltanschaulich aber, nach dem inhaltlichen Resultat, ist Kant der Subjektivist, der die Welt in das menschliche Bewusstsein hineinlegt und von dessen Formen gestalten lässt, während Goethe nur die selbstgenügsame Objektivität des Daseins anerkennt, innerhalb dessen auch das Subjekt und sein Leben ein Pulsschlag des All-Lebens der Natur ist.

Wenn Goethe also sagt:

»Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnt' die Sonne es erblicken?
Wär' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?«

so erscheint dies zwar als eine Paraphrase der Kantischen Idee, dass wir die Dinge der Welt nur erkennen, weil und insofern ihre Formen a priori in uns ruhen.

Tatsächlich aber ist es etwas ganz anderes.

Goethe greift unter den Gegensatz von Subjekt Objekt hinunter und gründet die Erkenntnisbeziehung zwischen ihnen auf eine Wesensgleichheit zwischen ihnen, wie es in primitiver Form schon Empedokles getan hatte, als er lehrte: dadurch, dass die Elemente aller Dinge in uns selbst sind, können wir die Dinge erkennen- das Wasser durch das Wasser, das Feuer durch das Feuer in uns, den Streit in der Natur durch den Streit in uns, die Liebe durch die Liebe.

Nicht das Auge bildet die Sonne, und kann sie deshalb erkennen - wie man jenen Vers Kantisch interpretieren müsste - sondern Auge und Sonne sind gleichen objektiven Wesens, gleichberechtigte Kinder göttlicher Natur, und dadurch befähigt, sich miteinander zu verständigen, sich ineinander aufzunehmen.

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