Die Jugend der oberen Klassen darf jedoch in ihrem Kampfe gegen die Gesellschaftsordnung nicht zu der Verantwortungslosigkeit der unteren Klassen herabsteigen. Die gebildete Jugend muss der übrigen ein Vorbild geben, indem sie wohl ihre ehelichen Vereinigungen zur rechten Zeit schliesst, aber auch auf eine für die kommende Generation und die Gesellschaft wirklich gute Art. Die jungen Leute mögen sich immerhin – wie ihre Altersgenossen in den breiten Volksschichten – die Möglichkeit, ein Nest zu bauen, erzwingen, die ihnen verweigert wird, bevor ein Kind erwartet wird. Aber die jungen Menschen haben nur dann ein Recht auf diese Art Trotz, wenn sie bereit sind, sobald sie es können, selbst die neuen Wesen zu schirmen, die der Menschheit einmal sie selbst ersetzen sollen. Vor allem muss doch auch die gebildete Jugend an der sozialen Neugestaltung teilnehmen, die – im grossen gesehen – die einzige Lösung der Ehefrage ist.
Anstatt die »freie Liebe« zu verfechten, die jetzt ein vieldeutiger und missbrauchter Begriff geworden ist, muss man für die Freiheit der Liebe kämpfen. Denn während die erstere dahin gelangt ist, Freiheit für jedwede Liebe zu bedeuten, bedeutet die letztere nur Freiheit für ein Gefühl, das des Namens Liebe wert ist.
Diese dürfte im Leben immer mehr dieselbe Freiheit erringen, die sie seit jeher in der Dichtung gehabt hat. Die Blüte der Liebe, sowie ihr Knospen wird dann ein Geheimnis zwischen den Liebenden bleiben, nur ihre Frucht eine Angelegenheit zwischen ihnen und der Gesellschaft. Wie immer hat die Dichtung auch hier den Weg der Entwicklung gezeigt. Selten hat ein grosser Dichter das gesetzgeweihte, wohl aber das freie und geheime Liebesglück besungen. Und auch in dieser Beziehung kommt die Zeit, wo man nicht eine Sittlichkeitsnorm auf die Poesie, eine andere auf das Leben anwenden wird. Schon der Dichter der Sakuntala nennt die Liebe die schönste, die sich frei in der nur durch die Fülle des Gefühls geheiligten Gandarvaehe gibt. Aber schon damals sah man ein, welche Gefahr darin liegt, dass »ein unbekanntes Herz an ein unbekanntes Herz geschlossen wird«.
Schon damals war es die Besorgnis für das Schicksal des Kindes, die die gesellschaftliche Verantwortlichkeit mit der Freiheit der Liebe verband.
Das neue Sittlichkeitsbewusstsein ist also alt. Aber doch muss es neu genannt werden, weil es anfängt, allgemeines Bewusstsein zu werden. Immer mehr Leute sehen ein, dass der Mensch, der sich – frei oder getraut – einem ihm im Innersten Fremden hingibt, den Adel seiner Persönlichkeit verletzt; immer mehr ahnt man, dass es das Heimatsgefühl in der Seele eines anderen ist, das der Hingebung ihre Weihe verleiht.
Der Freier, der – im Frack – sein Gefühl für die Tochter zuerst dem Vater erklärte, ist schon ein so veralteter Typus, dass man ihn nicht einmal mehr lächerlich machen kann! Die Hochzeit, nach Verlobungsfesten, Polterabend, kirchlicher Trauung – vor der zuweilen eine Generalprobe des »feierlichen Aktes« abgehalten wird – und mit dem Geleite der Hochzeitsgäste zum Brautgemach oder zum Waggon, diese Sitte wird bald als lächerlich angesehen werden, dann als unanständig und schliesslich als unsittlich. Und sie fängt schon an – ebenso wie andere Überbleibsel aus der Zeit, wo die Heirat die Angelegenheit der Familie war – in dem Masse zu verschwinden, in dem die Liebe sich entwickelt. Immer weniger ertragen die Liebenden das Ausspionieren ihrer feinsten Gefühle; immer mehr retten sie sie vor der Zollvisitation der Gesellschaft, den Dietrichen der Familie, den Taschendiebsfingern des Bekanntenkreises. Mehr und mehr wird die Liebe als ein Teil der Mystik der Natur verehrt, deren Verlauf kein Aussenstehender bestimmen kann, deren zarte Äusserungen und unausgesprochene Möglichkeiten niemand stören darf.
Wie kann die Liebe, der eine grosse Herrscher des Lebens, seine Freiheit eher aus der Hand der Gesellschaft empfangen, als der andere, der Tod? »Die Liebe und der Tod, die aneinander grenzen, wie die beiden Seiten eines Bergkammes, dessen Höhenlinie überall da ist, wo sie sich begegnen;« die Liebe und der Tod, die – die eine mit den Flügeln der Morgenröte, der andere mit denen des Nachthimmels – die Portale zwischen dem Erdenleben und den beiden grossen Dunkelheiten, die es umschliessen, überschatten, nur diese beiden sind Mächte, die an Majestät vergleichbar sind.
Aber während es nur einen Tod gibt, gibt es viele Arten von Liebe.
Der Tod spielt nie. Wenn alle Liebe ebenso ernst wird, wird auch sie das Recht des Todes haben, ihre Zeit und Stunde zu wählen.
In der Frühlingszeit der Liebe können Eltern nur dann etwas für ihre Kinder bedeuten, wenn sie Ehrfurcht vor dem Wunder empfinden, das sich in ihrer Nähe vollzieht. Aber bis jetzt sind die Eltern selten so feinfühlig gewesen, dass die Kinder sie als verständnisvolle Freunde behandeln können. Die Jugendzeit ist gewöhnlich von Kämpfen erfüllt, die teils durch die Umformungslust der Eltern verursacht werden – gegen die die Kinder erst jetzt wagen, sich zur Wehr zu setzen – teils durch die Lust der Kinder, ihre Ideale zu behaupten, die immer andere sind als die der Eltern, denn sonst »hätte ja die neue Generation keine Existenzberechtigung«. (Georg Brandes.) Die Eltern könnten sich selbst und ihren Kindern unsägliche Leiden ersparen, wenn sie von Anfang an begriffen: dass Kinder ausschliesslich als neue Persönlichkeiten mit neuen Göttern und neuen Zielen bedeutungsvoll werden; mit dem Rechte, ihr eigenes Wesen zu schützen; mit der Pflicht, neue Wege zu suchen und dabei von den Eltern in ebenso hohem Grade geachtet zu werden, als diese ihrerseits ein Recht haben – für das Beste, was sie waren oder sind, wollen oder gewollt haben – von den Kindern verehrt zu werden. Das einzige, worauf Eltern ihren erwachsenen Kindern gegenüber nie verzichten sollen, ist, ihnen mit ihrer Erfahrung zu dienen. Aber sie müssen dabei dessen eingedenk sein, was ein armes, liebendes Herz am leichtesten vergisst: dass nicht einmal seine bitterste eigene Erfahrung es den Kindern ersparen kann, ihre eigenen bitteren Erfahrungen zu machen. Sie werden wahrscheinlich die Irrtümer der Eltern vermeiden, aber nur, um selbst andere zu begehen! Die einzige wirkliche Macht, die ein Vater oder eine Mutter über das Schicksal ihrer Kinder hat – aber die ist auch unermesslich – besteht darin, das Heim mit ihrer starken, schönen Persönlichkeit zu erfüllen; mit Liebe und Freude; mit Arbeit und Kultur; die Luft dort so reich und rein, so erfüllt von Ruhe und Wärme zu machen, dass die Kinder die Ruhe haben, mit ihrer Wahl zu warten, und einen grossen Massstab, nach dem sie wählen können!
Aber wenn die Eltern sehen, dass die Kinder trotz alledem in die Versuchung geraten, den Zufall für das Schicksal zu halten, dann bedarf es auf ihrer Seite einer beinahe göttlichen Weisheit, die Gefahr abzuwenden. In den meisten Fällen arbeiten die Eltern bewusst oder unbewusst dem Zufall in die Hände, wenn sie vor dem Schicksalsbestimmten Hindernisse auftürmen. Sie warnen nicht vor dem Nichtssagenden, dem Nichtsgebenden: nein, sie führen armselige, kleinliche Gründe ins Feld, denen die Jugend mit all dem Besten in ihrer Natur widerstrebt. Und sie beschwichtigen ihre eigenen unruhigen Ahnungen, denen zu folgen die Eltern sie hätten bewegen können, wenn sie selbst einen klareren Blick für die Wesentlichkeit gehabt hätten.
Selbst in den liebevollsten Familien gehen die Kinder in der Zeit der Frühlingsstürme wie Rätsel einher, die die Eltern oft vergebens zu deuten suchen. Nie leidet eine junge Seele mehr, als unter der Lösung ihres eigenen Rätsels. Aber nur der Vater oder die Mutter, die sich durch ihre Kinder zu erneuen und zu verjüngen vermochten, könnten ihnen bei der Lösung helfen. Sonst ist die Folge nur die, dass die Eltern von ihrer Seite aus Steine zu der Mauer tragen, die die Kinder von der ihren immer höher bauen.
Auch Eltern, die nicht zu knarrenden Arbeitsmaschinen geworden sind; die ihre Gewalt nicht ausüben, weil sie die Machtmittel besitzen, sondern weil sie die geistige Überlegenheit haben; die im Hause den Kindern nicht nur Freiheit zur Freude, sondern auch die Freude der Freiheit geben, werden doch oftmals in der Bemühung scheitern, ihre Überlegenheit für die Kinder erspriesslich zu machen, sie durch ihren Freisinn aus ihren jugendlichen Einseitigkeiten zu befreien. Und dann müssen sie den Kampf aufgeben. Denn er wird die Unmöglichkeiten des Gegenwärtigen nicht bessern, nur die zukünftigen Möglichkeiten des Verständnisses zerstören.
In den drei grössten Entscheidungen des Lebens – über die Lebensanschauung, die Lebensarbeit und die Liebe – muss jede Seele eigenmächtig sein. Da müssen die Eltern ihre Gewalt darauf beschränken, die Kinder vor Lebensgefahren zu retten. Aber sie müssen diese auch entdecken können, müssen die tiefe Forderung von der oberflächlichen, den Weg vom Abweg zu unterscheiden wissen.
Vermögen die Eltern dies nicht, dann müssen die Kinder ihre Pflicht gegen sich selbst und das Leben erfüllen, indem sie – früher oder später – ihrer Wege gehen.
Wenn die Kinder »schweigen und lächeln« können, um handelnd ihren Ernst zu zeigen, dann können die Kinder wahrscheinlich ihre Eltern erziehen. Es wird sich dann oft zeigen, dass die Herzen eines Vaters, einer Mutter stärker, ihre Seelen weiter sind, als Kinder oder Eltern vor der Probe glaubten. Zeigt es sich hingegen, dass nur die Fehler und Vorurteile der Eltern den Kampf verursacht haben – dann sind Fehler und Vorurteile darum nicht mehr wert, weil sie die eines Vaters oder einer Mutter sind!
Aber auch wenn es sich so verhalten sollte, dass die Eltern keine Seelen haben, die sich vertiefen, nur Herzen, die verbluten können, ist es doch die Pflicht des Kindes gegen sich selbst wie gegen vergangene und kommende Geschlechter, seinem eigenen Wesen die höchstmögliche Vollendung durch die Liebe zu geben. Die Eltern sind nur ein Glied in der unendlichen Kette der Geschlechter: das Blut von hunderttausenden haben die Eltern den Kindern zugeführt, die es nun ihrerseits weitergeben. Die Kinder haben höhere Pflichten gegen all diese Toten und Ungeborenen, als gegen das einzige Paar Menschen, das ihnen Vater und Mutter ward. Es liegt der Jugend ob, all diese Toten so voll als möglich durch die Entwicklung ihres eigenen Wesens und in dem Wesen ihres Kindes wieder aufleben zu lassen. Ein Mensch kann seine Natur mehr dem Herzen seiner Grossmutter, der Phantasie seines Urgrossvaters verdanken, als der eigenen engherzigen Mutter oder dem geistesarmen Vater. Weit davon entfernt, dass es stets eine Pflicht ist, seinen Eltern Freude zu machen, kann es eine Pflicht sein, ihnen Kummer zu machen – um seinen Nachkommen Freude zu bereiten. Es ist gut, Vater und Mutter zu ehren; wichtiger ist doch das Gebot, das Moses vergass: Sohn und Tochter zu verehren, noch ehe sie geboren sind!
Wenn das Gefühl für die Toten und Ungeborenen bewusst eine Triebkraft der Handlungen der Menschen wird, weil es eine Macht in ihrem Empfinden ist, dann werden die Ansprüche der Eltern, das Leben der Kinder zu entscheiden – sowie die Forderungen dieser, das der Eltern zu bestimmen – immer mehr vor der Majestät des Verflossenen und des Zukünftigen zusammensinken.
Aus dem Vorhergehenden geht hervor, dass jene Sittlichkeitsverkündung wenig wert ist, die nicht die Forderung einschliesst, gesunden Menschen zwischen zwanzig und dreissig Jahren die Möglichkeit der Heirat zu bereiten, die Möglichkeit, die ausnahmslos für unsere germanischen Vorväter vorhanden war, auf deren vorbildliche Enthaltsamkeit man sich jetzt beruft!
Solange immer ausgedehntere Gelehrsamkeitsproben, das Budget des Staates, die Dividenden der Aktiengesellschaften und die Lebensansprüche der Umgebung dem Rechte der Jugend auf Elternschaft vorausgehen, verbleibt das Ganze gleich, trotz einer zunehmenden Minderzahl von Männern, die um ihrer eigenen Persönlichkeit oder um ihrer Liebe willen die Enthaltsamkeit bis zur Ehe oder ohne die Ehe durchführen.
Dass dieses Opferwesen der Gesellschaftsordnung und der Kultur aufhöre, ist schon für die einzelnen wichtig, aber in unendlich höherem Grade für die Gesellschaft, deren Kräfte jetzt durch die Wirkungen der Unsittlichkeit verheert und durch die der Sittlichkeit gehemmt werden; die Gesellschaft, deren Stärke in so hohem Masse von jungen, gesunden Eltern der neuen Generation abhängt!
Schon innerhalb der jetzigen Gesellschaftsordnung ließen sich die Heiratsmöglichkeiten der Jugend durch eine kluge Verwirklichung der Eigen-Heim-Idee auf dem Lande verbessern; durch verkürzte Studienzeit; durch die Hebung der niedrigen Lohnkategorien, die jetzt auf die Befriedigung des Geschlechtsbedürfnisses durch die Prostitution berechnet scheinen; durch frühere Pensionierung der älteren, um dem mittleren Alter – wo die Last der Kindererziehung am schwersten ist – die höheren Lohnkategorien zu sichern u. dgl.
Ausserdem ist eine durchgreifende Änderung der Lebensansprüche und Lebensgewohnheiten nötig, vor allem in den Grossstädten, wo Wohnungsvereine zur Errichtung kleiner Wohnungen mit gemeinsamer Küche, Bureaus für gut geordnete häusliche Hilfe gegen Stundenlohn und Konsumvereine zur Verbilligung der Lebenskosten der Jugend die Familiengründung beträchtlich erleichtern könnten. Nicht nur diese jedoch, sondern auch die Gesellschaftsarbeit würde gefördert werden, falls Männer von ungefähr 25 Jahren für den Eintritt in ihre verschiedenen Berufe bereit wären, um dann – nach 30–35 jährigem Staatsdienst – pensionsberechtigt, aber auch verpflichtet zu sein, ihren Abschied zu nehmen, mit Ausnahme der seltenen Fälle, in denen das Genie eine Persönlichkeit in einer leitenden Stellung unentbehrlich macht. Die Erfahrungen, die der Mann gewonnen, die Kraft, die er noch übrig hätte, würden in anderen bürgerlichen Tätigkeiten oder in persönlichen Lebensinteressen volle Verwendung finden.
Jede Sittlichkeitspredigt an die Jugend, welche nicht zugleich die Gesellschaft verurteilt, die die Unsittlichkeit begünstigt und die Verwirklichung der Jugendliebe unmöglich macht, ist mehr als eine Dummheit, ist ein Verbrechen.
Solange die jetzigen niedrigen Lohnverhältnisse und unsicheren Arbeitsmöglichkeiten weiter bestehen, wird auch immer weiter das Blut der Männer verdorben, das der Frauen verdünnt werden, während sie auf die Ehen warten, die der Gesellschaft prächtige Kinder gesunder und glücklicher Eltern hätten schenken können.
Und solange die Staaten so stumpf ihre höchsten Werte hinopfern, wird jede andere Art der Gesellschaftsveränderung ein Penelopegewebe, wo – im wahrsten Sinne des Wortes – die Nacht das aufreisst, was der Tag gewirkt hat.