Die grosse Gefahr für diese liegt darin, dass die Frauen noch immer nicht genug mit der Sinnlichkeit rechnen, die Männer noch immer nicht genug mit der Seele. Und besonders ist es die Frau, die jetzt ihre eigene erotische Natur – mit ihrer warmen Durchdrungenheit und versuchungsfreien Einheitlichkeit – zum ethischen und erotischen Massstab für die des Mannes – mit ihrer heissen Plötzlichkeit und gefahrvollen Halbheit – machen will.

Es ist ohne Zweifel eine weibliche Übertreibung, dass eine »reine« Frau die Macht der Forderungen ihres Geschlechtes nur dann fühlt, wenn sie liebt. Aber der ungeheure Unterschied zwischen ihr und dem Manne liegt darin, dass sie diesen Forderungen nicht willfahren kann, ohne zu lieben. Es ist allerdings wahr, dass eine Frau neben ihrer Liebe eine Lebensaufgabe haben kann. Aber der tiefgehende Unterschied zwischen ihr und dem Manne besteht vorderhand darin, dass er häufiger als Schaffender denn als Liebender sein Bestes gibt, während es bei ihr fast immer umgekehrt ist. Und während der Mann so von sich selbst und von anderen nach seinen Werken gewertet wird, wertet die Frau sich im innersten nach ihrer Liebe – und will danach gewertet sein. Erst wenn diese voll geschätzt und beglückend ist, fühlt sie sich selbst als einen grossen Wert. Es ist freilich wahr, dass das Weib vom Manne auch sinnlich beglückt werden will. Aber während diese Sehnsucht nicht selten bei ihr erst erwacht, lange nachdem sie einen Mann schon so liebt, dass sie ihr Leben für ihn opfern wollte, erwacht beim Manne oft das Verlangen, eine Frau zu besitzen, bevor er sie auch nur so liebt, dass er seinen kleinen Finger für sie hingeben würde. Dass die Liebe bei der Frau meistens von der Seele zu den Sinnen geht und manchmal gar nicht so weit kommt; dass sie beim Manne meistens von den Sinnen zur Seele geht und manchmal gar nicht ans Ziel gelangt – das ist von den jetzigen Verschiedenheiten zwischen Mann und Frau die für beide qualvollste. Es ist ganz sicher, dass der Mann sowohl wie das Weib durch ihre grosse Liebe demütig werden; und die Erfahrung, Gegenliebe gefunden zu haben, macht selbst den Freidenker zum Wundergläubigen. Aber der Mann verbirgt oft seine Demut unter einer Sicherheit, die die Frau beleidigt; sie hingegen die ihre unter einer Unsicherheit, die den Mann verletzt. Und aus dieser Verschiedenheit der Instinkte entsteht eine neue Art von Verwicklungen, seit auch der Mann angefangen hat, von der Frau ein wortloses Verstehen zu wünschen; seit er nur dann von ihrer Liebe überzeugt ist, wenn sie die seine erraten und gerade seine Verschwiegenheit geliebt hat. Aber dem bewussten und verfeinerten Willen des modernen Mannes stehen seine ererbten Erobererinstinkte entgegen. Und keine Frau kann aller früheren wie aller neueren Leiden der Liebe gewisser sein, als die, welche – wie Helene in Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« – wirklich nach den Worten des geliebten Mannes handelt: dass er nur die Liebe eines Weibes besitzen möchte, das selbst den Mut hätte, ihm dieselbe zu erklären. Denn im Weibe lebt andrerseits das uralte Verlangen, erobert zu werden, fort. Und darum geraten auch ihre stärksten Gefühle in Konflikt mit ihrem neuen Mut zur Handlung.

Aus all diesen Gründen ist es für einen modernen Menschen schwer, sich geliebt zu glauben oder sich geliebt zu wissen.

Und dies wird der Liebe ihre Spannung bewahren, auch nachdem die tierischen Gewohnheiten – Verfolgung auf der einen, Entfliehen auf der anderen Seite – allmählich aufgehört haben werden. Der Kampf und der Siegesrausch wird immer ein Teil der Lebensreize und Lustgefühle der Liebe bilden. Aber sie werden auf eine höhere Stufe versetzt. Das Anstürmen des Mannes, um eine Frau zu gewinnen, die ihn sonst gar nicht bemerkt haben würde; das Ausweichen der Frau, um den Mann anzureizen oder um doch in gewissem Masse die Selbstbestimmung ihres Gefühls zu wahren, wird von dem Willen beider umgewandelt werden, zu warten, bis auch der andere gewählt hat. Die erotische Spannung wird dann von dem Streben nach den verfeinertsten Ausdrücken der Sympathie ausgelöst werden, nach den überzeugendsten Äusserungen des Verständnisses, nach vibrierendster Sensibilität für den Seelenzustand des anderen, nach dem vollsten Vertrauen. Der Sieg wird ein immer tieferes Eindringen in die Eigenart des anderen bedeuten, eine immer reichere Fülle und Freudigkeit in der Mitteilung der eigenen; einen unablässig wachsenden Glauben an das Rätselvolle, sowie Dankbarkeit für das Offenbarte. Der Reiz wird sich täglich angesichts von Stimmungen mit Übergängen erneuen, die so unmerklich sind, wie die des Abendhimmels vom rotesten Gold zur reinsten Weisse; angesichts von Grenzlinien zwischen Sympathie und Antipathie, die in der einen Stunde fein wie ein Faden, in der anderen so breit wie ein Strom sein können. Er wird sich erneuen durch unzählige prüfende, vereinende und abweisende Seelenbewegungen, rasch und unwiderruflich entscheidend wie der Fall eines Sternes im Raume.

Und diese Spannung des Zusammenlebens wird nicht wie jetzt durch den männlich feisten Stolz oder die weiblich satte Mattigkeit des Besitzrechts erschlafft werden. Weil alles Glücksgefühl mit der Kraftanspannung, ein Ziel zu erreichen, und mit dem Gleichgewicht nach der Erreichung zusammenhängt, ist es bisher das Unheil der Liebe gewesen, dass die Werbung die ganze Spannung, die Ehe das erreichte Gleichgewicht dargestellt hat. Nur die Gewissheit – durch das Leben oder den Tod – das geliebte Wesen zu verlieren, hat in der Regel eine neue Seelenspannung hervorgerufen. Dies hat, aus den früher erwähnten Ursachen, besonders vom Mann gegolten. Die Frauen haben oft lange unter den prallen, sicheren, behaglichen ehelichen Gewohnheiten gelitten, bevor sie auf jene Ruhe der Fülle, jenes bewegte Gleichgewicht verzichtet haben, das ihr Glückstraum war.

Aber nun wollen die Frauen nicht mehr resignieren. Im Leben wie in der Literatur erheben sie sich gegen die Ehe, »die man ertragen lernt«. Tausende fragen sich mit Ellen von der Weiden, ob die Liebe ihres Mannes das höchste Glück mitteilt, das ihr Wesen empfinden kann? Und wenn sie gezwungen sind, nein zu antworten, dann sehen sie sich um das Leben betrogen. Aber weniger und weniger wollen sich die Frauen um das Leben betrügen lassen. Mehr und mehr wird ihre Forderung einer neuen Liebe eins mit der Forderung einer neuen Ehe, deren höchster Wert nicht wie jetzt in »Sicherheit und Ruhe« bestehen wird.

Anmerkung: Man sehe »Ellen von der Weiden« von Gabriele Reuter. Aber nicht nur in der Frauenliteratur wird die neue Liebe verkündigt. Schon jetzt gibt es Männer, die ganz begreifen, was die Frau will. Unter den Älteren hat G. Meredith – sowie Ibsen, Björnson und Jonas Lie – es teilweise verstanden. Aber Maeterlinck spricht vor allen anderen Zeitgenossen von jener wunderbaren Liebe, »die zwischen den Menschen gewöhnlich sein sollte, aber so selten ist, dass sie sie blendet und ihnen wahnsinnig vorkommt; eine naive und doch klarsehende Liebe, die mutig ist und zugleich weich wie eine Blume; die alles nimmt und doch mehr gibt, die sich niemals bedenkt und niemals fehlgreift, die durch nichts erschreckt, durch nichts verwundert wird; die ein mystisches, anderen unsichtbares Glück sieht und erfasst; die es überall in allen Prüfungen und Möglichkeiten vor Augen hat und sich lächelnd bis zum Verbrechen vorwagt, um es zu erlangen ...« Ein anderer ist Peter Altenberg, der in tausend Tonarten wiederholt: wehe dem Weibe, das sich mit dem zufrieden gibt, was der moderne Mann ihr bietet, denn sie zerstört den tiefsten Plan der Natur: dass sie den Mann von seiner rückständigen Roheit in Gefühl und Sitte befreien soll, ihn befreien durch ihre unnachgiebige Forderung an Verfeinerung und Veredlung der Liebe. Und noch andere jüngere Dichter könnten erwähnt werden.

Die Franzosen haben sowohl in bezug auf die Zeit wie auf die Art, die Frage auf dem Gebiete des Essays zu behandeln, den Vorrang, in erster Linie durch Stendhals »De l'amour« – den vollsten Ausdruck der schon den Liebeshöfen bewussten französischen Romantik, für die die Liebe der höchste Wert des Lebens ist, aber ein Lebensinhalt, der mit der Ehe nichts gemein haben kann. Andere Arbeiten sind Stahl: De l'amour; Michelet: L'amour; Bourget: Psychologie de l'amour. In Deutschland haben die letzten Jahre u. a. folgende Essaysammlungen von männlichen Schriftstellern gebracht: K. Hessen: »Das Glück in der Liebe«; M. Schwann: »Liebe«; Dr. L. Gumplowicz: »Ehe und freie Liebe«; Leo Berg: »Das sexuelle Problem«; »Brautstandsmoral« von R. R. Michels und verschiedene mir unbekannte Arbeiten wie: »Gebt uns die Wahrheit« von Else Jerusalem-Kotanyi; A. Rauber: »Fragen der Liebe« und die »Donjuansage«; »Ist freie Liebe Sittenlosigkeit?« »Sollen wir heiraten?« von Dr. N. Grabowsky; »Moderner Eheschacher« von F. Sturmer; »Der Kampf der Geschlechter« von E. v. Nummersdorf; »Die Liebe des Übermenschen« von Marie Halm usw. Ferner eine Menge Schriften über die Aufklärung der Jugend über die geschlechtlichen Dinge. In England gab schon Tennyson dem »new woman« ihren Namen und kündete ihre Wünsche, und viele andere haben dort seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts mittelbar den Begriff der Erotik vertieft, unter den Schriftstellerinnen besonders die Schwestern Brontë und Miss Mulloch. In letzter Zeit hat George Egerton in »Rosa Amorosa« und Edward Carpenter in »Wenn die Menschen reif zur Liebe werden« jeder in seiner Weise die Evolution der Liebe ausgezeichnet behandelt; letzterer hat auch andere mir unbekannte Arbeiten über die Frau, die Liebe und die Ehe geschrieben und verweist auf mehrere solche wie »Woman free« von Ellis Ethelmore, »A noviciate for Marriage« von Edith M. Ellis. In Italien haben unter anderen Mantegazza über die Liebe und Vaccaro über die Evolution der Liebe geschrieben, aber beide sind mir unbekannt.

Hier sind nur jene Arbeiten genannt, die ausserhalb des wissenschaftlichen Gebiets stehen und darum für das Eindringen der Frage in das allgemeine Bewusstsein bezeichnend sind. In dieser Beziehung auch nur eine flüchtige Übersicht über die Belletristik zu geben, wäre undenkbar. Wer einen kurzen Überblick haben will, dem sei eine kleine Broschüre von Dr. Paul Bergamann empfohlen: »Die werdende Frau in der neuen Dichtung«. Ebenso Dr. Ella Mensch: »Die Frau in der modernen Literatur«. Aber seit diese Arbeiten geschrieben wurden (Ende der neunziger Jahre), ist der Stoff wieder sehr gewachsen. Ein neuerer Beitrag ist ein Artikel »Das Liebesproblem in der modernen Literatur« von Irma von Troll-Borostyani. In Norwegen hat mehrere Jahre hindurch besonders Alvilde Prydz die Sache des »neuen Weibes« geführt, sowie Magdalene Thoresen stets die der grossen Liebe. In Deutschland ist Elisabeth Dauthendeys Buch »Vom neuen Weibe und seiner Liebe« aus ganz demselben Gedankengang herausgeschrieben, wie die Bücher von Alvilde Prydz.

In diesem Zusammenhange muss darauf hingewiesen werden, dass sowohl die Rechtswissenschaft wie die Nationalökonomie sich im neunzehnten Jahrhundert fleissig mit der Frage der Ehe befasst haben. Von sozialistischer Seite hat Engels ihren Zusammenhang mit dem Privateigentum im »Ursprung der Familie« dargelegt, einem Werke, das für die Auffassung seiner Gesinnungsgenossen grundlegend wurde, und es würde zu weit führen, an die Beiträge sozialistischer Utopisten zu dieser Frage zu erinnern; der seelenvollste ist William Morris: »News from nowhere«. Aber vor allem hat die Anthropologie und die Ethnographie im vergangenen Jahrhundert eine ganze Literatur über einschlägige Fragen geschaffen. So hat sich allmählich die Anschauung gebildet: dass auch in bezug auf die geschlechtliche Sittlichkeit die Normen menschlich und relativ sind, nicht göttlich und absolut. Aber auf die Evolution der Liebe selbst, in dem Sinne, in dem das Wort hier gebraucht wurde, hat diese Forschung keinen wesentlichen Einfluss ausgeübt. Nicht mit Dokumenten der historischen Entwicklung der Liebe und Ehe, sondern mit der jetzigen Bewegung für die Freiheit um Persönlichkeitsentwicklung der Frau steht die letzte Epoche der Evolution der Liebe im Zusammenhang. Das hindert jedoch nicht, dass einige Schriftsteller versucht haben, ihre Zukunftsbilder von der Freiheit der Liebe dadurch zu stützen, dass sie beispielsweise den Wert des Matriarchats hervorgehoben haben, die Form, die Bachofen und Mac Lennan als die ursprüngliche der Familie ansehen und mit ihnen eine Menge anderer Forscher, Morgan, Kovalevsky, Lubbock u. A. Andere hingegen – z. B. der Däne Professor Starke und der Finnländer Professor Westermarck – haben sich auf den entgegengesetzten Standpunkt gestellt und haben andere Geschlechtssitten mit patriarchalischen Verhältnissen als Ausgangspunkt der Familie bezeichnet. Der Kampf zwischen dieser »Familientheorie« und den eben erwähnten Forschern, die »Stammehen« annehmen, ist noch nicht zu einem endgültigen Abschluss geführt. Aber die neuen Begriffe über die geschlechtliche Sittlichkeit gehen ihren Weg unabhängig vom Ausgang dieses Kampfes.

Die Frau weiss – und der Mann noch mehr – dass in den Stunden der Windstille, wo aller Lebensanreiz fehlt, die Versuchung auftaucht, ihn in neuen Verhältnissen zu suchen. Doch sie fangen auch an, einzusehen, dass, wenn ein und dasselbe Gefühl eine unablässige Spannung zu bieten vermag, – durch den Willen, einen immer höheren Zustand dieses Gefühls zu erreichen – eine solche Versuchung mit Notwendigkeit immer ungefährlicher wird, ganz einfach, weil die Menschenseele nur mit grosser Schwierigkeit die geistigen Reichtümer, die sie auf eine Stelle konzentriert hat, umpflanzen kann. Die Liebe ist in ihrer unpersönlichen Form ein bewegliches und leicht vergeudetes Kapital. In ihrer persönlichen hingegen ist sie fester Besitz, der immer wertvoller wird, je mehr man hineinlegt und der sich seiner eigensten Natur nach nur schwer vergeuden lässt.

So oft eine Frau einen Mann durch lebenslängliche Bezauberung gefesselt hat, lag das Geheimnis darin, dass er niemals mit ihr fertig wurde; dass sie »nicht eine, sondern tausende« war (Gunnar Heiberg); nicht eine mehr oder weniger schöne Variation des ewigen Themas Frau, sondern eine Musik, in der er den Reichtum des Unerschöpflichen, die Lockung des Unergründlichen gefunden, während sie ihm zugleich ein unvergleichliches Glück der Sinne schenkte. Je mehr die moderne Frau den Mut zu einer sinnlich wie seelisch reichen Liebe fasst, je zusammengesetzter und in sich geschlossener ihre Persönlichkeit wird, desto mehr wird sie die Macht erlangen, die jetzt nur das glückliche Vorrecht der Ausnahmenaturen ist.

Man sagt der Frau, dass ihr neuer Liebeswille nicht nur die Natur des Mannes, sondern auch die Wohlfahrt der neuen Generation gegen sich hat.

Sie antwortet: dass die grosse Liebe wohl kindlichen Unverstand auf allen Gebieten weltlicher Klugheit zeigen kann, aber dass sie auf ihrem eigenen Gebiete – mit all seinen Rätseln und Aufgaben – göttliche Weisheit, Ahnungsgabe, Wunderkraft ist; dass nur eines nottut, damit die Liebe die Menschheit regeneriere: dass sie eine immer grössere Lebensmacht werde und der Mensch immer mehr von seiner Seelenmacht für sie einsetze.

Schon jetzt gibt es Menschen, die mit der grossen Liebe lieben. Sie zeigen eine unersättliche Eroberungslust gegenüber allen Reichtümern des Lebens, um die Mittel zu haben, gegen einander von königlicher Verschwendung zu sein. Keines betrügt den anderen auch nur um einen Tautropfen. Die Glut, die sie sich geben, die Freiheit, die sie sich schenken, macht den Raum um sie warm und weit. Die Liebe gibt ihnen stets neue Inspirationen, neue Kräfte und neue Aufgaben für ihre Kräfte, mögen diese sich nun nach innen auf das Familienleben oder nach aussen auf die Gesellschaft richten. Und so wird das Glück, das für sie selbst die Quelle des Lebens ist, auch ein Zufluss, durch den das Glück des Ganzen steigt. Die Macht einer grossen Liebe, den Wert eines Menschen für die Menschheit zu steigern, ist nur mit der religiösen Glaubensglut oder mit der Schaffensfreude des Genies zu vergleichen, übertrifft aber beide an allseitiger Lebenssteigerung. Der Schmerz kann einen Menschen zuweilen mitleidsvoller für anderer Leiden machen, mehr allgemein tätig, als das sich nach innen sammelnde Glück. Aber nie führte der Schmerz die Seele zu den Höhen und Tiefen, zu den Eingebungen und Offenbarungen des Alllebens, zu der kniefälligen Dankbarkeit vor dem Lebensmysterium, zu der die Frömmigkeit der grossen Liebe ihn leitet!

In gleicher Weise wie der Glaube heiligt diese Frömmigkeit alles. Sie gibt der Sorge für uns selbst eine gewisse Bedeutung, denn

... if I am dear to some one else
Then must I be to myself more dear.

Sie schliesst die unbedeutendsten Dinge des Lebens zu einem bedeutungsvollen Ganzen zusammen. Der so Geliebte und Liebende trägt auch dasselbe Gepräge wie der christliche Mystiker, der immer klarer und doch immer geheimnisreicher wird; immer voller von Leben und doch immer stiller; immer mehr nach innen gekehrt und doch immer ausstrahlender.

Es gibt Menschen, welche meinen, dass dieser Zustand überspannt, unnatürlich sei.

Aber die Wahrheit ist – für jeden, der sie geschaut hat – dass »le vrai amour est simple comme un basrelief antique«. Ein solches Relief, das vor allen anderen dem Bilde entspricht, befindet sich im Museum von Neapel. Es zeigt einen Mann und ein Weib, die still zu beiden Seiten eines Baumes stehen. Ein Künstler der Antike hat hier wohl schon all das Bedeutungsvolle geahnt, was ein Sohn unserer Zeit verkündet hat, als er unter den Baum des Lebens einen Jüngling und eine Jungfrau mit einem geteilten Apfel in der Hand stellte: they divided the apple of life and ate it together ...

Zwei so Teilenden wird der Alltag funkelnd voll von kleinen Freuden wie ein Mittsommerfeld von Kornblumen; der Feiertag weiss von grossen Wonnen wie ein Pfingstgarten von Obstblüten. Zwei so Lebende können so spielen, dass hinter dem Spiel immer die Stille der Zärtlichkeit steht; so lächeln, dass unter dem Lächeln immer ein leicht bewegter Ernst liegt. Wenn der Tod sie nicht unterbricht, bauen sie ihr Zusammenleben so auf, wie die gotischen Kathedralen gebaut wurden: Strebepfeiler an Strebepfeiler, Bogen über Bogen, Ornament in Ornament, bis schliesslich das Gold der höchsten Spitze den letzten Strahl des Sonnenuntergangs auffängt.

So gibt die grosse Liebe schon jetzt zwei Menschen, was erst die ganze Entwicklung der Menschheit in ihrer Gesamtheit geben kann: die Einheit zwischen Sinnen und Seele, Lust und Pflicht, Selbstbehauptung und Selbsthingebung, zwischen dem einzelnen und der Menschheit, dem Augenblick und der Zukunft.

Dieser Zustand – wo jeder eigene Gewinn eine Gabe und jede eigene Gabe ein Gewinn ist, wo sich stete Bewegung und stille Ruhe vereinen – ist jetzt schon das, was Träumer von dem dritten Reiche erwarten.

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