Das grosse Leid der Frau von heute war die Entdeckung der Verschiedenheit ihrer eigenen erotischen Natur von der des Mannes. Oder richtiger gesagt: Sie hat es geleugnet und leugnet noch immer, diese Entdeckung gemacht zu haben, und meint, dass nur die Gesellschaftssitten – mit ihrer heilsamen Strenge gegen sie und ihrer masslosen Schlaffheit gegen ihn – den Unterschied verursacht haben, der nun besteht und den sie aufheben will. Aber während die eine Gruppe dies dadurch erreichen will, dass sie vom Manne weibliche Reinheit fordert, will es die andere, indem sie für die Frau männliche Freiheit verkündet.

Die Literatur wimmelt jetzt von »Reinheitsschriften«, männlichen wie weiblichen, schönliterarischen und nichtschönliterarischen.

Anmerkung: Auf die nordischen Nachfolger von »Ein Handschuh« braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Aber auch im Ausland ist die Frage nun in Länder gedrungen, wo der ganz verschiedene Volkscharakter zeigt, wie tief bedeutsam die Macht des Zeitgeistes ist. So hat z. B. Marcel Prevost das Problem in »Vierges Fortes« behandelt, Paul und Victor Margueritte in »Nouvelles Femmes«, und in Deutschland hat Veras (auch ins Schwedische übersetzte) »Eine für Viele« acht verschiedene Schriften pro und contra hervorgerufen. Die als Zeichen der Zeit bemerkenswerteste aus der »Veraliteratur« ist Felix Ebners »Meine Bekehrung zur Reinheit«, wo ein junger Mann aus dem Gesichtspunkt der Liebe für die Enthaltsamkeit des Mannes spricht.

Bald ist es eine Frau, die mit dem Manne, den sie liebt, bricht, als er ihr seine Vergangenheit beichtet; bald eine Frau, die ihren Geliebten zwingt, eine andere zu heiraten, weil diese ihm ein Kind geboren hat – und so weiter in infinitum. Endlich eine, die sich das Leben nimmt, aus Kummer über die Vergangenheit des Mannes, die, wie sie glaubt, ihre Zukunft zerstören wird. Die Literatur ist der Trommelwirbel, der das Nahen der Truppe verkündigt: das Heer von starken Frauen, die die Männer zur Reinheit erziehen wollen, indem sie ihnen ihre Liebe versagen.

Aber ob wirklich in dem Kampfe gegen den erotischen Dualismus des Mannes die Amazonen am meisten bedeuten werden? Ob nicht auch in diesem Falle die Weisheit in der Hoffnung liegt, das Schlechte durch das Gute zu überwinden, nicht das Schlechte durch das Schlimmere, indem man einen von der Liebe zur Einheitssehnsucht erweckten Mann wieder zu der Zersplitterung zurückkehren lässt?

Ob nicht die Frau mehr für die Regenerierung der Sitten bedeuten würde, wenn sie bei dem Manne, den sie liebt, bliebe, um ihn durch ihr ganzes Wesen erfahren zu lassen, was ein Weib durch den Mann leidet und wodurch sie beglückt wird? Immer mehr zärtlich keusche, fein fühlende und mild weise Gattinnen, das dürfte das Seligkeitsmittel für die von der Zersplitterung gequälten Männer sein. Schon eine solche Mutter oder Schwester oder Freundin bringt einem Manne Stärke. Aber siegesgewiss kann nur die Geliebte bleibende Gattin sein.

Freilich vermag sie es nicht, die Vergangenheit des Mannes auszulöschen. Aber sie kann zusammen mit ihm einem neuen, stärkeren Geschlechte das Leben schenken. Der Mann, der weiss, was seine Geliebte durch seine Vergangenheit gelitten hat; der sah, wie die Flügel ihres Lebensmuts etwas von ihrer Schwungkraft einbüssten, ihr Vertrauen etwas von seinem Lächeln, ihre Freude etwas von ihrer Leichtigkeit – der wird dann seine Söhne lehren: dass ein Mann durch das Glück der Liebe wohl aufs neue stark und gesund werden kann, aber ein so schönes und sicheres Glück, wie die Selbstbeherrschung es bereiten kann, wird ihm nicht zuteil; so königin-stolz, wie sein Sieg die Geliebte hätte machen können, erblickt er sie niemals.

Aber soll die Frau dem Reinheitsstreben des Mannes nützen, dann muss sie ihrerseits eine andere Auffassung darüber erlangen, was eine Erniedrigung des Wesens des Mannes war, und was nicht. Eine Frau, die sich beispielsweise mit einem Witwer verheiratet, hat Leiden durchzumachen, die in dem Masse tief werden, als ihre Liebe persönlich ist. Sie möchte nicht nur die letzte, sondern auch die erste Liebe des Mannes gewesen sein; sie leidet unter allen Erinnerungen, die ihnen nicht gemeinsam sind. Sie wäre gerne als Mutter an seiner Wiege gesessen und hätte sein erstes Lächeln aufgefangen; sie sehnt sich danach, mit ihm als Schwester gespielt, als Kameradin seine Mühen und Freuden geteilt zu haben. Sie beneidet alle, die ihn in den Lebensabschnitten und Seelenzuständen sehen durften, in denen sie selbst ihn nicht gesehen hat. Vor allem natürlich die Frau, die ihn zuerst durch die Liebe beglückt sah, die sie ihm gab!

Aber alle diese Leiden bringen sie nicht dazu, den Geliebten als sittlich gesunken anzusehen, weil er vor ihr der Mann eines anderen Weibes gewesen ist. Und dasselbe muss von vorhergehenden Liebesverhältnissen gelten. Der Mann kann in einer früheren Ehe wie in einer freien Verbindung seine Möglichkeiten, eine persönliche Liebe zu geben, entwickelt, oder er kann sie in beiden Fällen verloren haben. Haftet diesen früheren Verhältnissen keinerlei Niedrigkeit an, hat er sich nicht zu freiwilliger Zweiteilung herabgewürdigt – und das ist käufliche Liebe immer – oder zu verächtlichem Doppelspiel; hat er eine Frau nicht als Mittel behandelt, sondern Persönlichkeit empfangen und sich selbst als Persönlichkeit gegeben – dann tritt er nicht »unrein« in seine Ehe, auch wenn er nicht ein Beispiel der Enthaltsamkeit ist.

»Die Männer,« sagt Drachmann, »bleiben ewig jung, die das Weib nicht als Beute oder als Spielzeug betrachten, sondern unter Jubel und Tränen rein und schön alles geben, alles empfangen und sich an alles erinnern.« Aber die Männer, die diese Jugend bewahren, bewahren auch ihre Reinheit, selbst wenn sie nicht jene Exklusivität in der Liebe zeigen, die die erotisch entwickelte Frau auszeichnet.

Nun verhält es sich leider oft so, dass Männer schwer befleckt von früheren Verhältnissen in die Ehe treten, und diese Erfahrung gibt der Reinheitsforderung ihre Allgemeingültigkeit. Die Männer bringen Sitten und Gesichtspunkte mit, die das Glück der Liebe zuweilen für immer vernichten – falls nicht die Unzucht in der Ehe fortgesetzt wird, in der es mehr »gefallene« und verführte Frauen geben dürfte als ausserhalb derselben.

In jedem neuen Entwicklungsstadium der Liebe haben die Frauen, wahrscheinlich früher und sicherlich bewusster als der Mann, die Einheitsforderung mit dem Liebesbegriff verbunden. Die gezwungene Treue in der monogamischen Ehe, die freiwillige in der Liebe rief in der Frau zuerst die Beherrschung des Verlangens hervor, und dann durch die Beherrschung die Schwächung des Verlangens. So wurde allmählich bei vielen Frauen die erotische Einheit ein organischer Zustand, oder wie man bezeichnend zu sagen pflegt: eine physische Notwendigkeit. Nicht bei allen, nicht einmal bei den meisten, aber doch oft genug, dass man die Einheit der Seele und der Sinne in der Liebe – sowie die lebenslängliche Treue in einer einzigen Liebe – die Naturbestimmung unzähliger Frauen nennen kann, während beides bei den Männern noch so ungewöhnliche Ausnahmen sind, dass sie oft unnatürlich genannt werden! Aber wer daraus schliesst, dass, wenn man nur vom Manne dasselbe verlangt, auch die Folge dieselbe sein wird, der schliesst aus zwei verschiedenen Ursachen auf dieselbe Wirkung. Denn verschiedene Ursachen sind und bleiben die erotischen Voraussetzungen des Mannes und des Weibes. Die Reinheit, die der Mann erreichen kann, muss darum immer in gewissem Masse anders sein, als die der Frau, aber darum nicht geringer. Er bleibt sicherlich polygamer als sie, aber das bedeutet nicht, dass er fortfahren wird, sich bei der Befriedigung seiner erotischen Bedürfnisse zu zersplittern. Die Liebe besitzt, ja beherrscht und bestimmt das ganze Wesen der Frau in ganz anderer Weise als das des Mannes. Er wird, in rasch vorübergehenden Stunden, stärker von dem erotischen Gefühl ergriffen, aber befreit sich auch rascher und vollständiger. In dem Masse, in dem die Frau weiblich ist, ist sie hingegen ganz und gar von der Liebe bestimmt. Dies gibt ihrer Sinnlichkeit eine Fülle, ein Gleichgewicht und eine Einheitlichheit, die dem Manne fehlt. Wenn er heiss ist, hält er die Frau oft für kühl; wenn er sie warm sieht, meint er, dass sie es in gleicher Weise ist wie er. Solche Frauen gibt es wohl auch, die wie der Mann zwischen hastigem Aufflammen und plötzlicher Kälte schwanken, und diese Frauen sind noch die erotisch Aufreizendsten. Bei den meisten Frauen hingegen ist aus den obenerwähnten Gründen die Liebe eine gleichmässige Wärme, eine nie erlöschende Innigkeit. Aber dies lässt die Frau unter dem Manne leiden, der zwischen seinen Stunden der Leidenschaft um soviel ruhiger ist als sie, so wenig ihrer unablässigen Zärtlichkeit fähig. Darum findet sie selten, dass sie seine Gedanken und Gefühle so ganz ausfüllt, wie er die ihren.

Eine Frau hat treffend gesagt: dass gerade die grössere Sinnlichkeit der Frau sie weniger sinnlich macht als den Mann; auf Grund der Mutterschaft – und allem, was damit zusammenhängt – ist sie sozusagen von Kopf bis zu Fuss das ganze Jahr hindurch sinnlich, der Mann hingegen nur akut und lokal.

Anmerkung: Lou Andreas-Salome: Der Mensch als Weib.

Lässt man den Gedanken von der Erotik zur Mütterlichkeit schweifen, so sieht man sogleich ein, wie wahr dies ist: das Muttergefühl ist das durch und durch sinnlichste und infolgedessen das durch und durch seelenvollste der Gefühle: dieselbe Hingerissenheit der Sinne, in der die Mutter ausruft, sie möchte ihr Kind »aufessen«, äussert sich auch in der Liebe, die für das Kind sterben kann! Aber die oben erwähnte Schriftstellerin meint ausserdem: dass die erotischen Gefühle auch beim Manne umgesetzt und in mannigfaltigerer Weise ausgelöst werden können als in dieser einzigen, die noch für die meisten von ihnen der ganze Inhalt der »Liebe« ist, eine Annahme, die sich auf moderne wissenschaftliche Untersuchungen über diesen Gegenstand gründet.

Wenn dieselben sich bestätigen, wird es nicht nur im dichterischen, sondern auch im psychophysischen Sinne wahr sein, was Rousseau seiner ungläubigen Mitwelt offenbart hat: dass ein Blick einen Liebenden ganz und gar mit Wollust erfüllen kann; dass die grossen Seelenbewegungen die Hauptbedingung für das Glück der Liebe sind; dass die leiseste Berührung der Hand der Geliebten grössere Seligkeit schenkt, als der Besitz der schönsten Frauen ohne Liebe – Gefühle, die alle grossen Liebenden aller Zeiten bestätigt haben und für die selbst die entgegengesetztesten Naturen – von einem Comte zu einem Berlioz – dasselbe Zeugnis ablegen. Die Erotik des Bauern, die nichts von Liebkosungen weiss, steht an Glück der des gebildeten Menschen nach, welcher in der Liebe die verfeinerten Freuden aller Sinne findet. Und das Glücksgefühl dieses Menschen steht wiederum tief unter dem derjenigen, die auch in der Begegnung zweier Gedanken oder Stimmungen die Seligkeit der Liebe erleben.

Die Überzeugung, dass die Sinnlichkeit nur beherrscht werden kann, indem sie beseelt wird, leitet die Frauen, die nun hoffen, die Männer zu bekehren, nicht zur Pflicht der Monogamie, sondern zur Freude der Einheit.

Bevor der Wille der Frau so zielbewusst werden konnte, mussten ihre langen Freiheitsbestrebungen vorhergegangen sein. Die Ehe durfte nicht mehr der Broterwerb der Oberklasse sein, wie die Prostitution noch der der hungernden unteren Klassen ist. Die Liebe musste wenigstens in dem Sinne frei geworden sein, dass eine Frau nicht vor die Wahl gestellt war: Armenunterstützung seitens der Verwandten oder Zwangsverkauf an den Mann; ihre Persönlichkeit musste zu Ansehen gekommen sein, nicht nur in bezug auf den weiblichen Wert und die allgemeinmenschliche Würde, sondern auch in ihrer Individualität. Erst als sie – selbst arbeitend und wirkend – in ihrem Lebensunterhalt wie in ihrem Lebensinhalt nicht mehr ausschliesslich von der Werbung des Mannes abhing, wurde die Seligkeit der Frau nicht, »dass der Mann will« (Nietzsche), sondern dass sie selbst wollen kann! Die Sprache spiegelt schon die Veränderung der Sitte wieder. Selten hört man jetzt von einer Frau sagen: Warum hat sie nicht geheiratet? aber um so häufiger wird gefragt: was mag wohl ihr Liebesschicksal gewesen sein, da sie nicht geheiratet hat?

Die Entwicklungslinie geht auch hier im Zickzack. Die Frauen handeln zuweilen, als hätte die ganze Emanzipation zu nichts geführt. Aber trotz des vielen Widerspruchsvollen ist für den, der hoch genug steht, um Übersicht zu haben, die Evolution der Liebe – vor allem durch die Liebesforderung des neuen Weibes – die sicherste der Wirklichkeiten.

Man kann diese Evolution im Leben wie in der Literatur verfolgen, wo sie nun alle möglichen Ausdrucksformen annimmt, von Erlebnissen, die zu echten Dichtungen umgeschaffen wurden, bis zu Erzeugnissen, die zu dem Gedanken verleiten, dass diese Menschen nur liebten, um etwas zu haben, woraus sie ein Buch machen könnten! Die jetzige Frauendichtung erinnert an ein Relief aus einem Opferaltar auf dem Forum Romanum, ein Relief, wo der Ochse, das Schaf und das Schwein in einer Reihe dem Messer zuwandern! Hekatomben dieser Tiere werden heute – in der Gestalt von Ehemännern oder Liebhabern – von dem neuen Weibe Eros geopfert! Es dürfte nicht mehr lange dauern, so werden die Treuegelöbnisse in Verschwiegenheitsgelöbnisse abgeändert werden, und die Ehepakten einen Punkt enthalten, der es verbietet, dass die Liebesbriefe nach dem Bruche als Literatur fructificiert werden!

Gewiss bleibt es ewig wahr, dass niemals ein lebendiges Buch über die Liebe mit einem anderen Safte als mit Blut geschrieben wurde. Aber zu diesen Büchern gehören jene Prozessakten nicht, in denen man Partei, Zeuge, Richter und Henker in einer Person findet.

Doch stark oder schwach, schüchtern oder frech, edel oder unedel – immer sind die Bücher des neuen Weibes lehrreich für den, der die Richtung der Evolution der Liebe verfolgen will.

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