Zweites Kapitel.

Berufung nach Wittenberg. Romreise.

Wittenberg war damals eine noch ganz junge Hochschule. Erst im Jahre 1502 hatte sie der Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen gestiftet, der damals nicht blos durch Umsicht und Besonnenheit, sondern auch durch treue Fürsorge für sein Land, aufrichtige Liebe zur Wissenschaft und tiefe Religiosität unter den deutschen Fürsten hervorragte. Sein Land war nicht reich. Wittenberg war eine dürftige, schlecht gebaute, etwa 3000 Einwohner zählende Stadt. Seine Weisheit aber bewährte der Fürst hier vor Allem durch richtige Wahl der Männer, die er für sein Werk zu Rathe zog und deren Händen er die Leitung desselben übergab. Sie wiederum waren vor Allem darauf bedacht, begabte und zuverlässige Lehrer für die Anstalt zu gewinnen. Rein ihren wissenschaftlichen Kräften und nicht äußerem Prunk und üppigem Studentenleben sollte diese ihre Anziehungskraft verdanken. Die Fürsorge für die Theologie vertraute Friedrich dem von ihm auch persönlich hochgeschätzten Staupitz an, wie denn dieser nebst dem besonders durch Vielseitigkeit ausgezeichneten Gelehrten Pollich von Melrichstadt (oder Mellerstadt) auch schon die Hauptthätigkeit bei der Stiftung der Hochschule in seinem Dienst geübt hatten. Staupitz trat selbst in die theologische Fakultät als ihr erster Dekan ein. Eine fortgesetzte regelmäßige Wirksamkeit an derselben machten ihm seine vielfachen Ordensgeschäfte und die hiedurch veranlaßten Reisen unmöglich. Gerade auch als Ordensvicar aber suchte er den theologischen Bedürfnissen der Universität zu dienen und wiederum durch die hier dargebotenen Bildungsmittel die Glieder seines Ordens zu fördern. Schon vordem hatten die Augustiner Mönche eine Niederlassung in Wittenberg, von der man indessen nur sehr wenig hört. Seit dem Jahre 1506 wurde ein ansehnliches Klostergebäude für sie aufgeführt. Bald traten junge Mönche des Klosters und hernach auch mehr und mehr Augustiner-Mönche, die von auswärts kamen, als Studenten bei der Universität ein und erwarben sich akademische Grade. Der Schutzheilige der Universität war neben der Jungfrau Maria der heilige Augustin.

Es gelang im Jahr 1507, den hoch angesehenen Trutvetter aus Erfurt auf einen theologischen Lehrstuhl nach Wittenberg zu ziehen.

Zu Anfang des Winters 1508–1509, als Staupitz zum zweiten Mal das Dekanat der theologischen Fakultät führte, wurde Luther, für ihn selbst unerwartet und plötzlich, dorthin berufen. Es war nicht blos der Rath und Wunsch des väterlichen Freundes, sondern der Wille des Ordensvorstehers, dem er zu folgen hatte.

Wie er bis dahin erst philosophischer Magister war und noch keinen der für einen theologischen Docenten erforderlichen akademischen Grad inne hatte, so hatte er hier zunächst nur jene philosophischen Wissenschaften vorzutragen, mit denen wir ihn vordem als Studenten in Erfurt beschäftigt sahen. Mit ihnen pflegten auch sonst Theologen beauftragt zu werden, wie denn gleich der erste Dekan der philosophischen Fakultät in Wittenberg ein Theologe, und zwar gleichfalls ein Mitglied des Augustiner-Ordens gewesen war. Aber von Anfang an wünschte Luther dieses Fach mit dem der Theologie vertauschen zu können, und hiebei meinte er, wie er sich ausdrückte, diejenige Theologie, welche den Kern der Nuß und das Mark des Weizens und das Mark der Knochen durchforsche. Soweit war er sich also auch schon bewußt für seine christliche Erkenntniß wie für sein inneres Leben den festen Boden gefunden zu haben, auf welchem stehend er ja auch erst Andere lehren konnte. Sofort, während ihm die ersten philosophischen Vorlesungen Arbeit machten, bereitete er sich auch schon darauf vor, die Stufenleiter jener theologischen Grade zu beschreiten. Auch hier machte den Anfang das Baccalauriat, und dieses selbst hatte in der theologischen Fakultät drei verschiedene Stufen, deren jede durch eine wissenschaftliche Prüfung und Disputation erreicht werden mußte. Die erste war die eines biblischen Baccalaurius, durch welche man zu Vorlesungen über die heilige Schrift befugt wurde. Die zweite Stufe oder die eines Sentenziarius, führte zur Befugniß und Verpflichtung, Vorlesungen über das Hauptlehrbuch der mittelalterlichen Schultheologie, die sogenannten Sentenzen des Petrus Lombardus, zu halten; wer hierin bestimmtes geleistet hatte, erreichte hiemit die dritte Stufe. Ueber dem Baccalauriat mit diesen seinen Stufen stand endlich der Lizentiatenrang mit dem Rechte, die gesammte heilige Theologie zu lehren, und die förmliche, feierliche Aufnahme unter die Doctoren der Theologie. Schon am Schluß jenes Winterhalbjahres, am 9. März 1509, wurde Luther so biblischer Baccalaurius. Nach Verlauf eines halben Jahres konnte er gemäß den Statuten der Universität jene zweite Stufe erreichen, und gleich im Laufe des folgenden Halbjahrs erfüllte er die Vorbedingungen dazu.

Doch ehe ihm mit dem Beginne des Winterhalbjahrs die neuerworbenen Rechte des Sentenziarius bei der Universität zufielen, wurde er durch seine Ordensvorgesetzten nach Erfurt zurückgerufen. Wir kennen die Ursache nicht, wissen nur, daß er auch bei der dortigen theologischen Fakultät als Dozent eintrat, indem er die Anerkennung jenes in Wittenberg erworbenen akademischen Ranges erlangte. Und gegen drei Semester verblieb er hier. Dann trat er wieder bei der Wittenberger Universität ein, um ihr fortan für immer zuzugehören. Trutvetter war gegen Ende des Jahres 1510 von Wittenberg weg wieder einem Rufe nach Erfurt gefolgt. Mit dem Bedürfniß, das hiemit für die Wittenberger Fakultät eintrat, mag der neue Wechsel bei Luther zusammengehangen haben. Jedenfalls war seine Stellung in Wittenberg jetzt eine beträchtlich andere als das erste Mal: kein bejahrter Theologe berühmten Namens stand dort mehr vor ihm.

Zunächst aber wurde ihm noch ein anderer Auftrag von Seiten seines Ordens zu Theil: ein Beweis, welches Vertrauen auch nach anderen Seiten hin seinem Eifer für die Sache des Ordens, seinem praktischen Verstand und seiner Energie geschenkt wurde. Es handelte sich um ein Verhältniß, in welches nach Staupitz' Wunsch andere deutsche Augustinerklöster zu dem bisherigen Verbande jener reformirten Klöster und zum Ordensvicar derselben treten sollten. Da jene hiegegen Widerspruch erhoben, wurde Luther im Jahr 1511, ohne Zweifel auf Staupitz' Veranlassung, in dieser Angelegenheit nach Rom geschickt, wo die Entscheidung darüber gefällt werden mußte. Der Weg dorthin und ebenso der Heimweg mochte leicht sechs Wochen und noch darüber in Anspruch nehmen. Nach Brauch und Vorschrift wurden immer zwei Mönche mit einander ausgesandt und ihnen wohl noch ein Laienbruder zu Dienst und Geleit beigegeben. Sie pflegten den Weg zu Fuß zu machen, und zwar reisten Luther und sein Mitgesandter auf dem Hinweg wahrscheinlich durch die Schweiz. In Rom nahm das Augustinerkloster Maria del Popolo die Ordensgenossen auf. So kam Luther nach der großen Weltstadt, an den Sitz des Oberhauptes der Kirche. Vier Wochen lang hat er dort sich aufgehalten, seine Geschäfte betrieben, in der Stadt und vor allem ihren kirchlichen Merkwürdigkeiten und Heiligthümern sich umgesehen.

Ein bestimmtes Ergebniß der Verhandlungen, welche dort zu führen waren, ist uns nicht bekannt. Wir sehen nur, daß Staupitz, der Ordensvicar, auch mit Klöstern, von denen solcher Widerspruch ausgegangen war, nachher wieder in freundlichem Vernehmen stand und auf unliebsame Neuerungen nicht weiter drang.

Das Wichtigste dieser Reise aber sind für uns die allgemeinen Wahrnehmungen und Erfahrungen, welche Luther damals in Italien und vor allem am Sitze des Papstthums gemacht hat. Oft ist er hernach unter seinem Wirken und Kämpfen in Gesprächen und Schriften auf sie zurückgekommen und hat ausgesprochen, wie bedeutungsvoll ihm hiefür dasjenige, was er dort gehört und gesehen habe, nunmehr geworden sei.

Mit der Andacht eines Pilgers langte er in der Stadt an, nach der er längst mit heiliger Ehrfurcht geblickt hatte. Es war unter seinen Anfechtungen sein Wunsch gewesen, in ihr einmal eine rechte Generalbeichte ablegen zu können. Als er sie sah, fiel er auf die Erde nieder, hob seine Hände auf und sprach: Sei gegrüßt, du heiliges Rom. Sie sei ja, so erklärte er später noch, rechtschaffen heilig von den heiligen Märtyrern und ihrem Blute, das dort vergossen sei. Zürnend erzählte er später von sich, er sei dann dort wie einer der tollen wallfahrenden Heiligen durch alle Kirchen und Klüfte gelaufen und habe alles geglaubt, was daselbst erlogen und erstunken sei. Gern hätte er durch Messelesen und andere Leistungen an besonders geheiligten Stätten auch für das Seelenheil von Freunden etwas gewonnen: es sei ihm, sagt er, schier leid gewesen, daß seine Eltern noch lebten, weil er sonst dort sonderliches hätte thun können, um sie aus dem Fegfeuer zu erlösen.

Aber Befriedigung für sein Inneres fand er in dem allen nicht und gerade im Gegensatz dazu regte sich in ihm jenes Bewußtsein eines anderen Weges zum Heil, das bereits in ihm angebrochen war. Indem er die Stufen einer heiligen Treppe, die einst vor dem Richthaus des Pilatus gestanden haben sollte, knieend und unter Gebet hinaufklomm, wozu dort noch heutzutag reiche päpstliche Ablässe einladen, da fiel ihm das Prophetenwort aus dem Römerbrief (1, 17) ein: Der Gerechte wird seines Glaubens leben.

Von fruchtbarer Belehrung und Trost fürs Seelenleben konnte er bei den römischen Priestern und Mönchen nichts finden. Sehr anerkennenswerth erschien ihm die äußere Geschäftsverwaltung und die feine geordnete Behandlung juristischer Angelegenheiten beim päpstlichen Stuhle. Aber erschrecklich klang ihm, was er vom sittlich-religiösen Leben und Treiben an diesem Mittelpunkte der Christenheit vernahm: von der Sittenlosigkeit unter dem Klerus und besonders seinen höchsten Würdenträgern, bei der es noch für rühmlich galt, wenn sie nicht gar in unnatürliche Ausschweifungen und Laster sich verirrte, von der Leichtfertigkeit, mit der das Heiligste behandelt wurde, von dem frivolen Unglauben, den die Hirten und Herren der Kirche unter einander ungescheut aussprachen und zur Schau trugen. Er klagt, wie er dort die Priester habe »rips raps Messe halten sehen, als trieben sie ein Gaukelspiel«; in der Zeit, in der er eine Messe habe halten können, seien jene mit sieben fertig geworden; ihn habe einer zur Schnelligkeit angetrieben mit den Worten: »Fort, fort, schick' uns'rer Frau ihren Sohn bald wieder heim«. Er hörte ferner darüber scherzen, daß Priester, während sie Brot und Wein in der Messe weihen sollten, dazu lateinisch die Worte sprachen: »Brot bist du und Brot bleibst du, Wein bist du und Wein bleibst du«. Oft erwähnte er nachher noch, wie man im Italienischen den Namen Bon Christian, guter Christ, verächtlich anwende – auf Leute, die dumm genug seien, noch an die christliche Wahrheit zu glauben und an jenen Dingen Anstoß zu nehmen. Man glaube nicht, was dort für Büberei und Schande im Schwang gehe, wenn man es nicht selbst gesehen und gehört habe. Für das aber, was er damals erfahren zu haben versichert, haben wir noch genug Zeugnisse aus den Kreisen selbst, deren Leben und Treiben ihm so anstößig wurde.

Zugleich mußte er an dem geringschätzenden Tone sich ärgern, womit dort über die dummen Deutschen oder deutschen Bestien geredet wurde, auf die man in Rom keine Rücksicht zu nehmen habe.

Er staunte die Pracht und Herrlichkeit an, mit der der Papst in Rom auftritt. Er redet wie einer, der es selbst mit angesehen, von den Umzügen, die derselbe dort wie ein Triumphator halte. Aber frisch waren in Rom damals noch die Gräuelgeschichten im Umlauf vom letztvorangegangenen Papst Alexander, und seinen Kindern, von Brudermord, Giftmischerei, Blutschande und Anderem. Vom gegenwärtigen, Julius II., hörte Luther nichts Rühmliches, als daß er energisch und klug seine weltlichen Geschäfte treibe, Krieg führe, Geld sammle, politische Bündnisse stifte und zerreiße, eingehe und breche. Eben um jene Zeit kam er von einem Feldzug zurück, bei welchem er selbst die blutige Erstürmung einer Stadt geleitet hatte. Auch dafür hatte Luther offnes Auge, daß er in der heiligen Stadt treffliche, scharfe Polizei eingeführt habe und die Gassen rein halten lasse, weshalb nicht viel Pestilenz dort gewesen sei. Aber er sah so in ihm einen bloßen Weltmann und hat ihn später einen gewaltigen Blutmenschen gescholten.

Solche Wahrnehmungen haben damals die Autorität der Hierarchie, die so schlimme Vertreter hatte, für ihn nicht erschüttert, später jedoch, als er das päpstliche Amt selbst angreifen mußte, ihm sein Urtheil und seine Entschlüsse sehr erleichtert. Da hat er geäußert: »Ich wollte nicht hunderttausend Gulden dafür nehmen, daß ich nicht auch Rom gesehen hätte; ich müßte sonst sorgen, ich thäte dem Papst Unrecht; aber was wir sehen, das reden wir.«

Auch unter den Ruinen der alten Weltstadt trieb er sich herum und staunte darin die Reste vergangener weltlicher Herrlichkeit an. Die Werke neuer Kunst, welche Papst Julius damals ins Leben zu rufen begann, scheinen seine Aufmerksamkeit nicht sonderlich auf sich gezogen zu haben. Schon war damals der Papst auch zum Bau der neuen Peterskirche geschritten: Der Ablaß, dessen Ertrag die Ausführung des großartigen Unternehmens ermöglichen sollte, hat nachher den Kampf zwischen dem Wittenberger Augustinermönch und dem Papstthum herbeigeführt.

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