Liebesgeschichten aus der Provinz

Louis Marthe

Louis Marthe gab den Kindern der Bürger von Valleyres Klavierstunden.

Er war der Sohn eines Stadtschreibers und da er schon als kleiner Junge auffallendes Interesse für die Musik gezeigt, hatte der alte Organist Faguet sich seiner angenommen und ihn alles gelehrt, was er selbst von seiner Kunst verstand. Als Faguet starb, wurde Marthe sein Nachfolger. Er wäre gern in die Provinzhauptstadt gegangen, um sich weiter auszubilden, doch es fehlten ihm dazu die Mittel: so blieb er in Valleyres. Er erwarb aus dem Nachlasse seines Lehrers ein altertümliches Klavier mit vergilbten Elfenbeintasten, dessen Saiten einen rauhen Ton gaben. Auch die Noten übernahm er, die Sonaten von Diabelli, die Übungen von Czerny und einige Glanzstücke. Um diese umfangreichen Ankäufe zu bezahlen, verpflichtete er sich, zehn Jahre hindurch zu Mariä Lichtmeß und zu Mariä Himmelfahrt kleine Raten zu erstatten. Sein Vater starb, ohne ihm einen Sou zu hinterlassen.

Louis Marthe verließ sein Zimmer, das er seit Jahren bewohnt hatte, behielt die besten Möbel der väterlichen Einrichtung, verkaufte die übrigen und mietete sich bei Frau Poiret, der Krämerin in der Hauptstraße, ein. – Hier erwartete er seine Schüler.

Er mußte nicht lange warten. Die Art und Weise, mit der er beim Gottesdienste die Orgel spielte, hatte die Aufmerksamkeit der Bürger von Valleyres bald auf ihn gelenkt. Man erkundigte sich und erfuhr, daß Marthe das Klavier nicht weniger gut zu spielen verstand; der Herr Pfarrer empfahl ihn wärmstens und so fanden sich bald seine ersten Schülerinnen ein. Es waren die Mädchen Vertot. Louis Marthe kam in Mode. Das alte Fräulein Proteau, das die Ehre gehabt hatte, drei Generationen im Klavierspiel zu unterweisen, sank in Vergessenheit. Marthe aber hatte bald soviel Schüler, als er nur gebrauchen konnte. Die Stunden, die er bei sich gab, berechnete er mit eineinhalb Francs, in der Wohnung seiner Schülerinnen verlangte er vierzig Sous für einen Unterricht von fünfzig Minuten. Sein stets korrektes Benehmen und seine Schüchternheit verschafften ihm das Vertrauen selbst der mißtrauischsten Damen der Stadt. Zu seinen Schülerinnen sprach er nur in der dritten Person.

Nach achtzehn Monaten schon waren seine Schulden bezahlt und er entschloß sich sogar, einen Erard-Flügel zu kaufen.

Nach Beendigung seiner Stunden verbrachte Marthe fast alle seine Abende beim Ehepaar Mathieu Fleuriot. Dies waren zwei alte Leutchen, Freunde seines verstorbenen Vaters, die geruhsam ihren Lebensabend verbrachten. Sie besaßen einen kleinen Laden an der Ecke des Rathausplatzes und der Hauptstraße, und nach dem Abendessen, pünktlich um sieben Uhr, pflegte Marthe bei ihnen einzutreten. Im Winter sahen sie alle drei plaudernd vor dem Kamin, im Sommer gingen sie gemächlich den Ufern der Ourche entlang, die Vallenres durchfließt. Marthe liebte das langsam dahinsickernde Gespräch mit den stets gleichen Gesten, die harmlosen Scherze, die er seit Jahren von ihnen zu hören gewohnt war und die heitere Gelassenheit ihrer Stimmung. Die Alten hatten einen Sohn Julius, der im Staatsdienste in Lyon tätig war und sie alle zwei, drei Jahre auf einige Tage besuchen kam. Ein jüngerer Bruder von Mathieu, Anton Fleuriot, war aus Valleyres fortgezogen, doch sein Leben hatte einen üblen Verlauf genommen. Er hatte sich aus reinem Übermut anwerben lassen und den Krieg in Algier mitgemacht. Einmal war ein Brief von ihm gekommen, man solle ihm augenblicklich dreihundertfünfzig Francs senden, sonst drohe ihm Schimpf und Schande und noch Schlimmeres. Frau Fleuriot hatte gejammert, »so viel Geld auf einmal, wo es doch so schwer war, einige Sous beiseitezulegen!« Mathieu indes hatte entschieden, daß man zahlen müsse. Seither war keine Nachricht mehr gekommen. Von anderer Seite aber hatte man erfahren, daß Anton nach Beendigung seiner Militärzeit in Algier ein kleines Kaffeehaus erworben habe, ja, Gerüchte wollten auch wissen, daß er mit einer Frau zusammenlebte, die sich keines guten Rufes erfreute. In dem friedlichen Haushalte der Familie Fleuriot erregte das abenteuerliche Leben dieses Entgleisten ein Staunen, das niemals nachließ. Seit undenkbaren Zeiten waren die Fleuriot, Vater, Großvater und Ahnen, stets seßhafte Leute und Stützen der Ordnung gewesen, schüchtern, friedliebend, jedem Lärm und jeder Störung ihrer ererbten Gewohnheiten abhold. Wenn Frau Fleuriot das gutmütige Gesicht ihres Mannes betrachtete, die weichen, freundlichen Runzeln, seine glattrasierten Züge, seine dicke, gemütliche Nase, seinen Mund mit der hervorquellenden Unterlippe, seine kleinen Augen, die beim Sprechen listig blinzelten, dann fragte sie sich, durch welchen sonderbaren Zufall der zu Abenteuern neigende Anton von den gleichen Eltern habe gezeugt werden können, wie dieser Mathieu, die personifizierte Behäbigkeit und Ruhe.

Mit Ausnahme der Fleuriot hatte Marthe keinen Verkehr. Er vermochte sich schwer anzuschließen und hatte auch wenig Anziehendes an sich.

Im Frühjahr, wenn die lauen Abende dazu verlockten, wandelten die jungen Mädchen Arm in Arm, etwas außerhalb der Stadt unter den hundertjährigen Ulmen am Ufer der Ourche auf und ab. Zu zwei und zwei schlenderten sie kichernd vorüber und betrachteten die Männer. Marthe aber senkte die Augen. Sein einsames Leben, die spärlichen Worte, die er nur an seine so hoch über ihm stehenden Schülerinnen zu richten pflegte, hatten ihn seinesgleichen entfremdet. Es fehlte ihm die nötige Derbheit, um mit den jungen Leuten seines Alters Freundschaft schließen zu können. Im Kaffeehaus zu sitzen, vergnügte ihn nicht, und wenn er außerhalb seiner Mahlzeiten Wein trank, schmeckte er ihm nicht.

Er hatte keine Freunde und beim großen Ball der Stadt sah er nur von ferne auf die Paare, die sich zum Klange des Orchesters drehten, das aus der Violine des buckligen Schusters Michael, der Flöte des Laufburschen Jacques, der Klarinette des Uhrmacherlehrlings Michot und der Trompete des Taglöhners Tirebras bestand. Das rauschende Fest zog ihn an, doch er selbst wagte den Schatten eines Pfeilers nicht zu verlassen.

Manchmal, wenn ein Pärchen ihm vor der Stadt begegnete, erschrak das Mädchen über die plötzlich hinter einem Baum auftauchende, dunkle Gestalt. »Ach, das ist nichts,« pflegte der junge Mann dann zu sagen, »das ist nur der kleine Marthe!« Und lächelnd gingen sie weiter.

Jahre verstrichen. Marthes dreißigster Geburtstag ging vorbei. In der Sparkasse wuchs sein Guthaben. Er gab kaum ein Drittel seiner Einnahmen für sich aus. Wenn er noch fünfzehn Jahre so fortfuhr, würden seine Zinsen genügend groß sein, um ihm die Erfüllung des Traumes aller Kleinbürger von Valleyres zu ermöglichen: leben ohne zu arbeiten. –

Louis Marthe war eine gute Partie. Wenn er in seinem sauberen, ein wenig engen, dunklen Rocke durch die Hauptstraße ging, dann sahen ihm die Ladenbesitzer mit Kopfnicken nach und sprachen vor sich hin: »Da geht der kleine Marthe noch ein Zweifrancsstück verdienen.« Und die Mutter Barbet, die Gemüsehändlerin, die eine heiratsfähige Tochter und drei andere zwischen zwölf und sechzehn Jahren besaß, seufzte, während sie ihren Salat bespritzte: »Ja, der Herr Marthe, der ist wohl vornehm, der verdient schwer, und seine Frau wird sich nicht zu beklagen haben.« Doch ihre Tochter Julia, die hinter dem Pulte saß, mochte nichts hören, sie dachte nur an den großen Lardy, der ihr gestern abend so sehr den Arm gedrückt hatte, als sie mit Anne Rosat der Ourche entlang gingen. Er verdiente zwar nur fünfzig Sous täglich beim Tapezierer Noirot, doch hatte er eine ganz besondere Art, den Mädchen in die Augen zu blicken.

Marthe blieb in der Einsamkeit, zu der ihn seine Schüchternheit verurteilte.

Er fühlte wohl, daß er niemals den Mut haben würde, seine armselige Persönlichkeit einem dieser jungen Mädchen, zu denen er nicht einmal die Augen zu erheben wagte, zur Ehe anzubieten. Von seinen Schülerinnen kannte er tatsächlich kaum mehr als ihre Hände und auch gegenüber den Leuten seiner Klasse wagte er sich aus der gleichen Zurückhaltung nicht hervor. Nicht einmal an Marie, die Tochter der guten Frau Poiret, die ihm einen Teil ihrer Wohnung überlassen hatte, traute er sich das Wort zu richten. Diese Marie Poiret war ein derbes, hochaufgeschossenes Mädchen, dem seine Mutter plötzlich, in Gedanken an ihre Heiratsfähigkeit und an die zunehmenden Ersparnisse ihres Mieters, die Aufgabe zugeteilt hatte, dessen Zimmer morgens, während er außer Hause seine Stunden abhielt, in Ordnung zu bringen. Doch Frau Poiret, die die Einteilung des Klavierlehrers nicht weniger gut kannte, als ihr Vaterunser, rief Marie immer wieder in den Laden, so daß diese stets erst kurz vor Rückkehr des Herrn Marthe in seinem Zimmer zu arbeiten begann. Marie brauchte nicht lange, um zu begreifen, welche Rolle man ihr zugeteilt habe. Sie zog ihre Arbeit immer mehr hinaus, störte Marthe durch unzählige Entschuldigungen und suchte jede Möglichkeit, ihn mit ihrem hageren Körper eines kaum mehr als halbwüchsigen Mädchens zu streifen. Marthe fühlte ihre Gegenwart mit einer dumpfen Unruhe. Vergeblich versuchte er, sich durch Übung eines schwierigen Stückes von dem Gedanken an ihre Anwesenheit abzulenken. Marie Poiret stellte sich neben ihn an das Klavier und lauschte mit aufgerissenem Munde und fiebernden Augen. Dann wußte er sich nicht anders zu helfen, als fluchtartig, eine Besorgung vorschützend, sein Zimmer zu verlassen, um erst zu einer Zeit zurückzukehren, da schon ein neuer Schüler auf ihn wartete. Mutter Poiret begleitete seinen ungewohnten Ausgang mit verächtlichen Blicken.

Zu jener Zeit verursachte ein bedeutsames Ereignis im Leben der Fleuriot einschneidende Veränderungen. Als Marthe an einem Herbstabende in das Speisezimmer seiner alten Freunde trat, fand er sie niedergeschlagen und erregt. Statt jeder Erklärung wies Frau Fleuriot mit ihrem Finger auf zwei Briefe, die geöffnet auf dem Wachstuche des runden Tisches lagen und forderte ihn auf, sie zu lesen.

Das erste Schreiben war von einem Anwalt in Algier, der Herrn Fleuriot in dürren Worten mitteilte, daß sein Bruder Anton im Spital gestorben sei und seine Geschäfte in einem recht üblen Stande hinterlassen habe. Er hoffe, durch den Verkauf der Hinterlassenschaft die Schulden eben noch decken zu können.

Nachdem Marthe dies gelesen hatte, begann er einen Satz, der sein Beileid ausdrücken sollte, zu formen. Doch Frau Fleuriot unterbrach ihn.

»Sie wissen noch nicht alles,« sprach sie und hielt ihm den zweiten Brief hin.

Als er diesen in die Hand nahm, spürte er einen starken Duft daraus emporsteigen. Das rosa Papier, auf das er geschrieben war, zeigte eine Menge vergoldeter, kleiner Schnörkel, in deren Mitte ein Blumenbouquet erhaben eingepreßt war. Der Inhalt des Briefes aber, von ungeübter Hand geschrieben, lautete folgendermaßen:

»Mein lieber Onkel!

Als Papa krank wurde, trug er mir auf, im Falle eines Unglücks, an Sie, als meinen einzigen Verwandten zu schreiben; denn Mama ist schon vor langer Zeit, wie man glaubt, mit einem Spanier, fort und man weiß nicht, wo sie ist. Mein armer Papa ist vorgestern im Spital, wohin man ihn wegen der Krämpfe, an denen er in letzter Zeit litt, gebracht hatte, gestorben. Heute hat man ihn begraben. Ich bin bei den Nonnen. Herr Dosson, der Anwalt, hat mir eine Fahrkarte bis Marseilles genommen und mir Geld gegeben, damit ich bis Valleyres reisen kann. Ich nehme das Schiff, das erst in sechs Tagen abgeht, um in Begleitung einer Nonne fahren zu können, die damit nach Frankreich zurückkehrt. Ich freue mich Euch bald zu sehen und bleibe indes Euere zärtliche Nichte

Zora Fleuriot

Marthe ließ den Brief sinken. Er wußte nichts zu sagen. Dieser Schlag, der das friedliche Alter seiner Freunde störte, war allzu unerwartet. Bei dem bloßen Gedanken an all die Veränderungen, die das Auftauchen dieser Fremden, dieser Afrikanerin, im Leben der beiden alten Leute verursachen mußte, für die jeder Tag nur die methodische Wiederholung aller Handlungen und Worte des vorhergehenden bedeutet hatte, verlor man den Boden unter den Füßen.

Zuerst war Herr Fleuriot aufgebraust, und seine Frau hatte bittere Worte fallen lassen. Jetzt, ihrem Freunde Marthe gegenüber, überboten sie einander in ängstlich bekümmerten Klagen. Die völlige Unkenntnis, in der sie über des verstorbenen Anton Kind waren, vermehrte noch ihre Unruhe und ihre Besorgnis.

Wußte man denn überhaupt, wie alt dieses Mädchen war? Würde man ihr Unterricht erteilen müssen? Was für unabsehbare Ausgaben mußten wohl aus diesem Schicksalsschlage entstehen! Ja, war sie denn überhaupt eine Christin – mit einem solchen Namen wie Zora? –

An diesem Abende blieb Marthe länger als sonst. Allmählich kamen die beiden Alten zu einiger Ruhe. Im übrigen hatten sie nicht einen Augenblick an die Möglichkeit gedacht, ihrer hilfesuchenden Nichte die Gastfreundschaft zu versagen. Herr Fleuriot bewies in diesem Falle von neuem sein Familiengefühl und seine Frau war eine gute Christin. In ihren Gebeten flehte sie zu Gott, daß er ihr helfen möge, diese Seele, die bisher in einer verdorbenen Welt gelebt hatte, zu retten. Und so harrte sie ergeben, doch mit zunehmender Angst, der Ankunft des Mädchens. Eines nur war für Frau Fleuriot gewiß: Zora würde dunkel sein wie jene spanischen Zigeunerinnen, die einmal in der Nähe von Valleyres kampiert hatten und deren bronzefarbener Teint und glühende Augen den Schrecken aller guten Christenmenschen gebildet hatten. In den engbegrenzten Gedanken der guten Frau verkörperten jene Weiber die ganze orientalische Sünde der fremden, sonnendurchglühten Länder. Sollten sie jetzt wirklich eine Nichte haben, die jenen glich? Marthe bemühte sich sie zu beruhigen und suchte mit ihnen in alten illustrierten Zeitschriften Ansichten von Algier. Er überzeugte sie, daß diese Stadt schon lange europäischen Charakter angenommen habe, daß sie nichts anderes mehr sei, als das Marseille eines anderen Kontinents.

Fünf Tage vergingen in Vorbereitungen und Mutmaßungen. Endlich kündete ein Telegramm die bevorstehende Ankunft und am nächsten Tag war die Erwartete in Valleyres.

Obgleich sich Marthe in Neugierde verzehrte, kam er an diesem Abend, da er zu stören fürchtete, nicht zu seinen Freunden. Am nächsten Morgen ging er an dem kleinen Laden vorbei, doch wagte er auch diesmal nicht einzutreten. Abends zögerte er immer noch, bei den Alten anzuklopfen; denn wie immer, wenn er einer Sache nicht sicher war, gewann die Schüchternheit in ihm die Oberhand. Auch am zweitnächsten Tage hätte er sich zu einem Besuche nicht aufraffen können, wenn nicht Vater Fleuriot selbst ihn holen gekommen wäre.

Zu gewohnter Stunde öffnete er mit klopfendem Herzen die Türe des kleinen Wohnzimmers. Frau Fleuriot saß beim Tisch und neben ihr erblickte er ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren mit schweren, rötlichblonden Haaren und einem rosigen, ein wenig durchsichtigen Teint wie aus Wachs – es war Zora. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid und ihre Blicke waren auf die Handarbeit gesenkt, mit der sie beschäftigt war.

Frau Fleuriot stellte vor. Das junge Mädchen begrüßte den Klavierlehrer und er bemerkte, daß ihre Augen wohl klein, doch schwarz und funkelnd seien. Er lächelte gezwungen, in größter Verlegenheit, versuchte einige Begrüßungsworte zu stammeln, die er zu keinem Satze formen konnte, und ließ sich schließlich auf einen Stuhl nieder.

Eine Weile sahen sie schweigend nebeneinander.

Dann begann Frau Fleuriot von ihren Befürchtungen und Aufregungen zu erzählen und beschrieb, wie sie es in diesen zwei Tagen schon zehnmal getan hatte, wie groß ihre Überraschung beim Einfahren des Zuges gewesen sei. In alle Waggons hatte sie geschaut und vergeblich nach dem dunkelhäutigen, halbwilden Kind gesucht. Der Stationschef hatte sie darauf aufmerksam machen müssen, daß in seiner Kanzlei ein junges Mädchen auf sie warte und dort habe sie dann endlich diese große, blonde, junge Dame gefunden. – War es denn möglich, daß die Nichte aus Algier so aussah? Und, da sie daran zweifelte, ihre gerechtfertigte Überraschung den Zuhörern auch genugsam geschildert zu haben, begann sie im gleichen Atem die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. Zora blieb indessen stumm, ebenso Marthe, der nicht weit von ihr saß und in tiefen Zügen den Duft einatmete, der aus ihren Kleidern aufstieg und ganz jenem glich, der ihrem Briefe angehaftet hatte.

Herr Fleuriot holte aus dem Laden eine kleine Flasche Punsch und einige Biskuits und man trank auf die Gesundheit der Waise. Frau Fleuriot wurde recht aufgeräumt, sie leugnete ihre Ängste nicht, lachte aber jetzt selbst über ihre Dummheit. Zora hatte sich schon als gute Katholikin erwiesen, war sie doch bei den Nonnen aufgewachsen; sie hatte nähen gelernt und spielte sogar – »das wird unseren Freund Marthe besonders freuen« – Klavier!

Das junge Mädchen trat aus seiner zurückhaltenden Beobachtung nicht heraus. Zu einer lustigen Bemerkung des alten Fleuriot lachte sie indes herzhaft, vielleicht ein wenig allzulaut, doch mißfiel dies nicht. Sie ergänzte den Bericht, den Frau Fleuriot von ihrer Ankunft gegeben hatte, nur durch einige Einzelheiten und erzählte auch ein wenig von ihrer Reise. Ihre Aussprache war nicht ganz fehlerfrei. Sie hatte einen leicht singenden Tonfall wie ein kleines Kind. Marthe fand, daß sie außerordentlich hübsch sei. Er wagte sogar ihre Hände zu betrachten und die kleinen, gepflegten Nägel ihrer Finger entzückten ihn. Auch ihre bescheidene Zurückhaltung beruhigte ihn. So verlor sich bald seine anfängliche Verlegenheit und Scheu, denn schließlich saß er doch hier bei Freunden, die ihm seit Kindertagen vertraut waren und nur sie war die Fremde. Er wagte es sogar, einige Scherze vorzubringen, die er dem gewohnten Repertoire seiner täglichen Gespräche mit den Fleuriots entlehnte.

Als der kleine Louis Marthe an jenem Abend seiner Wohnung zuschritt, summte er mit leiser Stimme vor sich hin. –

Es war Anfang Oktober, und die Regenperiode setzte in diesem Jahre ungewöhnlich bald ein. Die Spaziergänge abends waren unmöglich geworden, und Zora mußte zu Hause sitzen und kam nicht dazu, in der Stadt Bekanntschaften zu machen, wie die schöne Jahreszeit sie so leicht vermittelt. Frau Fleuriot, die zu dem geringen Wäschevorrat ihrer Nichte tadelnd den Kopf geschüttelt hatte, beschäftigte sie mit Näharbeiten für eine kleine Ausstattung. Das junge Mädchen verbrachte ihre Tage in Gesellschaft ihrer Tante nähend und stickend im Hinterraum des kleinen Ladens.

Nur Sonntags gingen sie alle in die Kirche, um die große Messe zu hören. Die Orgel dröhnte unter den Fingern von Louis Marthe, als hätte das alte Instrument seine Jugend wiedergefunden.

Jeden Abend während der Woche kam Marthe, wie in früheren Zeiten, auf ein Plauderstündchen zu seinen Freunden. Geräuschlos stand er immer plötzlich, fast unbemerkt mitten im Zimmer, als wäre seine kleine Gestalt, die so wenig Platz einnahm, aus dem Boden aufgetaucht. Herr Fleuriot begrüßte ihn stets mit den gleichen Worten, von denen man nicht wußte, womit sie zusammenhingen und deren heitere Wirkung wohl ausschließlich in ihrer ständigen Wiederholung lag. »Nun, lieber Marthe, was gibt es Neues in der galanten Welt?« And während die rechte Hand des biederen Krämers klatschend auf seinen Schenkel niederfuhr, begleitete er diese Frage mit dem stets gleichen, listigen Augenzwinkern.

Marthe gab seinen Bericht. Fräulein Bourrat aus Prévoux schien ernstlich krank zu sein, Frau Vertot, die alte, lag im Sterben, Herr Duret hatte eine Erbschaft gemacht – »das Wasser rinnt immer in den Fluß,« fügte Herr Fleuriot hinzu – die Weinpreise waren im Sinken, doch Herr Maigret, der stets das Richtige traf, hatte seine Ernte noch rechtzeitig verkauft – und so fort. Frau Fleuriot strickte indes eine Wolljacke und Zora nähte, den Kopf über die Arbeit gesenkt.

Überhaupt blieb das junge Mädchen meist schweigsam, als wäre sie ununterbrochen auf ihrer Hut und als wolle sie ihre Gefühle und Gedanken nicht erraten lassen. Die Tante war ein wenig enttäuscht. Sie fand ihre Neugierde in keiner Weise befriedigt. Von ihrer Mutter wußte Zora fast gar nichts. Sie mußte schon vor langer Zeit, wie Zora sagte, mit einem Spanier Algier verlassen haben. Zora erzählte dies in ihrem gewohnten Tonfall, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Marthe, der ihr zuhörte, erschauerte und pries Gott, daß er in seiner unerforschlichen Gnade in jener verderbten Stadt eine so vollkommene Unschuld habe aufwachsen lassen.

Von ihrem sonstigen Leben erzählte Zora nichts. Nur das eine hatte Frau Fleuriot herausbekommen, daß sie ihre Ferienzeit stets bei ihrem Vater verbracht habe. Doch wohnte sie da bei ihm in der verrufenen Schenke? Darüber vermochte man keine Klarheit Zu gewinnen. Ihrer Tante gegenüber verhielt sich Zora nicht anders, als sie es bei den Nonnen gewohnt gewesen: sie gehorchte ohne Widerspruch. Nur ein- oder zweimal lieh sie Worte fallen, aus denen man zu erraten vermochte, daß sie einst ein besseres Leben gekannt hatte. Doch schon diese Andeutungen schien sie, kaum, daß sie ihr entschlüpft waren, zu bedauern.

Trotz aller Vorhalte ihrer Tante hatte sie die Gewohnheit, sich zu parfümieren, nicht aufgeben können. Sorgfältig bewahrte sie ihr schmales Fläschchen in der kleinen Kassette aus Olivenholz, die sie stets verschlossen hielt und deren winziger Schlüssel an einem Kettchen hing, das um ihren Hals lag. Doch, um allzu heftiges Zürnen ihrer Tante zu vermeiden oder auch, um ihre kostbare Flüssigkeit, die sie aus Algier mitgebracht hatte, zu sparen, pflegte sie kaum mehr als einen Tropfen auf ihren Hals zu tupfen. Marthe aber spürte trotzdem den feinen Duft, der sich mit jenem der Haare mischte und dieser durchdringende, ein wenig säuerliche Geruch stieg ihm zu Kopf und machte seine Augen blinzeln.

Marthe hatte noch keine zehn Abende seit der Ankunft Zoras bei seinen Freunden verbracht und war schon rettungslos verliebt. Nichts war für ihn den Reizen und den Erregungen vergleichbar, die er an jenen stillen Abenden im Wohnzimmer der Fleuriot neben den funkelnden Augen Zoras empfand. Tagsüber, während er zu seinen Stunden eilte, dachte er nur an sie. Ihr Bild fand er auf allen Seiten der Notenhefte, die seine Schüler aufschlugen. Sie strahlte aus dem sternenübersäten Winterhimmel, wenn er abends seiner Wohnung zuschritt und der Duft ihrer matten Haut verfolgte ihn in seine Nächte. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett, vergebens suchte er den Schlaf. Der Gedanke, daß sie da neben ihm ausgestreckt liegen könnte, daß er ihren verführerischen Körper berühren dürfte, erstand verwirrend ...

Doch wenn er ihr gegenüberstand, wagte er nicht das Wort an sie zu richten. Schon vor der Türe der Fleuriots war er so betäubt, daß er stets lange zögerte bevor er eintrat. Nur mit verstohlenen Blicken streifte er Zora; an der Unterhaltung vermochte er kaum mehr teilzunehmen, seine Gedanken waren immer abwesend, in unbeholfener Verwirrung mühte er sich Worte hervorzubringen. Wochen vergingen, ohne daß er mit dem Mädchen zwei Sätze wechselte; denn, wie er durch seine Schüchternheit stumm, durch die Heftigkeit seiner Gefühle gelähmt war, so schien sie mit ihrem gesenkten Blick und der stillen Zurückhaltung immer noch im Kloster zu weilen, in dem man sie erzogen hatte.

Lange hätten die Dinge so weitergehen können, wäre nicht gegen Mitte Dezember Mutter Fleuriot ein Gedanke gekommen oder ihr vielmehr von der Nichte mit so viel Geschick eingegeben worden, daß die gute Frau nicht anders glaubte, als daß es ihr eigener sei. Nachdem sie ihn eine ganze Woche bei sich erwogen hatte, brachte sie ihn ans Tageslicht. Sie meinte, daß Zora, seitdem sie in Valleyres weilte, ihre musikalische Bildung bedauerlicherweise vollkommen vernachlässigt habe; vielleicht würde Marthe gestatten, daß sie während seiner Abwesenheit auf seinem alten Klavier ihre Kenntnisse auffrische?

Marthe stimmte mit Freuden zu und entschuldigte sich, daß er nicht schon längst selbst daran gedacht habe, Fräulein Zora diesen Vorschlag zu machen. Schüchtern fügte er hinzu, er könne ihr sogar einmal in der Woche eine Unterrichtsstunde geben, und es bedurfte all seiner Beredsamkeit, um seinen Freunden begreiflich zu machen, daß er an ein Entgelt dafür nicht denke. Dankbar wurde sein Anerbieten angenommen.

Und schon am nächsten Tage, während der kleine Marthe für zwei aufeinanderfolgende Stunden bei den Durets war, führte Frau Fleuriot ihre Nichte in die Wohnung des Klavierlehrers. Dies tat sie übrigens nur noch zwei- oder dreimal; denn später, da die Musik eine schrecklich einschläfernde Wirkung bei ihr hervorrief, begnügte sie sich, Zora hinzubegleiten und wieder abzuholen. Marthe war ja niemals zu Hause.

Das junge Mädchen genoß diese Stunden der Freiheit überglücklich. Solange die Tante in Hörweite war, spielte sie noch Übungen und kleine Sonaten, die Marthe ihr empfohlen hatte. Doch kaum wußte sie sich unbelauscht, begann sie Militärmärsche und die Begleitung von Couplets zu hämmern, die sie aus dem väterlichen Kaffeehaus kannte und mit schriller Stimme trällerte. Bald indes ermüdete sie auch dies. Sie ließ die Hände von den Tasten sinken, betrachtete an der Wand hinter dem Klavier einen Beethoven, der versunken vor einem Piano saß, das auf Wolken schwebte, dann erhob sie sich, um die übrige Einrichtung des Zimmers zu besehen. Sie blätterte in den Büchern, die auf dem Tische lagen, legte die Muscheln, die den Kamin zierten, an ihr Ohr, um das Geräusch des Meeres zu vernehmen, richtete vor dem Spiegel ihre Haare, bewunderte auch den imitierten Smyrnateppich, der vor einem Fauteuil lag und schließlich warf sie sich der ganzen Länge nach auf den grünen Diwan, dessen fadenscheiniger Samt an manchen Stellen durch kleine Vierecke falscher Spitzen verdeckt wurde.

Wenn der kleine Marthe nach Hause kam, war sie stets schon fort. Einmal in der Woche, um sieben Uhr abends, wenn er alle seine Stunden erledigt hatte, erteilte er ihr Unterricht. Herr oder Frau Fleuriot wohnten diesen Stunden bei, nicht etwa aus Mißtrauen gegen den schüchternen Marthe, sondern nur »wegen der Nachbarn«.

Marthe, auf einem Stuhl neben Zora sitzend, atmete in schweren Zügen den Duft ihres Parfüms. Das erstemal, da er sich so nahe neben ihr fand, kämpfte er fast mit einer Ohnmacht. Zora, die sich plötzlich mit einer Frage zu ihm drehte, bemerkte seine Erregung wohl und von da ab verstand sie es, ihn mit ihrer Schulter zu streifen, ja selbst mit ihren Haaren zu kitzeln.

Wenn Frau Fleuriot mitgekommen war, schlief sie, vom eintönigen Klimpern betäubt, in einem Fauteuil. Dann taute Zora ein wenig auf.

Eines Tages unterbrach sie ihr Spiel und ließ, auf die Schlummernde deutend, mit dem Augenzwinkern eines Komplizen, ein paar Jargonworte fallen, die Marthe nicht verstand. Doch der Blick Zoras, der auf ihm ruhte, verwirrte ihn vollends.

Zu einer Unterrichtsstunde im Januar begleitete Herr Fleuriot seine Nichte. Seine Frau war ein wenig unwohl, er wollte sie nicht allein lassen und bat Marthe, das Mädchen dann nach Hause zu bringen. »Nachts,« meinte er, »sind alle Katzen schwarz.«

Bei dem Gedanken mit Zora allein zu bleiben, zitterten Marthes Knie. Zora indes entledigte sich unbekümmert ihres Hutes und ihrer Jacke und setzte sich ans Klavier.

»Das finde ich famos, einmal allein bei Ihnen zu sein,« meinte sie, und Marthe war von seinen Gefühlen viel zu sehr überwältigt, um den ungewöhnlichen Ausdruck des sonst so zurückhaltenden Mädchens zu beachten. Um sich Haltung zu geben, rieb er unausgesetzt seine Hände und die Stunde begann. Zora zog ihren Schemel ganz nahe an seinen heran, und er mühte sich vergeblich seine Ruhe zurückzugewinnen. Kaum waren fünf Minuten vergangen, als Zora schon ihr Spiel unterbrach.

»Ich glaube, ich fühle mich nicht wohl,« flüsterte sie mit leidender Stimme. Marthe erhob sich beunruhigt, doch sie fügte hinzu:

»Es wird nichts von Bedeutung sein, helfen Sie mir nur bis zum Diwan.«

Er bemühte sich um sie, doch mit einer solchen Ungeschicklichkeit, daß sie sich genötigt sah, ihm selbst zu zeigen, wie er sie stützen solle. Sie schlang ihren bloßen Arm um den Hals des schwächlichen Marthe, ihre Wange lag an der seinen, ihr ganzer Leib schmiegte sich an den Körper des kleinen Klavierlehrers und so schleppte sie mehr ihn, als daß er sie stützte, die wenigen Schritte bis zum Diwan, auf den sie sich sinken ließ. Blaß blieb sie ausgestreckt liegen; Marthe, der vor ihr stand, war noch bleicher als sie. Sie seufzte, schien das Bewußtsein zu verlieren, ihre Hand machte einen vergeblichen Versuch die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, ihre Augen schlossen sich wie in einer Ohnmacht. Marthe hatte begriffen. Mit fieberhafter Eile öffnete er ihren Kragen und den obersten Knopf des Leibchens. Der schimmernde Hals des jungen Mädchens kam zum Vorschein, da hielt Marthe erschrocken ein. Daß es zweckmäßig sein könnte, das Mieder zu öffnen, daran dachte er nicht einmal. Das Blut strömte ihm glühend zu Kopf, doch gleich fühlte er ängstliche Sorge. Ihre Augen öffneten sich nicht mehr, sie kam nicht wieder zum Bewußtsein, sie würde hilflos hier in seiner Gegenwart sterben! Er mußte Frau Poiret rufen ... Schon wandte er sich zur Tür, da hielt ihn ein Seufzer Zoras zurück.

»Geben Sie mir zu trinken, bitte.«

Marthe brachte ein Glas Wasser, das junge Mädchen nahm einige Schluck, seufzte von neuem und schien endlich zu sich zu kommen. Sie öffnete die Augen und spielte ausgezeichnet Verwunderung, Schrecken, Bestürzung über die Unordnung, die sie an ihrer Kleidung jetzt erst zu bemerken schien.

»Was haben Sie mit mir gemacht, Herr Marthe?« stammelte sie verwirrt.

Marthe, in höchster Verlegenheit und Erregung, wußte nicht, wie er sich entschuldigen solle. Ihm selbst erschien die Kühnheit, mit der er sie zu berühren gewagt halte, jetzt unfaßbar. Wie hatte er sich nur unterfangen können, ihre Bluse zu öffnen, sich an dem Anblick ihres unschuldsvollen Halses zu erfreuen – denn er hatte ihn erfreut! Oh, Zora mußte ihn verachten. Er hätte sich vor ihren Augen umbringen mögen. Er sank vor ihr in die Knie und stammelte mit erstickter Stimme, während er die gefalteten Hände zu ihr erhob: »Verzeihen Sie, verzeihen Sie.«

Zora beachtete seine Reue nicht.

»Ich bin so schwach,« hauchte sie, »schließen Sie die Knöpfe wenigstens wieder.«

Marthe beeilte sich ihren Wunsch zu erfüllen, doch die Aufgabe war verwirrend. Der warme Duft des geliebten weiblichen Körpers, der zu ihm aufstieg, begann, ihn zu berauschen. Seine zitternden Finger streiften, ohne, daß er es beabsichtigt hätte, die weiche Haut. Die Knöpfe schienen seinen ungeschickten Händen immer wieder davonzulaufen, das Hemd des jungen Mädchens verstopfte die Knopflöcher. Bei jeder Bewegung fühlte er die schwüle Üppigkeit ihres Leibes. Zora rührte sich nicht und kam ihm nicht zu Hilfe. Mit großer Mühe gelang es ihm, die beiden Teile der Bluse zusammenzubringen, er wurde nervös, sein Kopf glühte. Zora beobachtete ihn durch die gesenkten Lider. Endlich war es Marthe doch gelungen. Aber große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

Das junge Mädchen erhob sich jetzt und mit überraschend sicherem Schritt trat sie vor den Spiegel, um ihre Frisur in Ordnung Zu bringen.

Marthe war erschöpft auf einen Stuhl gesunken und vermochte kein Wort hervorzubringen, keinen Gedanken zu fassen. Nicht viel fehlte und jetzt wäre er umgesunken.–

Zora war fertig, sie verließen das Haus. Die frische Luft gab auch ihm seine Kräfte zurück, doch erst an der Schwelle des Fleuriotschen Hauses, wo er das junge Mädchen, das immer noch gekränkt schien, verließ, brachte er das erste Wort hervor:

»Verzeihen Sie mir.« Und er rannte in die Nacht. Er war halb verrückt vor Liebe und vor Verzweiflung.

Am nächsten Tage erhielt Zora einen Brief, dessen Abfassung den armen Marthe eine halbe Nacht voll Mühe und Angst gekostet hatte. Er bot sein ganzes Leben als Sühne für ein Verbrechen, über das er sich nicht näher aussprach. Maßlose Liebe sei seine einzige Entschuldigung. Zurückgewiesen, würde er die Stadt verlassen.

Mutter Fleuriot erklärte, diese Ehe sei im Himmel beschlossen worden. Kein größeres Glück könne ihrer Nichte widerfahren. Die glänzende Stellung und noch dazu ein Gatte, von dem man sicher sein konnte, daß es an Herz und Gesinnung nicht seinesgleichen in Valleyres gäbe! Herr Fleuriot strahlte nicht weniger. Nur Zora blieb still.

Als Louis Marthe um sieben Uhr nicht erschien, entschloß sich Fleuriot ihn zu holen. Er fand ihn in fieberhafter Erregung, mit verzweifelter Miene. Alle Versicherungen des alten Freundes vermochten den Klavierlehrer von der Wirklichkeit seines Glückes nicht zu überzeugen. Erst als das junge Mädchen, mit dem man ihn allein gelassen hatte, ihre Einwilligung seine Frau zu werden, selbst aussprach, begriff er, daß sie ihm verziehen habe.

Die Hochzeit wurde auf Dienstag nach Ostern festgesetzt.

Eine neue Wohnung mußte gesucht werden. Marthe fand sie im Hause des Herrn Anton Vertot. Sie lag gegen den Garten zu und bestand aus einem Salon, einem Speisezimmer, einem Schlafzimmer und einem düsteren Kabinett.

Im ersten Stock, auf der Straßenseite, war die große Wohnung der Vertot, doch diese zogen es seit zwei Jahren vor, ihren Besitz an der Straße nach Prévoux, nicht zu verlassen.

Marthes Salonmöbel gingen noch an: Noirot, der Tapezierer, sollte nur den grünen Samt erneuern. Für das Eßzimmer wollte man eine neue Einrichtung kaufen.

Wie im Traume vergingen die Wochen. Tagsüber lief Marthe zu seinen Stunden. Abends, bei den Fleuriot, sah er Zora. Kaum zwei- oder dreimal war sie mit ihm allein: dann wurde sie zärtlich, sie küßte ihn auf den Mund, nannte ihn: »mein Männchen, mein großer Liebling.«

Ostern und der Dienstag kamen. Hochzeitsgäste waren die Fleuriot, ihr Sohn, der zu diesem Anlaß mit seiner Frau aus Lyon gekommen war, Frau Poiret und einige alte Freunde der Fleuriot; im ganzen gegen fünfzehn Personen. Louis Marthe trug einen neuen schwarzen Rock, der von Meister Boudin verfertigt war. Ins Knopfloch hatte er sich einen kleinen Zweig von Orangenblüten gesteckt, der ganz Valleyres zu Späßen herausforderte. Zora war rosig und schön mit ihren frischen Farben unter dem weißen Schleier.

Nach der Trauung fuhr man in Wagen über Land. In Prévoux nahm man ein Gläschen Wein und um sechs Uhr begann das Festmahl in der »Goldenen Glocke« in Valleyres. Man aß und trank – wie sich's gehört – unmäßig viel. Herr Fleuriot fand die ganze Serie von Scherzen, die den Umständen angepaßt waren. Beim Champagner wagte er sogar ein Liedchen zum besten zu geben. Zora, ein wenig berauscht, lehnte sich an ihren Mann und flüsterte ihm Zärtlichkeiten ins Ohr. Dann und wann biß sie ihn auch ins Ohrläppchen.

Marthe aß kaum und trank gar nichts. Das Glück machte ihn ernst.

Gegen halb elf Uhr endlich führte er seine Gattin in die neue Wohnung. Am nächsten Tage fuhren sie in die Provinzhauptstadt, wo sie bis zum Ende der Woche blieben. Sie speisten im Restaurant, besuchten den Zirkus, machten Wagenausflüge. –

Sie kehrten nach Valleyres zurück. Marthe nahm seine Stunden wieder auf. Seine Frau sah er nur mittags und abends, endlos lang erschien ihm der übrige Tag.

Ein Jahr verging. Das junge Paar lebte recht zurückgezogen. Der kleine Marthe fühlte sich immer noch im siebenten Himmel, wenn auch sein Wunsch, ein Kind von Zora zu bekommen, nicht in Erfüllung ging. Emsiger denn je lief er von Stunde zu Stunde, obwohl ihm einige Wochen der Erholung nötig gewesen wären. Er fühlte sich müde und er, der niemals kräftig ausgesehen hatte, war jetzt oft erschreckend bleich. Bei jedem Wetterumsturz begann er zu hüsteln. Seine Frau indessen blühte jetzt, in ihrem zwanzigsten Jahre, erst richtig auf. Immer waren ihre Wangen rosig, als wären sie künstlich gefärbt und ihre rotblonden Haare erregten alle Weiber von Valleyres. Beim Ball der Stadt hatten sich einige Honoratioren vorstellen lassen, auch Herr Bataille, der reiche Weinhändler, Mitglied des Provinzwahlkomitees, dem man intime Beziehungen zu Frau Tourette, der Witwe des Tuchhändlers nachsagte und Herr Rigotard, der Drogist. Unter den Kaufleuten der Stadt gab es keine besseren Namen.

Zu Beginn des Winters mußte sich Marthe wegen einer heftigen Erkältung zu Bett legen und Doktor Maigret, den er konsultierte, verordnete ihm einige Zeit Ruhe und Erholung. Zora nahm dies teilnahmsloser hin, als Marthe erwartet hätte.

Sie selbst ging jetzt häufiger aus und begann in der Stadt Beziehungen anzuknüpfen. Meist stand sie erst spät auf, sie brauchte eine beträchtliche Zeit für ihre Toilette und ihr Gatte, wenn er mittags heimkam, fand sie noch im Schlafrock. Nur an Markttagen verließ Frau Louis Marthe schon morgens mit ihrer Magd das Haus, um, wie die anderen Bürgerfrauen von Valleyres, am Rathausplatz ihre Einkäufe zu besorgen.

Entlang des Fußsteigs stellten hier, ob Sommer, ob Winter, die aus der Umgebung gekommenen Bäuerinnen ihre Körbe mit Gemüse, Eiern, Obst und Kartoffeln aus. Im Sommer suchten sie Schutz im Schatten der Häuser; im Winter froren sie. Die einen hockten auf Kohlenpfannen, deren Glut ihre Sitzfläche verbrannte, während der übrige Körper auch weiter fror, die stehengeblieben waren, traten von einem Fuß auf den anderen. Hier unterhielt sich Frau Marthe mit den Damen von Valleyres, deren Bekanntschaft sie gemacht hatte; zwischen zwei Einkäufen erzählte man einander alle Neuigkeiten. Manchmal kam auch Marthe dicht an den Häusern gehend vorbei, und während er sich die Augen nach seiner Frau ausschaute, stieß er die Bäuerinnen, die unwillig zu brummen begannen. Auf seinem Kremser sah man den guten Herrn Ferdinand Bourrat aus Prévoux vorbeikutschieren; auch Herr Anton Vertot überquerte mit seinen langen Schritten die Straße. Melancholisch ging Herr Henri Lanterle, den alten Baron Morteuse zu dem täglichen Spaziergang abholen. Herr Nikolaus Allemand, dessen gelbe Haare unordentlich über den fettigen Kragen hingen, begab sich in die Bibliothek; der Wagen von Frau Duret hielt vor der Post und dann nochmals vor dem Zuckerbäckerladen. Herr Pilou, der Schulleiter, schlenderte nur scheinbar zerstreut dahin; denn trotz seines Wissens und seiner weißen Haare, war er als großer Schürzenjäger bekannt. Unter den Arkaden, die sich an der einen Seite des Platzes befanden, mühten sich Fleischer, Kunden für ihre im Freien ausgestellten Waren anzulocken, indem sie, märchenhaft billige Preise schreiend, Speck und Würste anpriesen. Beim Eingang zur Hauptstraße verbreiteten Berge von Käsen einen aufdringlichen Geruch. – So war Valleyres jeden Dienstag und Samstag zwei Stunden lang von lebhaftem Treiben erfüllt. Bei den Kleinbürgern gehörte es zum guten Ton, sich an diesen Tagen, von einer Magd gefolgt, die den Einkaufskorb trug, auf dem Rathausplatz zu zeigen. Frau Marthe versäumte es nicht, stolz zu beweisen, daß sie ein Dienstmädchen habe, während ihre Tante Fleuriot sich dessen nicht rühmen konnte.

Kurz nachdem Marthe von seiner Erkältung genesen war, entdeckte Zora, daß sie ein Kind erwarte. Die erste Zeit ihrer Schwangerschaft war schwierig. Sie mußte sich pflegen und blieb zu Bett.

Im Jahre darauf brachte Zora – sie war jetzt einundzwanzig, ihr Mann dreiunddreißig – ein Mädchen zur Welt. Marthe hätte sie nach ihrer Großtante gerne Louise genannt, doch Zora wählte den vornehmeren Namen Athenais. Frau Fleuriot und Herr Bataille waren die Paten und ein feierliches Abendessen vereinigte die Freunde des Hauses.

Zora vermochte den Säugling nicht selbst zu nähren und das Kind wurde zu einer Amme nach Prévoux in Pflege gegeben. Etwa zur gleichen Zeit trat in den Beziehungen Zoras zu ihrer Tante, die seit der Heirat des jungen Mädchens immer gespannter geworden waren, ein vollkommener Bruch ein. Marthe, der wohl fühlte, daß die Schuld bei seiner Frau lag, war dies seiner alten Freunde wegen äußerst schmerzlich, doch er wagte nicht einmal sich selbst das Unrecht seiner Frau offen einzugestehen, geschweige denn, seine Ansicht ihr gegenüber zu äußern. Staunend sah er die Veränderung ihres Wesens. Was war aus dem arbeitsamen, stillen, jungen Mädchen von einst geworden? Ihr Benehmen, in dem sie sich jetzt keine Zurückhaltung mehr auferlegte, erwies sich als recht gewöhnlich. Sie pflegte derbe Jargonausdrücke zu gebrauchen, die sie nicht im Kloster gelernt haben konnte, und doch – alles in allem war sie gutmütig geblieben, manchmal sogar zärtlich, obwohl sie für gewöhnlich ihren Mann von oben herab ansah. Diese Überlegenheit hatte sie ihm schon vom ersten Tage ab gezeigt, als wüßte sie vom Leben gar mancherlei, wovon der arme Mann an ihrer Seite noch immer keine blasse Ahnung habe. Marthe aber war nicht weniger verliebt als am ersten Tage. Wenn er auch einige Fehler an ihr fand, er vermochte sich nicht mehr von ihr zu lösen. Mit Leib und Seele war er ihr verfallen und ein Leben ohne sie wäre ihm undenkbar gewesen. Ein- oder zweimal, wenn einer ihrer Wünsche nicht erfüllt wurde, hatte sie ihm abends in ihrem Bett übellaunig den Rücken gekehrt und Marthe dadurch bis zu reuevollen Tränen gebracht. Er liebte es sich an sie zu schmiegen, seine fröstelnden Glieder an ihren warmen Körper zu lehnen und – seine Wünsche reichten meist nicht weiter – wie ein Kind, von ihren mütterlichen Armen umfangen, einzuschlummern.


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