Zweites Buch.

Luther als Mönch und Professor bis zum Eintritt in die reformatorischen Kämpfe. 1505–1517.

Erstes Kapitel.

Im Erfurter Kloster, bis 1508.

Plötzlich war bei Luther seine Entscheidung fürs Mönchsleben erfolgt. Aber sie war in seinem Innern wohl motivirt; und wohl überlegt war auch die Wahl des Klosters, in das er ging.

Die Augustinermönche, bei welchen Luther sich zum Eintritt meldete, gehörten damals zu den geachtetsten Mönchsorden in Deutschland. Soviel schon damals über Verderbnisse im Mönchsleben, über Müßiggang, Scheinheiligkeit und grobe, fleischliche Unsittlichkeit mit Recht geklagt und gespottet wurde: ihrer Viele meinten doch, indem sie nach ihren Gelübden auf eheliches Leben und Eigenthum verzichteten und ihren Willen schlechthin unter die Gebote ihrer Oberen und die Satzungen des Ordens beugten, hiemit aufrichtig ihrem Gott zu dienen und zu einem besonderen Stande der Heiligkeit und des Verdienstes aufgestiegen zu sein; auf äußere Zucht wenigstens wurde allgemein gehalten. Unter den deutschen Klöstern dieses Ordens hatte ferner seit längerer Zeit eine größere Anzahl solcher sich hervorgethan, welche, während anderwärts Versäumnisse und Verderbnisse eingerissen seien, wieder auf strenge Beobachtung ihrer alten, angeblich vom heiligen Augustin herstammenden Regeln dringen wollten; es handelte sich freilich bei Vielem, auf was sie drangen, um sehr kleinliche, äußerliche Dinge. Sie bildeten unter sich einen Verband, welchem ein sogenannter Ordensvicar, ein Generalvicar für Deutschland, vorgesetzt war. In diesem Verband stand auch das Erfurter Kloster. Die Augustinermönche waren vorzugsweise bei den höheren und gebildeten Klassen der städtischen Bevölkerung wohl gelitten und in Ansehen. Sie sollten für Predigt und Seelsorge thätig sein, auch für theologisches Studium in ihrer Mitte sorgen. Dem Erfurter Kloster gehörte der vorhin genannte Lehrer Luthers, Arnoldi, an. Daneben zogen indessen die Mönche, da auch der Orden kein Eigenthum besitzen, sondern mit allen seinen Gliedern von Almosen leben sollte, in der Stadt und auf dem Land umher, um Gaben an Geld, Brot, Käse und anderen Lebensmitteln einzusammeln.

Nach den allgemeinen Vorschriften des Ordens wurde dem, der zum Eintritt sich meldete, die Bitte nicht sogleich gewährt, sondern erst zugewartet, ob es ihm damit Ernst sei. Dann wurde er zunächst als sogenannter Novize auf mindestens Ein Probejahr aufgenommen. So lange war auch noch Rücktritt für ihn möglich.

Luther gedachte jetzt doch seiner Eltern, ihnen seinen Entschluß vorzulegen. Die Klosterbrüder aber erinnerten ihn hiegegen, daß man Vater und Mutter um Christi und seines Kreuzes willen verlassen müsse, und daß Keiner, der die Hand an den Pflug lege und zurücksehe, zum Reich Gottes tüchtig sei. Als er dann doch seinem Vater schrieb, wallte dieser zornig auf im Bewußtsein seines väterlichen Rechtes dem Sohne gegenüber. »Mein Vater,« erzählt Luther später, »wollte darüber toll werden, war übel zufrieden und wollte mir's nicht gestatten; er antwortete mir schriftlich wieder und hieß mich Du – zuvor hieß er mich Ihr, weil ich Magister war – und sagte mir alle Gunst ab.« Da verlor der Vater zwei seiner Söhne an einer Pest. Eben dieselbe Seuche war auch in der Stadt Erfurt so heftig ausgebrochen, daß von dort um die Zeit der Ernte ganze Schaaren von Studenten mit ihren Lehrern hinwegflüchteten, und jener erhielt eine Nachricht, sein Sohn Martin sei auch erlegen. Seine Freunde trieben ihn dann an, er solle Gott sein Liebstes opfern, indem er diesen Sohn, der ihm dennoch erhalten geblieben war, in den Gott geheiligten Stand treten lasse. So ließ sich der Vater endlich überreden; er ergab sich darein, wie Luther sich ausdrückt, mit einem unwilligen, traurigen Willen.

Mit feierlichen Gesängen, Gebeten und andern Gebräuchen wurde der Neuling unter die Novizen aufgenommen. Er wurde auch schon in die Tracht seines Ordens eingekleidet. Ueber einem weißen wollenen Hemde wurde ihm eine Kutte und Kapuze aus schwarzem Tuch mit einem schwarzen ledernen Gürtel umgelegt. Beim Auskleiden und Ankleiden wurden lateinische Worte über ihn gesungen, daß ihm der Herr den alten Menschen ausziehen und den neuen nach Gott geschaffenen Menschen anlegen möge. Ueber die Kutte erhielt er ein sogenanntes Scapulier, nämlich ein schmales Stück Tuch über Schulter, Brust und Rücken und herabreichend bis zu den Füßen; dies sollte bedeuten, daß er das Joch des Herrn auf sich nehme, der gesprochen: »Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.« Damit wurde er einem für die Novizen bestellten Meister übergeben, der dieselben in die Uebungen der mönchischen Gottseligkeit einleiten, ihren Wandel beaufsichtigen, über ihre Seele wachen sollte.

Vor Allem sollte bei ihnen der eigene Wille gebrochen werden. Sie sollten lernen, alles ihnen Aufgetragene ohne Widerspruch zu leisten, und zwar um so bereitwilliger, je mehr es dem eigenen Sinne zuwider sei. Neigung zum Hochmuth sollte dadurch überwunden werden, daß man einem gerade die niedrigsten Dienstleistungen auferlegte. Freunde Luthers berichten uns, daß namentlich er so in seiner ersten Zeit die verächtlichsten täglichen Arbeiten mit Auskehren und Ausfegen habe verrichten müssen, und daß es eifersüchtigen Brüdern ein besonderes Vergnügen gewesen sei, wenn auch er, der bisherige stolze junge Magister, mit dem Bettelsack auf dem Rücken an der Seite eines darin schon geübteren Mönches durch die Stadt habe ziehen müssen. Zuerst habe dann die Universität sich darin seiner als ihres Gliedes angenommen und ihm wenigstens einige Erleichterung ausgewirkt. Aus Luthers eigenem Munde hören wir später nie eine Klage über solche besondere Belastung und Quälerei. Er ließ sich, soweit sie statthatte, dadurch nicht zurückschrecken; begehrte er doch selbst besonderer Leistungen, mit denen er sich Gottes Gunst verdienen könnte. Seines Novizenmeisters oder »Pädagogen« hat er noch als Reformator dankbar gedacht: es sei ein feiner alter Mann gewesen, ein zweifellos echter Christ unter der verdammenswerthen Kutte. Mit vorgeschriebenen Gebeten und andern gottesdienstlichen Verrichtungen war jeder Tag schon für die Novizen reichlich und gleichmäßig ausgefüllt. Für den Tag, beziehungsweise die Nacht, waren je sieben bis acht Gebetsstunden oder Horen festgesetzt. Da hatten die Brüder, die noch nicht Priester waren, insbesondere jedesmal fünfundzwanzig Vaterunser mit dem Ave Maria zu beten, während den Priestern reichere Gebetsformeln vorbehalten waren. Auch in gewisse theologische Studien aber, zu deren Leitung zwei gelehrte Väter des Klosters angestellt waren, wurde Luther wohl schon damals eingeführt. Das wichtigste endlich war für ihn, daß ihm jetzt eine Bibel, nämlich die allgemein von der Kirche gebrauchte lateinische Bibelübersetzung, in die Hand gegeben wurde. Gerade um diese Zeit war bei jenen Augustiner-Klöstern eine neue, durch den Ordensvicar Staupitz entworfene Fassung ihrer Statuten in Kraft getreten, welche begieriges Lesen, andächtiges Hören und eifriges Lernen der heiligen Schrift zur Pflicht machte. An Lehrern darin fehlte es Luthern, das Verständniß wurde ihm sehr schwer. Mit wahrem Hunger aber las er sich in seine Bibel hinein und ließ nicht mehr von ihr.

Nach Ablauf des Probejahrs erfolgte die feierliche Aufnahme in den Orden. »Bis in den Tod« gelobte Luther hier nach den Regeln des heiligen Vater Augustin zu leben und dem allmächtigen Gott, der Jungfrau Maria und dem Prior des Klosters Gehorsam zu leisten. Zuvor waren ihm jene Ordenskleider aufs Neue umgelegt worden, nachdem man sie mit Weihwasser und Weihrauch gesegnet hatte. Der Prior nahm sein Gelübde an und besprengte ihn, der sich jetzt auf der Erde in der Form eines Kreuzes niederwarf, mit Weihwasser. Am Schluß der Handlung beglückwünschten ihn die Ordensbrüder, daß er jetzt sei wie ein unschuldig Kind, das frisch aus der Taufe komme. Er erhielt jetzt eine eigene Zelle mit Tisch, Bettstätte, Stuhl. Sie lag gegen den von einem Kreuzgang umgebenen Klosterhof hinaus. Erst vor wenigen Jahren (am 7. März 1872) hat eine Feuersbrunst sie zerstört.


Abb. 4: Luthers Klosterzelle in Erfurt, wie sie späterhin erhalten worden ist.

Durch ein unlösbares Gelübde hatte Luther so dem Stande sich verbunden, in welchem er den Himmel zu gewinnen trachtete.

Reichlich wurden ihm denn auch die Mittel, von welchen er dieses erhoffte, in seinem Kloster dargeboten. Suchte er die Gunst der Maria und anderer Heiligen, die ihn vor Gottes und Christi Richterstuhl vertreten sollten, so fand er in seinem Orden eine glühende Verehrung, namentlich der heiligen Jungfrau und alle Anweisung zu ihrem Dienste. Die Lehre von der unbefleckten Empfängniß der Maria, die erst in unseren Tagen Pius IX. zum kirchlichen Dogma zu erheben gewagt hat, wurde von den Augustinern eifrig verfochten und stand für Luther auch noch nach dem Beginn seines reformatorischen Kampfes fest. Einer seiner beiden theologischen Lehrmeister im Kloster, Johannes von Paltz, schrieb Ueberschwengliches zu ihren Ehren, deren geistliche Kinder alle Christen seien. Unter ihren Mantel, sagt Luther, habe er damals kriechen müssen dem Herrn Christus gegenüber. Unter der Menge der andern Heiligen erlas sich Luther einundzwanzig, die seine ständigen Nothhelfer sein sollten. Wir bemerken besonders, daß dazu neben der heiligen Anna, dem heiligen Georg und anderen namentlich auch der Apostel Thomas gehörte: von diesem, der selbst einst so an Kleingläubigkeit und Kleinmuth gelitten, hoffte er wohl besonderes Mitgefühl. Wir erwähnten schon die vorgeschriebenen Gebete, die einen großen Theil des Tages ausfüllten. Er wurde angehalten, vor Allem jedes Wort pünktlich zu lernen und aufzusagen. Nachher äußerte er, in den Klöstern werden die Horä gelesen, wie Elstern, Dohlen oder Papageie reden.

Wollte er büßend der Sünden los werden, die ihn so lange gequält hatten und ihm täglich neu aufs Gewissen fielen, so stand im Kloster das kirchliche Mittel der Beichte jederzeit für ihn bereit. Mindestens einmal wöchentlich mußte jeder Ordensbruder Privatbeichte vor dem Beichtiger ablegen. Alle Sünden mußten darin pünktlich vorgelegt werden, wenn man Vergebung für sie erlangen wollte. Luther bemühte sich, alles, was er von Jugend auf gethan hatte, seinem Beichtvater vorzutragen, so daß es diesem selbst zu viel wurde. Durch eine vollständige innere Zerknirschung, die dem unendlichen Gewicht der Sünde entspräche, sollte der Beichtende sich der Vergebung würdig machen, die ihm dann der Priester in der Absolution zuerkannte; nach der herrschenden Lehrweise wurde indessen das, was einem an der vollkommenen Zerknirschung fehlte, durch das Sakrament der Absolution ausgefüllt. Die Strafen aber, die Gott über die Schuldigen verhängt habe, sollten mit dieser Absolution oder Vergebung nicht abgethan sein; sie mußten vielmehr durch eigene Leistungen, welche einem der Priester auflegte, durch Gebete, Almosen, Fasten und andere Kasteiungen, abgebüßt werden. Dem, welchem nicht vergeben war, drohte die Hölle; dem, welcher nicht abgebüßt hatte, wenigstens die Angst und Qual des Fegefeuers. Dies war und blieb die kirchliche Lehre des Katholizismus.

So war jetzt Luther dazu aufgefordert und angeleitet, recht methodisch die peinliche Selbstprüfung zu betreiben, die ihn schon vor dem Eintritt ins Mönchthum gedrückt hatte, und einmal alle die Heilmittel, welche hier ihm dargeboten wurden, auszunutzen. Aber je mehr er in seinem Leben und in seiner Gesinnung nachforschte, desto mehr Uebertretungen des vollkommenen Gotteswillen fand er darin vor und desto schwereres Gewicht nahmen sie für sein Gewissen an. Es waren nicht etwa, wie man bei dem kräftigen Jüngling meinen könnte, vorzugsweise Regungen sinnlicher Lust, die durch den Zwang des Klosters noch mehr gestachelt wurde. Vielmehr besonders Regungen des Zornes, Hasses, Neides gegen seine Brüder und Nächsten hatte er sich vorzuwerfen, sowie auch feindlich Gesinnte wohl schon damals vornehmlich der Selbstüberhebung ihn beschuldigten und wie sein Naturell auch später noch besonders leicht im Zorn ihn aufbrausen ließ. Derartige Regungen und Worte und Handlungen, die daraus hervorgingen, wurden für sein Gewissen zu Todsünden, wenn sie auch dem die Beichte hörenden Priester zu gering schienen, als daß sie hätten aufgezählt werden müssen. Dazu kamen eine Menge kleinlicher Vergehungen gegen Satzungen der Kirche und des Klosters mit Bezug auf äußere Ordnungen und Formen des Gottesdienstes, der Gebete u.s.w., woraus die Kirche, so geringfügig sie uns erscheinen müssen, ihrerseits doch schwere Sünden zu machen pflegte. Es entstand endlich in seinem Gemüth eine stete Unruhe, in der er nach Sünden suchte, auch wo überhaupt keine zu finden waren. Was er schon früher beim Händewaschen äußerte, daß man bei allem Waschen nur immer unreiner werde, mußte er jetzt erst recht bei sich erfahren. Indem er darüber zerknirscht sein sollte, fühlte er wohl Pein und Furcht im Uebermaß, aber doch nie in der Weise, daß er sich sagen konnte, das Böse werde hiedurch vor Gott gut gemacht. Die Absolution wurde wieder und wieder über ihn ausgesprochen, aber wer gab ihm Sicherheit dafür, daß er die Vorbedingungen für sie ganz erfüllt habe und demnach wirklich ihrer sich getrösten dürfte? Die Büßungen nahm er bereitwillig auf sich und leistete mit Beten, Fasten, Nachtwachen von sich aus noch viel mehr als die Regel des Klosters forderte oder sein Beichtvater ihm auferlegte. Sein Leib war von der harten Kindheit her darauf vorbereitet, dergleichen auszuhalten, hatte dann aber doch an den Folgen davon auf die Dauer zu leiden. Luther konnte sich später das Zeugniß geben, daß er ihn damals mit dergleichen Uebungen vielmehr zermartert und zerplagt habe, als alle seine Feinde und Verfolger den ihrigen.

Mit großem Fleiß legte er sich jetzt, so weit ihm die anderen klösterlichen Pflichten Zeit ließen, auf das Studium der Theologie. Vornehmlich arbeitete er die Schriften der späteren scholastischen Theologen durch, mit denen er theilweise schon während seines philosophischen Cursus' sich zu beschäftigen hatte. Von einzelnen unter ihnen, wie namentlich von dem Engländer Occam, dessen Scharfsinn er besonders schätzte, lagen auch Schriften vor, die ihn mit Bezug auf Fragen des äußeren Kirchenthums schon auf eigenthümliche Bahnen hätten leiten können, wenn er jetzt nach dieser Seite hin Empfänglichkeit gehabt hätte. Sie waren nämlich gegen die absolute Gewalt des Papstes in der Kirche und gegen seine Uebergriffe in das Gebiet des Kaisers und Staates aufgetreten. Aber dem Mönchsorden, welchem Luther sich ergeben, und den Theologen, die er hier zu Lehrmeistern bekommen hatte, lag eine solche Richtung ferne. Jener Paltz hat sich vor Andern durch Verherrlichung der vom Papst gespendeten Ablässe hervorgethan. Der ganze Orden und besonders jene deutschen Klöster desselben waren dem Papst auch durch verschiedene Vergünstigungen verbunden. Luther selbst hielt mit aller der Aengstlichkeit, mit welcher er die kirchlichen Mittel fürs Heil seiner Seele gebrauchen wollte, auch an allen Ordnungen der Hierarchie fest.

Was auch beim gelehrten theologischen Studium sein wärmstes persönliches Interesse auf sich zog, blieb immer die schwere Frage, wie der Sünder zum ewigen Heil gelangen könnte. Und was er darüber in den Schriften jener Theologen zu lesen und von den gelehrten Meistern des Klosters zu hören bekam, war nur geeignet, das vergebliche innere Ringen und die Noth und Angst bei ihm zu vermehren. Der große Kirchenvater, nach welchem sein Orden sich nannte und auf den die Ordensregeln zurückgeführt wurden, hatte einst auf Grund der Erfahrungen, die er selbst im Kampf mit Sünde und Fleisch gemacht, mit großem Nachdruck und in siegreichem Streit mit Gegnern die Lehre ausgeführt, daß es, wie der Apostel sage, nicht an des Menschen Laufen, sondern an Gottes Erbarmen, nicht am menschlichen Wollen, sondern an dem Gnadenwillen Gottes liege, der allein den Sünder umwandle und ihm fürs Gute das Können und Wollen verleihe. Aber an Verständniß und Kenntniß dieser Theologie Augustins fehlte es seinem Orden so gut wie jenen Scholastikern. Wohl wurde gelehrt, daß der Himmel für uns Menschen zu hoch sei, um anders als durch Gottes Gnade gewonnen werden zu können; aber zugleich auch, daß der Sünder schon mit seinen natürlichen Kräften so viel vor Gott leisten könne und solle, um hiedurch sich die Gnade zu verdienen, die ihm dann zum Himmel weiter helfen werde. Wer sie so erlangt hatte, sollte befähigt sein und sich angetrieben fühlen, sogar noch mehr zu leisten, als Gottes Gebote fordern. Auch der Hinweis auf das bittere Leiden und Sterben des Heilandes Christus wurde von den Theologen, an welche Luther sich zu halten hatte, nicht versäumt und oft (wie z. B. von seinem Lehrer Paltz) in überschwenglich gefühlvollen Worten den Christen ans Herz gelegt. Aber der Nachdruck fiel dann nicht auf die erlösende Liebe, der sie hier getrost vertrauen durften, sondern darauf, daß sie nun auch ihrerseits dem für sie Geopferten sich opfern und in seiner Nachfolge und zur Tilgung der eigenen Schuld Todespein auf sich nehmen müssen. Immer wieder und immer mehr sah so Luther Ansprüche Gottes vor sich, denen er doch nie zu genügen vermochte. Die ärgste Anfechtung hat ihm vollends der Gedanke bereitet, daß Gott selbst nun einmal den Willen habe, ihn unter diesem vergeblichen Abmühen zu Grunde gehen und schließlich der Hölle anheimfallen zu lassen. Und gerade bei jenen späteren Scholastikern fand er nun zwar nicht eine Theorie, nach der Gott einen Theil der Menschen im Voraus schlechthin für die Verdammniß bestimmt hätte, wohl aber eine solche allgemeine Auffassung Gottes, welche statt heiliger Liebe vielmehr ein willkürliches, unumschränktes Wollen zu seinem Wesen machte.

Ein paar Jahre lang hat Luther unter solchem Streben und Leiden im Kloster verbracht. Sein geistliches Leben, wie man es nannte, in strenger Zucht und Weltentsagung ist damals auch in andern Klöstern rühmend zum Vorbild vorgehalten worden. Mitunter fühlte auch er selbst sich innerlich hoch emporgehoben, ja wie unter die Chöre der Engel versetzt – »ein hoffährtiger Heiliger«, wie er später sich nannte. Aber die entgegengesetzte Grundstimmung herrschte bei ihm. Er hat später oft seinen Zustand geschildert, um Andere vor gleichen Wegen zu warnen. So spricht er von Schülern des Gesetzes, die es mit ihren Werken versuchen wollen, immer arbeiten, härene Hemden tragen, sich kasteien, fasten und peitschen, Alles, um endlich dem Gesetz Gottes zu genügen. Ein solcher sei er auch gewesen. Aber er habe auch erfahren, wie es gehe, wenn man angefochten werde und der Tod oder andere Gefahr einen schrecke; wie man da verzweifle, ja vor Gott gleichwie wie vor dem leidigen Teufel fliehen möchte und lieber hätte, daß gar kein Gott wäre. Es kam bei ihm zu inneren Zuständen und Anfällen, in welchen er mit Seele und Leib unterliegen zu müssen meinte. So erzählt er später einmal, indem er von den Qualen des Fegefeuers redet, von einem Menschen, unter dem er ohne Zweifel sich selbst versteht: solche Pein habe derselbe öfters lebend ausgestanden, nur in kurzen Zeitmomenten, aber so heftig und höllisch, daß keine Zunge es aussagen und keine Feder es beschreiben könne; hätten sie bis zu Ende angehalten, oder auch nur eine halbe Stunde, ja nur den zehnten Theil einer Stunde gewährt, so hätte er ganz zu Grunde gehen und seine Gebeine zu Asche werden müssen. Er selbst sah nachher darin Heimsuchungen besonderer Art, die Gott nicht über Jeden kommen lasse. Das aber stand ihm dann als gewisses und allgemein giltiges Ergebniß fest, daß jene Gesetzesschule, wie er es nennt, in Wahrheit Jedem so wenig wie ihm die Seligkeit bringen könne; daß man vielmehr gerade durch sie lernen müsse an sich selbst und allen eigenen Ansprüchen zu verzagen. Und zwar war, wie wir ja nach allem Bisherigen wissen, nicht etwa blos und nicht zunächst die schlechte Aeußerlichkeit der kirchlichen und klösterlichen Satzungen und seiner eigenen Erfüllung derselben die Ursache davon, daß er nie zum Frieden des Gewissens kam; sondern was ihn am tiefsten ängstigte und am meisten verfolgte, waren gerade die inneren Regungen, mit denen er sich in einem Widerstreit gegen Gottes ewige Forderungen wußte, während er selbst mit seiner eigenen Erfüllung derselben sich Gott meinte versöhnen zu müssen.

So haben die Erfahrungen, die er dort machte, ihn zu der Grunderkenntniß hingeführt, von der nachher seine reformatorische Predigt ausgehen sollte. Er ist damals, als er im Kloster so sich hervorthat, wegen seiner wunderbaren und energischen Bekehrung mit einem Apostel Paulus verglichen worden. In ganz anderem Sinne sollte er diesem dann in Wahrheit vergleichbar werden. So hatte einst Paulus in seinem Pharisäerstande vor Anderen sich abgemüht, nach dem Gesetz und den Satzungen der Väter vor Gott gerecht zu werden. So hat er dort sich als der »elende Mensch« fühlen müssen (Röm. 7, 24) und hat hernach auf die gründlichen Erfahrungen hin, die er dort gemacht, das alles für Unrath und Schaden geachtet, um vielmehr allein durch Gottes Gnade und den Heiland Christus im Glauben gerecht, frei und selig zu werden.

Wie indessen innerhalb der katholischen Kirche jene auf den Weg des Heils bezüglichen kirchlichen Satzungen, Dogmen und Schultheorien doch nie ganz den Gedanken an die einfachen biblischen Zeugnisse und kirchlichen Bekenntnisse von einer vergebenden Gottesliebe und erlösenden und versöhnenden Gnade haben verdrängen und schlicht fromme Christen nicht haben enthalten können, im tiefsten Herzensgrund einfach bei ihr Zuflucht zu suchen, so hat gerade das Erfurter Kloster, wo Luthers innere Entwickelung nach jener Seite hin einen solchen Höhepunkt erreichte, auch die ersten für ihn bedeutungsvollen Winke und Weisungen nach dieser andern Seite hin ihm nahe gebracht. Sie fanden bei ihm schwer und nur allmählich Eingang neben jenem Standpunkt, den er so energisch und consequent eingenommen hatte. Um so mehr sollte derselbe dann, als ihm von ihnen aus weiteres Licht aufging, auch mit vollster Consequenz von ihm überwunden werden.

Schon jener klösterliche Erzieher Luthers, unter welchem wir den Novizenmeister zu verstehen haben werden, machte tiefen Eindruck auf ihn, indem er ihn an die Worte des apostolischen Glaubensbekenntnisses von der Vergebung der Sünden erinnerte und ihm, der dies nicht auf sich zu beziehen wagte, vorhielt, daß der Herr selbst geboten habe zu hoffen. Eben derselbe verwies ihn hierfür auf eine Stelle in den Predigten des heiligen Bernhard, wo dieser innige Prediger, während er mit seiner gelehrten Theologie ganz in den kirchlichen Auffassungen des Mittelalters sich bewegte, eben auf jenen Glauben an die Vergebung dringt und auf den Ausspruch des Apostel Paulus sich beruft, daß der Mensch aus Gnaden gerecht werde durch den Glauben. Solche einzelne Worte schlugen bei Luther ein und blieben in ihm haften, wenn ihre Frucht auch erst nach und nach in ihm reifte. Auch seinen Lehrer Arnoldi rühmte er dankbar wegen der Tröstungen, die er zu geben wußte.

Luther
Abb. 5: Staupitz nach dem Bild im St. Peter-Kloster zu Salzburg.

Weitaus den größten, heilsamsten und anhaltendsten Einstuß endlich hat dort im Kloster der Generalvicar jener deutschen Klöster, Johann von Staupitz, auf ihn gewonnen. Das war ein gewichtiger Mann, von edlem frommen Gemüth und feinem, weitblickendem Geiste. Er hatte sich in den Formen jener Schultheologien gebildet; aber er vertiefte sich in die heilige Schrift, bezog sie vor allem auf sein inneres Leben und wußte hiezu auch Andere anzuweisen. Er strebte nach einem innerlichen und praktischen Leben in Gott, das auch in seinem Ausdruck durch jene Formen sich nicht mehr einschnüren ließ. Scharfen Conflicten und Kämpfen war er abgeneigt; aber milde und besonnen suchte er in seinem Wirkungskreise zu pflanzen und das Gepflanzte in Gottes Namen weiter wachsen zu lassen.

Bei seinen Besuchen in Erfurt fiel ihm der junge begabte, gelehrte und strebsame, tiefsinnige und schwermüthige Mönch auf. Er nahm sich seiner väterlich in vertrauten Gesprächen und Briefen an, und wie einem Vater schloß ihm Luther das Herz mit seinen Sorgen auf. Wollte ihm dieser alle seine vielen kleinen Sünden beichten, so wollte er vor allem unterschieden haben, was wirklich Sünde sei und was nicht; von selbst erdachten Sünden, oder von solchem Humpelwerk, wie Luther ihm vortrage, wollte er nichts hören: das sei nicht derjenige Ernst, den Gott wolle. Luther quälte sich mit einer Buße, die wesentlich in Pein, Strafleiden, Abbüßen bestehen sollte. Staupitz belehrte ihn, daß Buße nach dem Sinn der heiligen Schrift eine innere Umkehr und Umwandlung sei, welche von der Liebe zur Gerechtigkeit und zu Gott ausgehen müsse; und nicht in den eigenen guten Vorsätzen zu einem besseren Leben, zu denen doch die Kraft noch fehle oder in eigenen Leistungen, die dem Gesetz Gottes doch nicht genug thun, ließ er ihn den Frieden mit Gott suchen, sondern auf Gottes Gnade solle er harren und vertrauen und in Christus, den Gott für unsere Sünden habe leiden lassen, nicht den drohenden Richter, sondern vielmehr den Heiland sehen. Auf diesen wies er ihn namentlich hin, wenn Luther über jenen geheimen ewigen Willen Gottes grübelte und daran verzweifeln wollte: in Christi Wunden leuchte Gottes ewiger Rathschluß uns entgegen. Wollten die Anfechtungen bei ihm doch nicht aufhören, so lehrte er auch in ihnen erziehende Mittel der göttlichen Liebe erkennen. Er dachte hiebei an Versuchungen zum Stolz, denen gegenüber sie ihm heilsam sein möchten, und zugleich an große Aufgaben, zu denen Gott ihn wohl vorbereiten wolle. In einfacher, praktischer Weise und aus den Erfahrungen seines eigenen Lebens heraus pflegte er so zu ihm und mit ihm zu sprechen. In seinem fortgesetzten, vertrauten Verkehr mit ihm hat dann während der späteren Jahre sichtlich auch seine eigene Theologie sich weiter gebildet und sein früherer hilfsbedürftiger Schüler ist selbst ein Führer für ihn geworden. Dieser aber hat auch dann noch und Zeitlebens mit dankbarer Liebe ihn seinen geistigen Vater genannt und Gott gedankt, daß er ihm aus seinen Anfechtungen durch Dr. Staupitz herausgeholfen habe, ohne den er darin ersoffen und in der Hölle wäre.

Den sicheren Grund jedoch für seine Ueberzeugungen und sein inneres Leben und die Grundlage für all sein späteres Lehren und Wirken hat Luther erst im eigenen fortgesetzten Studium der heiligen Schrift gefunden. Eben auch hiezu regte Staupitz an, mußte aber dann selbst über Luthers unermüdlichen Fleiß und Eifer darin staunen. Für die Auslegung der Schrift standen ihm nur sehr geringe Hilfsmittel zu Gebote. Er selbst ging überall auf den Mittelpunkt der christlichen Heilswahrheit und auf die höchsten Fragen des sittlich-religiösen Lebens aus. Ein einziger gewichtiger Ausspruch konnte seinen Geist tagelang beschäftigen. Bedeutsame Worte, die er noch nicht zu fassen vermochte, hafteten tief in ihm und er trug sie still in sich herum. So, sagte er, habe zum Beispiel damals das Gotteswort bei Ezechiel »ich will nicht den Tod des Sünders &c.« ihn ergriffen.

Erst das letzte, dritte Jahr seines Erfurter Klosterlebens brachte, so weit wir sehen, die entscheidende Wendung für sein inneres Kämpfen und Arbeiten mit sich.

Noch im zweiten Jahre, am 2. Mai 1507, empfing er nach dem Beschluß seiner Vorgesetzten feierlich die Priesterweihe. Indem er es so weit gebracht hatte, sollte sein Vater zum erstenmal, seit er gegen seinen Willen ins Kloster gegangen war, ihn wiedersehen. Es wurde eigens ein für denselben bequemer Tag angesetzt, damit er an der hohen Feier persönlich theilnehmen könne. Mit einem stattlichen Geleite von Freunden und Verwandten kam er nach Erfurt geritten. Aber in seinen Gedanken über jenen Schritt seines Sohnes war er sich gleich und fest geblieben. Beim Festmahl, das im Kloster für den jungen Priester gehalten wurde, suchte dieser ihm noch eine freundliche Aeußerung darüber abzugewinnen, indem er fragte, warum er doch damals so sehr gezürnt habe, während es doch im Kloster ein feines gottseliges Wesen sei. Da hub der Vater vor allen den Herren an: »Ihr Gelehrten, habt ihr nicht gelesen in der heiligen Schrift, daß man Vater und Mutter ehren soll?« Und als er erinnert wurde, wie sein Sohn damals vom Himmel her gerufen und getrieben worden sei, erwiderte er: »Wollte nur Gott, daß es kein Teufelsgespenste wäre.« Er gab zu verstehen: »Ich muß allhier sein, essen und trinken, wollte aber lieber davon sein.«

Für Luther aber brachte die hohe Würde, zu der er mit diesem Tag sich erhoben sah, noch neue Furcht und Bangen mit sich. Vor Gott sollte er jetzt als Priester treten, Christi Leib, ja Christum selbst und Gott durch seine Weiheworte in der Messe auf dem Altar gegenwärtig werden lassen, den Leib Christi als Opfer dem lebendigen ewigen Gotte darbringen. Dabei waren wieder eine Menge Formen zu beobachten, bei denen schon ein Versehen Sünde war. Als er damals seine erste Messe hielt, überwältigte ihn dies alles so, daß er kaum am Altar zu bleiben vermochte; er wäre, sagt er später, schier davon gestorben.

Den sorgsamen Dienst, den er seinen Heiligen widmete, verband er jetzt auch mit seinen priesterlichen Verrichtungen. Indem er jeden Morgen Messe las, rief er hiebei von seinen einundzwanzig besonderen Heiligen jedes Mal drei an, so daß er in der Woche an allen herumkam.

Für jene wichtigsten Lebensfragen drang er jetzt in seinem Schriftstudium allmählich zu dem für ihn entscheidenden Lichte durch. Schon jener apostolische Ausspruch, welchen er beim heiligen Bernhard hervorgehoben fand, wies ihn darauf hin. Indem er auf diese seine innere Entwickelung am Schluß seines Lebens zurückblickt, berichtet er: ihm habe damals vorzugsweise zu schaffen gemacht das Wort des Paulus von der Gottesgerechtigkeit, die im Evangelium offenbar werde, Römerbr. 1, 17. Lange habe er es nicht ertragen können, weil er dabei mit der ganzen herrschenden Theologie an die Eigenschaft der Gerechtigkeit Gottes gedacht habe, vermöge deren Gott die Sünder oder Ungerechten strafe. Tag und Nacht habe ihn der Sinn und Zusammenhang der apostolischen Rede beschäftigt. Endlich habe der barmherzige Gott ihn erkennen lassen, daß Paulus und das Evangelium vielmehr eine Gerechtigkeit verkündigen, welche uns durch Gottes Gnade geschenkt werde, indem Gott denen, die an sein Gnadenwort glauben, die Sünden vergebe, sie gerecht mache und ihnen das ewige Leben gebe. Damit habe sich ihm die Pforte des Paradieses erschlossen und von hier aus sei ihm auch der ganze übrige Inhalt des göttlichen Heilswortes klar geworden. Doch eben nur allmählich, in der letzten Zeit seines Erfurter Aufenthalts und noch in den nächstfolgenden Jahren ist er so weit gelangt.

Vom Empfang der Priesterweihe an erhielten die Mönche den Ehrennamen der Väter, Patres. Die Pflicht, mit einem Bruder auf Almosen auszugehen, war Luthern auch jetzt noch nicht abgenommen. Aber auch in wichtigen Ordensgeschäften wurde er schon jetzt verwendet: so bei Verhandlungen mit einem hohen erzbischöflichen Beamten, wo er großen Eifer für das geistliche Leben und für seinen Orden zeigte.

Die Gelehrsamkeit der Schultheologen seiner Zeit hatte er, während er jetzt schon die eigenen Wege einschlug, mit seinem scharfen Verstand und glücklichen Gedächtniß sich reichlich angeeignet. Noch war er so kaum 25 Jahre alt geworden, als Staupitz, mit der Fürsorge für die neugestiftete Universität Wittenberg beauftragt, in ihm den rechten Mann für einen Lehrstuhl dort erkannte.

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