Die Auswahl der Liebe
Die Freiheit der Liebe, neue Wesen zu schaffen, muss nach unten zu begrenzt werden, indem man diese Freiheit nur denen zuerkennt, die das Alter der Geschlechtsreife erreicht haben. Aber sie muss auch nach oben begrenzt werden, weil der grosse Altersunterschied zwischen einem Vater und einer Mutter – oder das hohe Alter eines der beiden Teile – schlechte Bedingungen für die Gesundheit, die Kraft und die Erziehung der Kinder bietet. Und da, wie schon oben angeführt worden ist, das gesetzliche Heiratsalter beider Geschlechter auf 21 Jahre festgesetzt werden muss, ist ein Altersunterschied von 25 Jahren der höchste, den das Gesetz zulassen sollte.
Niemand, der den Sinn des Lebens in dessen Steigerung zu immer höheren Formen sieht, diskutiert heute noch über die sonnenklare Pflicht, schwere Krankheiten, von deren Erblichkeit die Wissenschaft schon überzeugt ist, nicht fortzupflanzen. Aber da diese Überzeugung nur in wenigen Fällen eingetreten ist, wären gesetzliche Hindernisse für die vielen ungewissen Fälle nicht nur eine – vielleicht sinnlose – Lebenshemmung für das Individuum, sondern auch eine ungünstige Voraussetzung für fortgesetzte Forschung auf dem wichtigsten Gebiete der Biologie.
Was schon jetzt verordnet werden soll, ist, dass jeder Teil vor der Eheschliessung volle Einsicht in deren eventuelle Gefahren erlange, aber dass die Wahl dann dem eigenen Verantwortlichkeitsgefühl überlassen bleibe. Denn niemand kann – wenigstens heute noch nicht – verlangen, dass der einzelne sein Glück umstrittenen Möglichkeiten opfere. Aber im Interesse des einzelnen sowie in dem der Menschheit kann man hingegen verlangen, dass niemand seine Liebeswahl unwissend treffe. Und je mehr das Gefühl vom Zusammenhang des Menschengeschlechtes unter dem Einfluss des Evolutionismus seiner Renaissance entgegengeht, desto natürlicher wird man alle Massregeln finden, die diese Wahl zum Vorteil der neuen Generation sichern wollen. Schon jetzt hält man es für ganz natürlich, dass eine ärztliche Untersuchung einer Lebensversicherung vorangehen muss. In Zukunft dürfte es ebenso selbstverständlich sein, dass die Frau bei dem weiblichen, der Mann bei dem männlichen Arzte sich vor der Heirat versichern, ob sie ihre geschlechtliche Aufgabe gut erfüllen können. Und es handelt sich hier nicht nur um die Versicherung der neuen Leben, sondern auch um die Gewissheit für die Eheschliessenden selbst, nicht etwa, ohne es zu wissen, organische Fehler zu besitzen, die zuweilen die Ehe unmöglich machen können, in anderen Fällen leicht zu beheben sind, aber wo in beiden die Unwissenheit zwecklose Leiden verursacht.
In den meisten Fällen wird es die Besorgnis sein, selbst Krankheiten zu erwerben, oder sie auf den anderen Teil oder die Kinder zu übertragen, die der Arzt bestätigen oder zerstreuen wird.
Es steht ausser aller Frage, dass teils die gesunde Selbstsucht, die das eigene Ich bewahren will, teils die zunehmende Wertschätzung einer guten Nachkommenschaft dann so manche ungeeignete Eheschliessung verhindern wird. In anderen Fällen dürfte die Liebe über diese Rücksichten, soweit sie die Gatten selbst betreffen, siegen, aber diese werden dann auf die Elternschaft verzichten. In den Fällen hingegen, in denen das Gesetz die Heirat bestimmt untersagen würde, kann man die Kranken natürlich nicht hindern, sich ausserhalb der Ehe fortzupflanzen. Aber das gleiche gilt ja von allen Gesetzen: die Besten brauchen sie nicht, die Schlechtesten befolgen sie nicht, aber die Rechtsbegriffe der Mehrzahl werden durch sie erzogen.
Nur die in den Gesetzen der seelischen Umwandlung Unbewanderten zweifeln an der Möglichkeit, dass das Liebesgefühl und das Gefühl für die Gattung gleichzeitig gesteigert werden können. Jahrhundert für Jahrhundert hat das Liebesgefühl sich entwickelt, während die Menschen es gleichzeitig religiösen Vorurteilen, oberflächlichen Pflichtbegriffen, tyrannischen Elternwillen, leeren Formen geopfert haben! Jetzt, wo ihr Opfer dem höchstmöglichen Wert gilt – grossen Fortschritten von Krankheit zu Gesundheit, der Veredlung des Menschenmaterials selbst – gerade jetzt sollten sich die Menschen unfähig zu diesen Opfern zeigen, weil die Macht der Liebe sich inzwischen gesteigert hat!
Gerade durch die Grösse ihres Gefühls für einander werden zwei Gatten die Kinderlosigkeit ertragen können, falls sie – in dem Bewusstsein, dass keiner von ihnen der Menschheit so einen bedeutungsvollen Wert entzieht – ihre Verbindung mit dem Entschlüsse eingehen, nicht Eltern zu werden. Durch eben diese Grösse der Liebe kann der Teil, auf dessen Seite die Gefahr ist, die Stärke erlangen, sein eigenes Glück zu opfern, damit der andere ein für ihn selbst und die Menschheit bedeutungsvolleres Glück mit einem anderen Wesen erringe. Solche Opfer werden schon jetzt häufiger gebracht, als man glaubt.
Anmerkung: Im Anhang zum »Jahrhundert des Kindes« sind eine Menge Arbeiten – von Darwin, Galton, Haycraft, Ribot, Gjellerup u. a. – über die Vererbungsfrage angegeben. In Rede und Schrift ist der norwegische Arzt Dr. Dedicken lange ein Vorkämpfer für die Forderung eines ärztlichen Zeugnisses bei der Verheiratung gewesen, und auch der deutsche Arzt Alsberg verlangte (beim Arztekongress in Kassel) ein Gesetz, das ein Gesundheitszeugnis als Bedingung für die Ehe forderte. Unter den Beispielen für die Rücksicht auf die Nachkommenschaft erwähnt der schwedische Professor Ribbing in einer Broschüre »Wen darf man heiraten?«, dass in der Stadt Tenna in der Schweiz alle jungen Mädchen, die den sogenannten Bluterfamilien angehörten, einen Bund schlössen, der sie verpflichtete, nicht zu heiraten, um so diese furchtbare Krankheit auszurotten. Jeder dürfte einzelne Beispiele ähnlichen Mutes kennen. Ein einziges mag angeführt werden: ein neunzehnjähriges Mädchen erfuhr von dem Manne, den sie liebte, dass er sich die Möglichkeit einer gesunden Nachkommenschaft verscherzt hatte. Und sie hatte die Stärke, sich von ihm zu trennen, obgleich ihre Liebe so tief war, dass sie ihr seither jede andere Verbindung unmöglich gemacht hat. In der europäischen Belletristik soll – ausser Zola – W. Jordan (»Die Sebalds«, »Zwei Wiegen«) das Problem behandelt haben, ebenso André Couvreur in »La Graine« und einige englische Schriftstellerinnen: E. Robin in »The open question«; Mona Cairn: »Morality of Marriage«, Linn Lynton u. A. Ein neuer Beitrag ist Professor Combes Buch: »Die Nervosität des Kindes«.
Und es liegt in den Voraussetzungen des Lebens – in der Einheit zwischen Seele und Körper – dass der Kranke die Werte umwertet, die die Liebe für den Gesunden hat, und sich neue, nur ihm zugängliche Glücksgefühle schafft.
Aber vor allem wird die Vertiefung des Liebesinstinkts durch das Gefühl für die Gattung die Artveredlung sichern, ohne das Opfer des Glücks des einzelnen zu erfordern.
Als die lutherische Kirche den Kampf um die Ehefreiheit zwischen nahen Verwandten verlor, da bedeutete dies eine beginnende Freiheit für die persönliche Auswahl gegenüber der krassen Sinnlichkeit der lutherischen Ehelehre und der biblischen Buchstabensklaverei, die die Kirche den Menschen auferlegt hatte, lange nachdem der ursprüngliche Rassenveredlungs-Gesichtspunkt der mosaischen Ehegesetze in Vergessenheit geraten war. Auch in Hellas war diese Veredlung eine zielbewusste. Aber dadurch, dass das Christentum immer die Bedeutung des einzelnen betonte, wurde das Gefühl des Individuums für die Gattung geschwächt, ebenso durch die Lehre der vom Himmel den Körpern mitgeteilten und wieder dorthin zurückkehrenden Seelen. Nur durch die Steigerung der Seelenmacht des Menschen, durch Kasteiung seines sündigen Körpers hob das Christentum die Qualität der Gattung. Die Lehre von der Erbsünde war seine einzige – vernünftig-unvernünftige – Betonung des Zusammenhanges mit den Vorvätern. Weil das Christentum die Menschenart als ein für allemal von Gott festgestellt – wenn auch von Adam verpfuscht – ansah, wurde, wie schon früher dargelegt, Wiederherstellung, nicht Neuschöpfung der Grundgedanke des Christentums. Und« gerade in den Bedingungen der Lebenserneuerung sah das Christentum die Wurzel und den Ursprung der Sünde in der Welt. Diese ganze Anschauung musste überwunden werden. Und glücklicherweise hat die Kirche naturnotwendig jeden Kampf gegen die Liebe verloren und wird ihn auch immer verlieren. Aber dabei kommt es, wie gerade bei jener Ehefehde in der Reformationszeit, vor, dass der Fortschritt sich durch einen Abweg von der Hauptlinie der Entwicklung, der Artveredlung, vollzieht. Jetzt lehren viele Zeichen, dass die Liebe und das Gefühl für die Gattung sich einander zu nähern beginnen.
Jedesmal, wenn das abstrakte logische Denken dem lebendigen Leben sein Entweder – Oder entgegenstellt, bringt dieses seinen stolzen Willen zur Geltung, sich nicht von Definitionen ein engen oder von Schlussfolgerungen bestimmen zu lassen. Leben ist Bewegung, Bewegung bedeutet Veränderlichkeit, Umwandlung, mit anderen Worten Entwicklung in auf- wie in absteigender Richtung. Nie wird die aufwärtssteigende Kurve eine schärfere Erhöhung erhalten, als wenn der Wille, neue Leben zu schaffen, von der Auswahl der persönlichen Liebe, aber diese Auswahl wieder von einem klarblickend gewordenen Artveredlungsinstinkt geleitet wird!
Dass die Wahl der persönlichen Liebe noch oft teils diesen Instinkt vermissen lässt, teils ihn kränkt, beweist nicht, dass sie ihn immer entbehren und verletzen wird. Die Liebesauswahl ist schon in gewissen Fällen – wie in Bezug auf nahe Blutsverwandtschaft, verschiedene Rassen und gewisse Krankheiten – Instinkt geworden, nachdem Gesetz und Sitte die Auswahl so lange beeinflusst haben, dass diese ihrerseits Gefühl und Instinkt beeinflussen konnte. Nunmehr brauchen Bruder und Schwester – wenn sie ihre Verwandtschaft kennen – selten ein gegenseitig aufeinander gerichtetes erotisches Gefühl zu bekämpfen, weil ein solches gar nicht entsteht. Kein Verbot, nur alle Impulse des Blutes hindern die Amerikanerin, einen Neger oder Chinesen zu heiraten. Die Frau; von der es bekannt ist, dass sie die Fallsucht hat, wird von der Ehe weniger durch das in diesem Falle leicht zu umgehende Gesetz ausgeschlossen, als dadurch, dass kein Mann sie zu seinem Weibe begehrt. Andererseits weiss man, dass unter Verhältnissen, die die Ausbildung des menschlichen Körpers zu Schönheit und Stärke begünstigt haben, diese auch in hohem Grade Einfluss auf die erotische Wahl der Geschlechter ausübten, soweit sie zugleich wirkliche Wahlfreiheit besassen. Das Erbrecht, das ermöglicht, dass die Entarteten leicht Ehen schliessen, und auf der anderen Seite das Bedürfnis der Frauen nach einer Versorgung, hat den Instinkt der letzteren in dieser Richtung verfälscht. Die herrschenden Sitten und Sittlichkeitsbegriffe haben den künftigen Müttern in der Regel ihre volle Wahlfreiheit geraubt und so die Bedeutung der wählenden Frauenliebe für die geistige und körperliche Veredlung der Gattung zum grossen Teile neutralisiert. Dazu kommt noch, dass die Brüderlichkeitslehre des Christentums, die Gleichheitslehre der Aufklärungszeit, die Übertragung der ökonomischen Macht auf den dritten Stand – mit einem Worte die ganze Demokratisierung der Gesellschaft – die Gesetze und Sitten niedergerissen hat, die eine Blutvermischung verschiedener Stände und Rassen hinderten. Dies hat freilich die Auswahl der persönlichen Liebe begünstigt, aber auch, in höherem Grade als zuvor, die Auswahl aus dem Gesichtspunkte des Geldes. Bei den früheren, von den Verwandten gestifteten Eheschliessungen wurden viele andere Vorteile, ausser den ökonomischen, in Betracht gezogen. Aber auch in diesem Fall, sowie bei der Verwandtenehe, war es immer weniger die klarblickende Besorgnis, edles Blut zu bewahren, und immer mehr der leere Geburtsdünkel, das beschränkte Rassenvorurteil, das die Ehehindernisse auftürmte. Es war also notwendig, dass die Auswahl der Liebe auch diese Hindernisse besiegte, die ausserdem, auch aus dem Gesichtspunkt der Artveredlung, oft von zweifelhaftem Werte waren. Aber um so mehr muss man die ehestiftende Macht des Geldes beklagen, vor allem, wenn sie sich auf Kosten der Neigung geltend macht, die die Liebe trotz allem zeigt, am liebsten ihre Wahl unter Gleichen zu treffen, eine Neigung, die – ausser allen anderen leicht erklärlichen Ursachen – auch einen durch Generationen entwickelten Instinkt einschliessen dürfte, der für die Bewahrung der besten Eigenart eines Standes, einer Rasse Bedeutung hat.
Seit das Christentum und die von ihm beeinflusste Kultur die Naturbestimmung der Liebe schamhaft verhüllt und durch ihren Transzendentalismus verdeckt hat, fingen auch die Menschen an, sich der Selbstbeobachtungen und Selbstbekenntnisse auf diesem Gebiete zu schämen. Wir müssen wieder die Geschlechtsgeschichte pflegen, aber nicht nur jene, die mit grossen Jahreszahlen für Geburt, Verheiratung und Tod – in die alten Familienbibeln – geschrieben wurde, sondern eine, die auch die Umstände einbezieht, welche Geburt und Tod bestimmt haben. Man muss von neuem anfangen, Horoskope zu stellen, aber weniger nach Zeichen am Himmel – obgleich diese vielleicht etwas von ihrer früheren Bedeutung wiedererlangen werden – als nach solchen auf Erden, und nicht nur nach Zeichen bei der Geburt, sondern lange vor derselben. So wie die Alchymie Chemie, die Astrologie Astronomie wurde, dürfte eine solche Zeichendeutung das vorbereiten, was man – in Erwartung eines Wortes mit tieferer Ausdehnung als Galtons Eugenies und Haeckels Ontogenie – Erotoplastik nennen könnte: die Lehre von der Liebe als bewusst formender Kunst, anstatt des blinden Geschlechtstriebes. Es wäre von unendlich grösserer Bedeutung für die Menschheit, wenn die vielen Frauen, die ihre Erlebnisse in halb ehrliche und ganz unkünstlerische Dichtungen umsetzen, zu Nutz und Frommen der Wissenschaft ganz wahre Geschlechtschroniken und ganz ehrliche Selbstbekenntnisse niederschrieben.
Schon jetzt ist es ganz ausgemacht, dass die Sitten und Denkweisen, die Kunst- und Gefühlsrichtungen, die das Milieu der Liebe bilden, unbewusst auf ihre der Rasse nützliche Auswahl einwirken. Dies lässt es auch möglich erscheinen, dass eine solche Einwirkung bewusst werden kann, wenn man einmal Klarheit erlangt hat, in welcher Richtung sie sich bewegen soll; welches die geistigen und körperlichen Eigenschaften sind, die man auszurotten oder zu steigern wünscht; und durch welche Mittel die Eigenschaften der neuen Generation in der Wahl der Eltern liegen. Aber vor allem werden die Rücksichten auf die Gattung mittelbar in derselben Richtung wirken, so dass die Liebe immer seltener unter Bedingungen, die der neuen Generation ungünstig sind, entsteht. Der Mensch hat kein logisch denkendes Innere: les entrailles ne raisonnent pas, elles ne sont pas faites pour ça (George Sand). Aber unser Wesen wird allmählich unbewusst durch wechselseitige Einflüsse umgestaltet: der Körper durch die Seele, die Seele durch den Körper; die Begierden durch die Gedanken, die Gedanken durch die Begierden. Gewiss wird die Auswahl der Liebe – die gerade dieses einzige Wesen unter vielen anderen, die ebenso viel oder mehr wert sind, erwählt – ein Mysterium bleiben. Aber die einzelnen und allgemeinen Eigenschaften, die überhaupt anziehend wirken, werden immer besser begriffen, von beiden Geschlechtern immer mehr erstrebt werden und bei der Auswahl immer bestimmender sein. Andrerseits wird der geschlechtlich Ausschweifende, der Alkoholiker, der in der einen oder anderen Richtung erblich Belastete immer weniger Liebe einflössen.
Man hat schon in früheren Zeiten gesehen, dass eine Verschiebung der Motive, eine Teilung der Triebkräfte in irgend einer bestimmten Epoche den Charakter der Liebe geändert hat. So vermochte, wie schon dargelegt, der Einfluss des Zeitgeistes in der Ritterzeit und später wieder in der Epoche der Aufklärung die Liebe sowohl von der Ehe, wie von der Geschlechtsaufgabe zu trennen. Nach denselben psychischen Verläufen kann ein neuer – von der Entwicklungshoffnung erfüllter, vom Lebensglauben bestimmter – Zeitgeist diesen Zusammenhang inniger denn je wiederherstellen. Dann werden neue Dichter die Andacht ausdrücken, die den tragenden Schoss und die Seele bei der vereinigten Auswahl der persönlichen Liebe und des Geschlechts-Gefühls erfüllen, die allein die Gewissheit gibt, dass
I am for you, and you are for me,
Not only for our own sake, but for others sakes,
Envelop'd in you sleep greater heroes and bards,
They refuse to awake at the touch of any man but me.
Anmerkung: Walt Whitman: »Children of Adam« (man sehe Leaves of Grass).
Religion, Poesie, Kunst und Gesellschaftssitte haben zusammengewirkt, das Geschlechtsgefühl zur Liebe zu erheben. Sie fangen nun an wieder zusammenzuwirken, das Geschlechtsgefühl in der Liebe bewusst zu machen. Die Altäre, die die Vergangenheit den Gottheiten der Zeugung errichtet hat, müssen wieder aufgebaut werden. Aber nicht, damit sich die Menschen zu orgiastischem Taumel in dem Brand roter Sonnenuntergänge um sie versammeln, sondern im goldenen Morgenlicht zu freudigen Schaffenstagen.
Das Stammesgefühl, die Verehrung der Vorväter, der Stolz auf reines Blut werden in einem neuen Sinne ihre bestimmende Macht über Gefühle und Handlungen wiedererlangen.
So – nicht aber durch die abstrakten Staatsbürger- und Pflichtbegriffe der idealistischen Philosophie, ebensowenig durch spartanisch-evolutionistische Züchtungsgesetze – wird die Freiheit der Liebe begrenzt werden.
Freiheit für die Auswahl der Liebe unter Bedingungen, die der Gattung günstig sind; Begrenzung, nicht der Freiheit der Liebe, wohl aber der Freiheit des Kinderzeugens unter Bedingungen, die der Gattung ungünstig sind – dies ist die Lebenslinie.
Die Liebe hat, wie jedes andere Gefühl, ihre Ebbe und Flut. Sie hat folglich nicht einmal in den grössten Seelen immer dieselbe Höhenlage. Aber je grösser die Seele ist, die von der erotischen Gefühlswelle überströmt ist, desto gewisser erbebt diese Welle bei ihrer höchsten Erhebung in Ewigkeitssehnsucht. Das Kind ist die einzige sichere Lösung dieser Sehnsucht.
Das bedeutet nicht, dass die Liebenden im Augenblicke der Hingerissenheit ihr Bewusstsein zwischen der Gegenwart und der Zukunft teilen, zwischen der eigenen Seligkeit und dem möglichen Kinde. So plump funktioniert das Seelenleben nicht. Aber die bewussten Seelenzustände werden von – augenblicklich in Unbewusstheit versunkenen – Gefühlen bestimmt; und Motive, die in der Stunde der Erfüllung vergessen sind, sind darum nicht weniger entscheidend gewesen. Der Sportsmann erinnert sich im Augenblicke des Sieges nicht an das Training, das dem Wettkampf vorausgegangen ist, aber es hat diesen Augenblick trotzdem bestimmt. Der Künstler gedenkt in der Stunde des Schaffens nicht der Mühen der Lehrjahre, aber sie bestimmen nichtsdestoweniger die Vollkommenheit der Schöpfung. Der Artveredlungswille muss den Liebenden nicht bewusst sein, wenn sie einer durch den anderen Zeit und Dasein vergessen, aber ohne die Gefühle, die bewusst oder unbewusst von diesem Willen beeinflusst wurden, wären sie nicht in dem Glücksrausch der Seele und der Sinne vereint.
Jenen, welche die Hoffnung, dass die Auswahl der Liebe sich immer mehr in der Richtung des Vorteils für die Gattung bewegen wird, eine Gedankenlosigkeit nennen; ja, die in dieser Möglichkeit die Erniedrigung der Liebe zu einem Züchtunginstitut sehen, dürften ebenso grosse Gebiete menschlichen Seelenlebens und menschlicher Entwicklung verborgen sein, wie denen, welche die Religionen ein Werk der Priesterlist nannten!
Immer mehr junge Männer sind sich heut voll bewusst, dass der Gedanke an das Kind bei der Wahl ihrer Liebe Einfluss gehabt hat; immer mehr Frauen bekennen, dass ihre Sehnsucht nach einem Kinde niemals stärker war, als in der Umarmung des Mannes, in die eine grosse Liebe sie geführt hat. Immer häufiger spähen Mütter in den Gesichtern und Seelen ihrer Kinder nach einem Zeugnis ihrer Liebe. In einem Lande, wo das Weib sich nicht schämt, durch das Glück beglückt zu werden, sagte die Mutter von drei der allerschönsten Kinder: »Die Seligkeiten unserer Liebkosungen sind in unseren Kindern sichtbar geworden, in den edlen Linien ihrer Lippen, ihren feingeschnittenen Nasenflügeln, ihren schamhaften Augenlidern.« Immer häufiger schliesslich hört man die unverheiratete Frau die hungernde Muttersehnsucht eingestehen, die sie vor einigen Jahrzehnten wie eine Schmach verbarg.
Jede wache Seele begreift, dass das Zeitbewusstsein mit neuer Innigkeit die Geschlechtsaufgabe umfasst, obgleich es Jahrhunderte dauern wird, bis man zu beweisen vermag, was die freie Auswahl der Liebe für die Entstehung von Wesen bedeutet hat, die über das Mass der jetzigen Menschheit hinausragen.
Auch die Bekenner des Lebensglaubens richten noch Warnungen gegen die persönlich auswählende, alle anderen ausschliessende, andere frühere Bande lösende Liebe. Evolutionisten erkennen so, dass dieses Gefühl allerdings dem einzelnen die höchstmögliche Kraftentwicklung, die reichste Fülle des Lebens gibt und dass dies mittelbar und mannigfach dem Ganzen zu gute kommt. Aber sie betonen zugleich, dass die Liebe oft selbst diese gesteigerten Kräfte verbraucht; dass sie darum nur eine kurze Zeit des Menschenlebens in Anspruch nehmen soll und ihr keine entscheidende Bedeutung für dessen Gestaltung zugesprochen werden darf, weil dies auf Kosten des neuen Geschlechtes geschehen würde. Besonders wenden sie gegen die Liebe ein, dass so wie das Klosterleben und das Zölibat der Priester im Mittelalter und noch immer der Menschheit das Erbe vortrefflicher Eigenschaften entziehen – da oft die am reichsten Begabten die Ruhe des Klosters oder den Beruf des Priesters erwählen – auch jetzt viele der Besten durch den Traum oder den Verlust des grossen Liebesglückes von der Ehe abgehalten werden.
Und schliesslich hat man aus dem Gesichtspunkt der evolutionären Ethik nicht nur den alle anderen ausschliessenden Willen der grossen Liebe, sondern auch die monogamische Ehe angegriffen.
Anmerkung: »Die angeborenen Anlagen bei einem Kinde«, schreibt Professor Ehrenfels in einem Briefe, »sind für die Menschheit wichtiger als seine Erziehung. Für diese letztere – sowie für das Glück der Eltern selbst – ist die Liebesharmonie der Gatten wichtig. Für die Anlagen hingegen ist es von höchster Bedeutung, dass beide Eltern physisch und psychisch gut ausgerüstet sind, denn selbst wenn sie einander verabscheuen sollten, erhält das Kind dessenungeachtet gute Anlagen, obgleich natürlich die Erziehung durch uneinige Eltern dann den Anlagen entgegenwirkt. Vielleicht wird es als bedeutungsvoll für die Anlagen bewiesen werden können, dass das Kind in leidenschaftlicher Liebe gezeugt wurde. Wahrscheinlich ist es, dass die individuelle Liebe – die »ich schon bei den Tieren zeigt – irgend einen unergründeten Vorteil birgt, da sie, obgleich ein Hindernis für die Fortpflanzung, doch im Kampfe ums Dasein entstehen und sich erhalten konnte – was nicht möglich gewesen wäre, wenn der Vorteil nicht den Nachteil übertreffen würde. Aber was man schon jetzt weiss, ist: dass die Entwicklung der Menschheit davon abhängt, dass die psychophysisch gesündesten, stärksten und höchst begabten sich weiter fortpflanzen, während hingegen die schlecht ausgerüsteten – durch Auslese, eigenen freien Willen und Gesetz – immer mehr von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden. Aber da der Prozentsatz der für die Fortpflanzung ungeeigneten Männer noch viel grösser ist als bei den Frauen, und es auch noch lange verbleiben wird, verlangt sowohl die Vermehrung der Menschheit der Anzahl nach sowie ihre Wertsteigerung, dass – während einer jetzt der Dauer nach nicht bestimmbaren Übergangsperiode – die monogamische Ehe nicht als höchste sittliche Form des Geschlechtsverhältnisses aufrechterhalten werde. Für die persönlichen Wünsche der Frau wird die Monogamie immer das Ideal sein, weil sie in dieser Form ihr Leben als Geschlechtswesen voll ausleben kann. Aber dasselbe ist nicht beim Manne der Fall. Dieser ist von der Natur geschaffen, mit seinesgleichen nicht um eine einzige, sondern um mehrere Frauen zu kämpfen. Und für die Entwicklung der Menschheit ist es wichtig, dass die Frau einzusehen beginnt, dass eine Niedrigkeit darin liegt, sich in der monogamischen Ehe mit einem aus dem Gesichtspunkt der Nachkommenschaft schlechten Manne zu begnügen, sowie dass es selbstsüchtig ist, durch die monogamische Ehe einen aus diesem Gesichtspunkt vortrefflichen Mann für sich allein zu behalten. In beiden Fällen wird der Menschheit ihr Recht auf das beste Blut geraubt. Nur mit einem mittelmässigen Manne ist die Monogamie sittlich. Der vortreffliche Mann verfehlt seine Bestimmung als Geschlechtswesen, wenn er nur eine Frau zur Mutter macht, wie gut und schön diese eine Frau auch sein mag. Ein solcher Mann gehört vielen Frauen, unter der Voraussetzung, dass er sie zu Müttern des kommenden Geschlechtes macht. Man wird möglicherweise einmal beweisen, dass die Gatten, die einander lieben, bessere Kinder haben, als die, welche sich nicht lieben. Aber man wird nicht beweisen können, dass die Männer und Frauen, die für die Monogamie taugen, darum die besten Kinder haben. Dies würde nämlich zeigen, dass die Liebe zwischen einem Manne und einer Frau nur dann echt wäre, wenn sie sie zur Monogamie bestimmt. Aber dieser Satz widerstreitet bis auf weiteres aller Erfahrung.« Der hier angeführte Brief von Professor Ehrenfels war an mich als eine allzu rücksichtslose Verkünderin der Einheit der Liebe gerichtet; und zur Vervollständigung dessen, was mein eigener Standpunkt an Einseitigkeit haben mag, habe ich seine Anschauung der Frage dargelegt. Mit Hinblick auf die Art, wie die Diskussion über diese Themen geführt wird, mag erwähnt werden, dass Professor Ehrenfels nicht nur ein bekannter Gelehrter, sondern auch glücklich verheiratet und Familienvater ist, und dass es folglich keine persönlichen Argumente sind, die er vorbringt.
Dieser rein wissenschaftliche Gedankengang hat noch nicht bewusst an dem Teil, was man die Äusserungen der neuen Unsittlichkeit nennt, um so weniger, als der wissenschaftliche Gedankengang stark betont, dass – wenn die Menschheit dahin kommen sollte, die monogamische Ehe aufzugeben, die so unerhörte Vorteile gebracht hat – dies zielbewusst geschehen müsste, um der Entwicklung des ganzen Menschengeschlechtes zu dienen, nicht einzelnen Leidenschaften. Aber wenn dieser evolutionistische Gedankengang recht behält, dann wird er die Auffassung, die die Gesellschaft von der Wahlfreiheit der Liebe hat, sowohl in dem Sinne einer Erweiterung wie in dem einer Begrenzung umwandeln. Viel von dem, was man jetzt die neue Unsittlichkeit nennt, dürfte dann als die unbewusste Selbstverteidigung der Menschheit gegen eine durch Gesellschaftssitten und Gesellschaftsordnung aufgezwungene Verschlechterung erscheinen, während andere Ausdrucksformen der Unsittlichkeit wie der Sittlichkeit von heute unbedingt verworfen werden dürften.
Gegen die Zukunftsforderungen des Evolutionismus erhebt sich jedoch die Überzeugung, dass die grosse Schöpfung der Kultur, die persönliche Liebe, nicht aus dem Dasein verschwinden wird. Und damit ist die Gefahr der Polygamie beseitigt.
Es muss also auch weiter die Auswahl der Liebe sein, die solche so zu sagen »ethische Ehebrüche« veranlassen wird, aber eine vom Artveredlungsgesichtspunkt beeinflusste Liebe. Noch hat man kaum angefangen, die Forderungen der Evolution nach dieser Richtung einzusehen, noch weniger konnten sie schon umbildend auf die sittliche Anschauung wirken, die vielleicht auf diesem Gebiete einmal Platos Satz zur Anwendung bringen wird: dass das Nützliche das Passende ist, das Schädliche das Schmachvolle. Wo gute Gründe dafür sprechen, die Ehe nach aussen hin nicht zu lösen, z. B. der Wunsch, einem Manne oder einer Frau auch fernerhin Krankenpflege angedeihen zu lassen, oder ihnen die geistige Hilfe zu bringen, deren sie bedürfen, dürfte man vielleicht in Zukunft das Recht anerkennen, das schon jetzt einzelne Frauen und Männer sich selbst zugesprochen haben, das Recht, durch eine andere Frau Vater, durch einen anderen Mann Mutter zu werden, wenn sie selbst die besten Elternmöglichkeiten besitzen, aber des Elternglücks beraubt sind, weil dem Gatten oder der Gattin diese Möglichkeiten fehlen.
Anmerkung: Helene Böhlau hat in einer Novelle »Muttersehnsucht« (Sommerbuch) ein solches Problem behandelt. Der Ausspruch, dass ein Ehebruch aus dem Gesichtspunkt der Geschlechtsveredlung als ethisch angesehen werden könne, muss mit den Ausführungen in dem Aufsatze »Freie Scheidung« zusammengestellt werden, wo darauf hingewiesen wird, dass solche Fälle Ausnahmen bleiben müssen, während die Entwicklungslinie die ist, dass die Scheidung frei wird.
Schon jetzt fängt man ja an, die seelische Berechtigung der sich häufig wiederholenden Erfahrung einzusehen, dass ein Mann – zuweilen auch eine Frau – in verschiedener Weise gleichzeitig mehr als einem angehören kann, weil ihnen die grosse, einheitliche, ihr ganzes Wesen für immer ausfüllende Liebe nicht beschieden ward. Schon jetzt werden solche Konflikte zuweilen – es gibt europäisch bekannte Beispiele dafür – auf eine neue Weise gelöst. Nicht so wie Luther ihn für Philipp von Hessen löste, der die Frau behielt, die ihm gerade ein neuntes Kind gebar, während er sich insgeheim mit einer neuen vermählte! Sondern so, wie Goethe zuerst beabsichtigte, den Knoten in Stella zu lösen: dass die Frau ohne offenen Bruch zurücktritt; dass die Zuneigung, die Macht der Erinnerungen, die sie und den Mann verbindet, noch immer ein zeitweiliges freundschaftliches Zusammensein unter gemeinsamen Sorgen für ihre Kinder ermöglicht, obgleich der Mann einen neuen Ehebund mit einem anderen Weibe geschlossen hat; oder so wie der Konflikt anfangs des 19. Jahrhunderts von zwei schwedischen Edelleuten gelöst wurde: dass der Mann, von dem die Frau sich scheiden liess, um seinen Freund zu heiraten, täglicher Gast im neuen Heim war. Die Frau bewahrte die Liebe der beiden Männer und diese ihre Freundschaft bis zum Todestage.
Aus dem Gesichtspunkt der Kinder dürfte eine solche Lösung in Zukunft als wünschenswerter – und achtungswerter – angesehen werden, als sie jetzt erscheint.