Die Forderungen der neuen geschlechtlichen Sittlichkeit zeigen eigentümliche Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten mit denen, die die Ritterzeit auf diesem Gebiete aufstellte. Die Liebesgerichte setzten beispielsweise fest, dass Ehe und Liebe einander ausschliessen. Der Persönlichkeitsbegriff hat hingegen einen Willen zur Einheitlichkeit mit sich gebracht, der es undenkbar erscheinen lässt, in einer Ehe zu leben, ohne dass die Sehnsucht der Seele und die der Sinne der Gatten aufeinander gerichtet sind. Die Ritterzeit liess das kommende Geschlecht ausserhalb des Bereichs der Liebe. Die Hoffnung der Gegenwart ist es hinwiederum, durch die Liebe die neue Generation ebenso zu vervollkommnen wie die Liebenden selbst.

Auch die neue Sittlichkeit gesteht den vielen, die noch nicht einmal fähig waren, von persönlicher Liebe zu träumen, das Recht zu, eine Ehe zu schliessen, die ihrem armen Dasein wenigstens den Inhalt der Elternfreude und des Heimatsgefühls geben kann. Aber sie wird streng gegen jene sein, die, obwohl sie die Liebe erfahren oder geahnt haben, ohne sie eine Ehe schliessen, die dann sicherlich noch andere Leben ausser ihrem eigenen verringern, vielleicht zerstören wird. Die Weisheit kann fordern, dass das Urteil in gewissen einzelnen Fällen milde sei, denn die Mehrzahl der Menschen lernt spät oder nie ihr eigenes Herz kennen. Als leitender sittlicher Grundsatz hingegen muss die Einheit der Ehe und der Liebe unerschütterlich festgehalten werden. Durch seine idealbildende Macht, seine dadurch immer gesteigerte Glücksforderung hat der Mensch die Triebe zu geistigen Bedürfnissen vertieft, und dieselbe idealbildende Macht zieht nun rücksichtslos die äusseren Stützen der geschlechtlichen Sittlichheit fort und ersetzt sie durch die des Einheitsbegriffs. Dass dadurch Lahme und Hinkende ihrer Krücken beraubt werden, kann den nicht irre machen, der an den Lahmen und Hinkenden vorbei auf die schöneren und gesunderen Menschen der Zukunft blickt.

Der Einheitsgedanke schliesst allerdings das Recht jedes Menschen ein, sein Geschlechtsleben seinen persönlichen Forderungen gemäss zu gestalten, aber nur wenn er damit nicht bewusst die Einheit und dadurch mittelbar oder unmittelbar das Recht der Wesen verletzt, denen seine Liebe das Leben schenken kann. Die Liebe wird so immer mehr eine Privatsache des Menschen, die Kinder hingegen immer mehr eine Lebensfrage der Gesellschaft, und daraus folgt, dass die beiden niedrigsten und gesellschaftlich sanktionierten Äusserungen der geschlechtlichen Zersplitterung (des Dualismus), die Zwangsehe und die Prostitution, allmählich unmöglich werden, weil sie nach dem Siege des Einheitsgedankens den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr entsprechen werden.

Zwangsehe ist das, was nicht nur die Sittlichkeit des Zusammenlebens und das Recht der Kinder von der Form dieses Zusammenlebens abhängig macht, sondern auch die Möglichkeit der Trennung für den einen Teil von dem Willen des anderen. Prostitution ist aller Handel mit seinem Geschlecht, möge der Handel von Frauen oder von Männern betrieben werden, die sich aus Not oder Lust ausserhalb der Ehe und durch sie verkaufen. Beides geschieht in gröberer und in feinerer Form. Es gibt eine Rangskala für die Ehe ohne Liebe wie für die »Liebe« ohne Liebe. Der Abstand zwischen beispielsweise der Kameliendame oder Raskolnikows Sonja auf der einen Seite und einem wilden Tier des Rinnsteins auf der anderen ist gross. So auch zwischen einer Frau, die aus Mütterlichkeitssehnsucht, und einer, die aus Luxusverlangen eine Ehe eingeht; zwischen einem Manne, der eine Arbeitskameradin, und einem, der eine Trösterin für seine Gläubiger sucht. Aber ob man sich nun mit einem Teile seiner Person von Hunger oder Schulden, Einsamkeit oder Verlangen loskauft, welchen an und für sich hohen Wert man auch gewinnen mag, so bleibt doch der Handel für Käufer wie für Verkäufer aus dem Gesichtspunkt der einheitsbestimmten geschlechtlichen Sittlichkeit eine Erniedrigung.

Die Entwicklung des erotischen Persönlichkeitsbewusstseins wird nun in ebenso hohem Grade durch die von der Gesellschaft geregelte »Sittlichkeit« wie durch die von der Gesellschaft reglementierte »Unsittlichkeit« gehindert. Sowohl wenn es gilt, die erstere aufrechtzuerhalten, wie wenn es sich darum handelt, die letztere zu entschuldigen, bekommt man zu hören, dass der Idealismus sich »den Forderungen des wirklichen Lebens« fügen müsse. Dieselben Menschen, die mit Recht die Auflösung der Gesellschaft befürchten würden, wenn man als »die Forderungen des wirklichen Lebens« das Recht aller Hungernden zu stehlen verkündete, halten sich für lebensklug, wenn sie, auf einem unendlich bedeutungsvolleren Gebiete als dem des Eigentums, die Notwendigkeit des Diebstahls – in der Form der Prostitution – verkünden.

Das wirkliche Leben hat allerdings Forderungen. In dem einen Falle die, dass alle nach Nahrung Hungernden Arbeit erhalten müssen, und zwar so entlohnt, dass sie essen können. In dem anderen, dass alle Geschlechtsreifen die Möglichkeit erhalten, zur rechten Zeit eine Ehe zu schliessen. Aber die Umwandlungen, die sich vollziehen müssen, damit das geschehen kann, werden so lange ausbleiben, wie die Gesellschaft – in der Annahme, dass die Prostitution ein notwendiges Übel sei – ihre Folgen überwacht und sich so selbst in den Irrwahn wiegt, dass ihre Gefahren verhütet werden können. Denn damit kauft man sich davon los, nach den Auswegen zu suchen, die besser die beiden Grundbedürfnisse – Liebe und Hunger – befriedigen könnten, zu deren Stillung die Prostitution jetzt für viele Männer und Frauen der einzige Ausweg ist.

Aber diese Umwandlungen werden auch ausbleiben, so lange die Gesellschaft – in der Annahme, dass die Trauung ein notwendiger Segen ist – an ihr als einem Sittlichkeitspostulat des Geschlechtsverhältnisses festhält.

Denn die Trauung verleitet mittelbar wie die Prostitution unmittelbar zu Verbrechen gegen die ungeborene Generation, Verbrechen, mit denen verglichen Raub und Mord an den Lebenden Harmlosigkeiten sind!

An diesem Zustand der Dinge machen sich auch die Sittlichkeitsverkünder mitschuldig, die sich weismachen, dass nur die immer strenger aufrechterhaltene Forderung der Monogamie das Heilmittel des Übels sei. Sie fürchten alle Betonung des Inhaltsreichtums des Lebens, des Glückstraums, der Lebensberauschung. Sie predigen nur Pflichtgefühl und Verantwortung für die eigene Seele und gegen die Gesellschaft. Aber – das ist beständig von den ersten Zeiten des Christentums an gepredigt worden, ohne dass die geschlechtliche Sittlichkeit sich im grossen Ganzen gehoben hat! Das gibt zu denken. Umsomehr, wenn diese Furcht vor der Liebe bis zu Tolstois – oder richtiger des Morgenlandes – Abscheu vor der Sinnlichkeit getrieben wird; wenn man die Ehe nur als ein gefährliches Palliativ gegen eine erbliche Krankheit betrachtet, die am besten so überwunden werden soll, dass das Heilmittel überflüssig wird!

Wenn die Vorgänge der Seele ebenso erforscht sein werden wie die der Erde, wird auch die Liebe ihre Kumatologie erhalten – das ist die Wissenschaft von den Wellen. Man wird den Wellengang des Gefühls durch die Zeiten verfolgen, seine auf- und absteigende Bewegung, die Gegenwirkungen und Seiteneinflüsse, von denen es bestimmt war. Eine solche steigende Welle ist in unserer Zeit der wachsende Abscheu der jungen Männer vor der gesellschaftsgeschützten Unsittlichkeit, ihre einheitliche Liebessehnsucht. Ein entgegenwirkender Einfluss ist hinwiederum die Abneigung einer Anzahl junger Frauen gegen die Liebe. Sie begnügen sich nicht damit wie die neuprotestantischen Geistlichen zu verlangen, dass die Sinnlichkeit geheiligt werden solle: sie wollen sie ertöten. Sie hassen nicht nur – und mit Recht – die von der Liebe losgelöste Begierde: sie setzen die Liebe selbst herab, auch wenn sie sich als Einheit der Seele und der Sinne darstellt. Die Ehe darf nach ihnen nur die höchste Form sympathischer Freundschaft sein und der Ausdruck eines auf die Entstehung und Erziehung der Kinder gerichteten Pflichtgefühls. Wenn die Ehe frei von sinnlichen Lustgefühlen und von persönlichen Glücksforderungen wird, wenn sie die Vereinigung zweier Freunde in der Pflicht und der Freude, ganz für die Kinder zu leben, ist – dann erst ist sie »sittlich« geworden!!

Die Liebe, als die Synthese der geistigen Sympathie und des Geschlechtslebens betrachtet, als die Lebensmacht, durch die das Dasein des Menschen vergrössert und verschönert werden kann, erscheint ihnen wertlos. Und bedeutungslos erscheint ihnen der Gedanke eines Unterschiedes zwischen der Natur des Weibes und der des Mannes. Sie verlangen von beiden vollkommene Enthaltsamkeit ausserhalb der Ehe; und innerhalb derselben gestehen sie nur einige wenige Ausnahmen zu, die die noch unvollkommene Einrichtung der Natur zur Fortpflanzung der Gattung notwendig gemacht hat. Sie hoffen, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaften Chemie und Biologie die Menschen von ihrer Erniedrigung durch die Liebe befreien werden, so wie Verner von Heidenstam von dem »Esspulver« die Befreiung von der Erniedrigung durch den Hunger erhofft. Möglicherweise behalten beide Recht. Aber mit diesen Möglichkeiten haben die Menschen des 20. Jahrhunderts nichts zu schaffen. Was wir jetzt zunächst brauchen, ist mehr Liebe – und mehr Nahrung – nicht weniger!

Es ist darum nicht wahrscheinlich, dass die eben beschriebene Linie die ist, auf der die Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit sich weiter bewegen wird. Denn in immer mehr Menschen ist schon jetzt eine gesteigerte erotische Forderung, die das eben erwähnte Reinheitsideal zurückweist. Kein Gedanke an das Ziel kann für sie ein Mittel heiligen, das ihnen ohne Liebe unschön erscheint.

Die aus Pflichtgefühl entstandenen Kinder dürften ausserdem einer Anzahl wesentlicher Lebensbedingungen beraubt sein. Unter anderem der, in ihren Eltern die lebensvollen, glückausstrahlenden Persönlichkeiten zu finden, die die besten geistigen Lebensmittel der Kinder werden – wozu noch der Gesichtspunkt kommt, dass Eltern, »die nur für ihre Kinder leben«, eine schlechte Gesellschaft für diese sind!

Das hier angedeutete Sittlichkeitsprogramm ist erklärlich aus einem berechtigten Hass gegen die gesellschaftsgeschützte Unsittlichkeit und aus einer – teilweise – berechtigten Empörung gegen die das Kind verhütende Liebe. Aber diese Lösung des tiefsten Konflikts der Liebe – zwischen den Forderungen des einzelnen und denen des kommenden Geschlechts – verletzt ebenso sehr den Willen der Natur wie die Grundlagen der Kultur. Unabhängig von beiden glauben diese Eiferer die weisse Welt der Reinheit erreichen zu können, die in den Leiden durch die Unreinheit und Erbärmlichkeit, mit denen das Geschlechtsverhältnis jetzt noch das Dasein erfüllt, ihren Sinn lockt. Sie vergessen, dass oberhalb der Schneegrenze nur die dürftigsten Formen des Lebens gedeihen. Aber die menschliche Entwicklung steuert einer immer reicheren und kräftigeren Formenbildung zu. Und nicht nur im geschlechtlichen Leben, nein, auf jedem Gebiet des Schaffens ist die Sinnlichkeit das nährende und tragende Erdreich, vor allem die erotische Sinnlichkeit. Jeder Versuch, Sittlichkeit von Sinnlichkeit zu scheiden, wird die Entwicklung nicht steigern, sondern sie nur verzögern, da die Umpflanzung des Geschlechtsgefühls in ein anderes Erdreich als das der Sinnlichkeit unter unseren tellurischen Bedingungen bis auf weiteres eine Unmöglichkeit ist!

Die auf Unsinnlichkeit – oder Übersinnlichkeit – abzielende Reinheitsforderung kann vielleicht gegen kleine Gefahren Schutz bieten. Bei grossen wird sie bedeutungslos sein wie ein Zaun gegen einen Waldbrand. Keine Lusthemmung, nur die Ableitung der Lust in andere Bahnen reinigt sie wirklich. Nur durch stärkere Leidenschaften werden Leidenschaften gezügelt. In der Lust und der Leidenschaft, in der die Gefahr liegt, im Liebestrieb selbst, hat man den richtigen Ausgangspunkt zu seiner Veredlung. Derjenige, für den die Ertötung des Triebs zum leidenschaftlichen Verlangen wird, kann durch diese Leidenschaft die Aussicht haben, sein lebensfeindliches Ziel zu erreichen. Wer hingegen den Geschlechtstrieb nicht ertöten, sondern nur beherrschen will, wird in seinem Kampfe gegen die – durch Erblichkeit und gesellschaftliche Sitte noch unmässig aufgestachelte – Begierde nur dann ein starker, stolzer Sieger sein, wenn er von der Einheit der Liebe träumt und sie schliesslich erfährt. Gewiss gibt es auch sekundäre Hilfsmittel. Vor allem das, schon mit dem elterlichen Blute den Instinkt der Keuschheit erhalten zu haben; von Kindheit auf gegen die Gefahren der Härte wie der Weichlichkeit geschützt zu sein; eine feinfühlige und fromme Erklärung des grossen Ziels und der grossen Verlockungen der geschlechtlichen Bestimmung zu empfangen; durch die allgemeine Meinung den Eindruck der Möglichkeit der Selbstbeherrschung und ihrer Bedeutung für das Glück des einzelnen und der kommenden Generation zu erhalten; den Missbrauch aller Art von Genussmitteln zu vermeiden, besonders berauschender Getränke, die unmittelbar wie mittelbar die Widerstandskraft des Willens auf dem geschlechtlichen wie auf jedem anderen Gebiete der Versuchung schwächen. Es ist fraglos, dass edle Leibesübungen, Tanz und Spiel – und edel sind sie nur, wenn man sie schön und würdig mit der Seele sowohl wie mit dem Körper betreibt – ein Mittel sind, den Geschlechtstrieb umzuwandeln und ihn zu beherrschen. Ebenso gewiss ist die körperliche und geistige Arbeit für eigene Rechnung sowie die Teilnahme an irgend einer Form gemeinnütziger Bestrebungen bedeutungsvoll, weil sie die erotischen Kräfte in umgesetzter Form in Anspruch nimmt und verbraucht. Aller echte Kunstgenuss ist im höchsten Grade wichtig für die Veredlung des Geschlechtslebens, nicht zum wenigsten, weil er den Menschen vor das »nackt Echte und unverhüllt Wahre« stellt (Fröding), das die Sitten im Leben noch nicht gestatten, das aber einmal eines der besten Erziehungsmittel zur geschlechtlichen Sittlichkeit werden wird, nur noch übertroffen von den Schilderungen der grossen Dichtung von der Liebe. Aber all diese Selbstzucht, all diese Hilfsmittel aus der Welt der Schönheit und der Arbeit, diese ganze körperliche Ausbildung zur Stärke und Gesundheit sind Linien ohne Zielpunkt, solange sie nicht alle zur Liebe führen – zur Liebe, die gewisse Sittlichkeitsverkünder, als ebenfalls eine Gefahr und eine Versuchung, ganz aus dem Spiele lassen wollen! Niemand wird leugnen, dass gesunde Lebensgewohnheiten und strenge Beherrschung hebend für den einzelnen werden können, auch wenn die Liebe in seinem Leben keine Bedeutung erlangt. Aber das Leben in seiner Gesamtheit gewinnt nichts durch die Hervorbringung gehärteter oder verheerter Asketentypen, die durch körperermattenden Sport, phantasievertrocknende Lektüre und nacktheitverhüllende Kunst es zustande gebracht haben, die Sinnlichkeit einzuschläfern, die dann vielleicht doch eines Tages jäh erwacht. An diesen bärbeissigen Hofwächtern ihrer »höheren« Natur hat das Leben ebensowenig Freude, wie sie selbst am Leben. Wir haben nicht viel gewonnen, wenn wir eine Jugend bekommen, die die geschlechtliche Enthaltsamkeit auf Kosten anderer für das Menschengeschlecht ebenso notwendiger Eigenschaften erreicht. Eine Jugend mit breiten Scheuklappen, die Freude der Sinne, das Spiel der Lebenslust, die Regsamkeit der Phantasie scheuend, eine Jugend ohne allen geistigen Wagemut – eine solche Jugend ist bei all ihrer »Reinheit« ein toter Lebenswert!

Diejenigen hingegen, die die reichen Inspirationen des Geschlechtslebens bewahren, aber beherrschen, werden – auch wenn die Beherrschung nicht immer vollständig gewesen ist – von unendlich grösserem Werte für das Leben sein.

Das vom Christentum genährte Vorurteil, dass die geschlechtliche Reinheit an und für sich ein so grosser Lebenswert ist, dass er das Opfer aller anderen aufwiegt – dieses Vorurteil muss überwunden werden. Ein Mensch ist durch seine geschlechtliche Reinheit nur in dem Masse bedeutungsvoll, als er dadurch mehr geeignet wird, für sich selbst und das kommende Geschlecht den Sinn des Lebens zu erfüllen: nämlich ein immer höheres Leben zu leben! Seine Reinheit wird zu teuer bezahlt, wenn sie ihm selbst und in ihm der Menschheit unersetzliche Verluste an Lebenslust, Lebensmut und Lebenskraft zufügt.

Und bis auf weiteres – bis Ehe und Erziehung durch mehrere Generationen die jetzige Natur der Menschen, besonders der Männer umgewandelt haben – wird die Reinheitsforderung nicht ohne solche Verluste durchgeführt werden können, wenn nämlich diese Forderung die neuprotestantische oder gar die Tolstoische Formulierung enthält.

Anmerkung: Man sehe Tolstoi, besonders »Die Kreutzersonate« und »Die sexuelle Frage«.

Die Asketen, die gegen die Übermacht des Geschlechtstriebs nur die Beherrschung anempfehlen – auch wenn diese bloss lebenshemmend wirkt – gleichen dem Arzte, der nur darnach strebte, dass das Fieber von dem Kranken weiche: dass dieser an der Kur starb, war ihm gleichgültig!

Aber diese Asketen können auf zwei verschiedenen Wegen zu ihrem Fanatismus gekommen sein. Die eine Gruppe, – die die meisten weiblichen Asketen umfasst – hassen Eros, weil er ihnen niemals Huld bewiesen hat. Die andere Gruppe – die die meisten männlichen Asketen einschliesst – fluchen ihm, weil er ihnen niemals Ruhe lässt! Die Reinheitstollen und die Genusswütigen begegnen sich jedoch in ihrem Misstrauen gegen die Entwicklungsmöglichkeiten der Liebe. Die Liebe ist für sie Begierde und nur dies; kommt die Seele hinzu, so ist es Freundschaft und nur dies. Sie haben niemals eine Liebe erfahren, die in des Wortes allumfassendem Sinne schaffend war. Die Unfruchtbarkeit – die der Seele oder die des Körpers oder beider – ist das Kennzeichen der einzigen Liebe, welche diese beiden Gruppen kennen. Die Sklaven der Erotik sind vortrefflich durch das Geständnis eines Weltmanns charakterisiert, dass er »mindestens zwanzig Frauen leidenschaftlich begehrt habe, die ihm alle persönlich vollkommen gleichgültig waren«.

Anmerkung: Lord Chesterfield.

Sie wissen nichts von dem Willen der Seele zu einem einzigen, unter unzähligen erwählten Wesen, einem Willen, dem – wenn er tief bestimmt ist – auch der Wille dieses anderen begegnet. Sie wissen nicht, dass die Wahlverwandtschaft der Sympathie den einen aus den Augen des anderen eine alles überwindende, alles befreiende Macht schöpfen lässt. Denn selbst empfinden sie durch die Gewalt der Begierde nur Ohnmacht und Erniedrigung ihres höheren Wesens. Ein im übrigen seelenvoller Mann kann sich durch die Erotik so machtberaubt fühlen, dass er bald allen Frauen den Tod wünscht, um so aus seiner Sklaverei erlöst zu sein; bald wünscht er ihnen, wie Caligula den Römern, einen einzigen Hals – aber nicht, um ihn abzuhauen! Der Hass dieser Männer gegen die Erotik ist der Hass des Wilden gegen die grausamen Götter, von denen er sich abhängig glaubt und die mit seinem Schicksal spielen. Und nichts ist gewisser, als dass die Liebe, so aufgefasst, die Menschen niedrig und lächerlich macht. Auch wer aus seiner innersten Seele die Tragödie liebt und die Farce hasst, wird unter der Attraktion dieser Liebe zwischen beiden stecken bleiben und aus seinem Leben eine – Tragikomödie machen. Denn um zu der wahren tragischen Grösse zu gelangen, muss der Mensch sich rücksichtslos von dem Grössten in seiner Natur, seinem eigensten innersten Ich leiten lassen und daran untergehen. Aber das tragische Schicksal streift auch Menschen gegen deren innersten Willen, und dann entsteht die eben erwähnte unreine Form des Tragischen. Männer und Frauen, die in der Liebelei nur neue Anreize gesucht haben, treffen so schliesslich einen Menschen, der die Liebe nicht in dieser Weise auffasst und dem Spiel für immer ein Ende macht. Oder es widerfährt ihnen, dass sie selbst von einem grossen Gefühle ergriffen werden, aber ihre Vergangenheit vernichtet ihre Hoffnung, in einem heiligen Hain die Gottheit anbeten zu können, der sie bis dahin nur Papierlaternen im Marktgewühl entzündet haben. In den meisten Fällen nimmt die Tragikomödie dieselbe Form wie für den Trinker an, dass nämlich die Befriedigung immer unmöglicher wird; dass der Unmässige sich genötigt sieht, zu immer gröberen Mitteln zu greifen, um nur einigermassen das Begehren zu stillen; die Berauschungen immer häufiger zu machen, während der Festesglanz immer geringer wird. Der diesen Berauschungen Anheimgefallene wird allmählich ebenso willenlos, herzlos, haltlos, gewissenlos wie der Alkoholiker, ebenso unfähig zur Auswahl und Schätzung auf dem Gebiete seines Verlangens. Die herrlichste Frauenliebe wird ihn schliesslich ebenso unempfindlich lassen, wie den Trinker der flüssige Topas des Rheinweins, sein Sonnenduft, seine Taukühle. »Die Freiheit der Liebe« wird für ihn schliesslich nur das Freisein von Verantwortung, von Rücksicht, von Gefahr, von Kosten bedeuten. Im Vergleich mit dieser Art »freier Liebe« ist die Prostitution allerdings gesundheitsgefährlicher, aber viel weniger persönlichkeitzerstörend. Die Prostitution verringert die Persönlichkeit durch eine Zersplitterung, die die Seele aus dem Spiele lässt. Aber sie verbraucht die Persönlichkeit nicht wie die »Liebe«, die das Papiergeld ist, mit dem der Mann nicht feile Frauen kauft. Erwarten sie, dass er die Banknote in Gold einlöst, dann sind sie in grossem Irrtum. Die Liebe kann nach seiner Meinung keinen Goldwert besitzen: sie ist immer ein falsches Wertpapier, durch das die Natur die Mitwirkung des Menschen – besonders der Frau – zu ihrem Ziele erreicht.

Diese Liebe kennt nur die Luft in den Alkoven, wo sie ihre gekaufte oder gestohlene Lust gesucht hat. Die Luft der Weiten hat sie nie geatmet, die Luft, die von Sonne zittert und in Stürmen bebt; die Luft, durch die alle Sehnsucht des Lebens nach Erneuerung braust, die ganze Ewigkeitsahnung des Glückbegehrens, die Generation über Generation hinaushebt, unbekannten Zielen zu. Eine Luft, die die Kräfte ins Unermessliche steigert und sie ins Unendliche aufsaugt; die Luft über den Weiten, wo noch Wildheit und Wahnwitz keuchen, wo Mann und Weib ihre ewigen Kämpfe kämpfen und ihre ewigen Qualen leiden, Qualen, von denen schon Lukrez wusste, dass der Dualismus ihre Quelle ist.

Aber dass nur die Einheit diese Quelle versiegen machen kann – das wusste keine Zeit vor der unseren.

In der Literatur steigt bald aus den Alkoven, bald aus diesen Weiten die Klage über die Gewalt des Geschlechtstriebs auf.

Anmerkung: Tolstoi, Maupassant, Gunnar Heiberg, Strindberg, Heidenstam u. a.

Aber in den Sittlichkeitsschriften findet man selten auch nur eine Ahnung von dem Wildnisgebiete des Menschenlebens. Sie zeigen ihre Unwissenheit durch die Grenzenlosigkeit ihrer Beschränktheit, einer Beschränktheit, die die umfassendste Frage der Menschheit zwischen dem – Gymnastik- und dem Doucheapparat einschliessen will! Für diese kleinliche Auffassung offenbart sich die Unsittlichkeit in der »freien Liebe« ebenso wie in der käuflichen. Sie ahnen nicht, dass die freie Liebe ebenso wie die Ehe viele Grade der Sittlichkeit und Unsittlichkeit einschliesst, über den ethischen Nullpunkt, auf dem die freien Verbindungen und die Ehen der Mehrzahl sich befinden, steigend oder darunter sinkend.

Zwischen der freien oder legitimen Liebe, die grausam, rachsüchtig, mörderisch wird, und der Liebe, die wohl das eigene Leben opfern kann, nie aber das des Geliebten, ist der Abstand gross. Die sogenannten »crimes passionels« erfordern dieselbe Milde, die man den Diebstählen aus Hunger beweist – da beide Arten von Verbrechen den stärksten Lebenstrieben entspringen. Aber aus dem Gesichtspunkt der Lebenssteigerung ist doch ein grosser Unterschied zwischen der freien – oder legitimen – Liebe, die hingebend, mutig, opferwillig, treu ist, und der, die alle die vornehmsten Eigenschaften des Menschen ungebraucht lässt. In gleicher Weise ist der Unterschied gross zwischen den unfruchtbaren erotischen »Erlebnissen« der armseligen Eitelkeit, des elenden Hungers nach »Sensationen«, und der Leidenschaft, durch die ein Mensch zu neuer Schaffenskraft auflebt. Das Verhalten zu dem Sturm der Leidenschaft ist in dem einen Falle das des Wimpels, im anderen das des Segels.

Die Art des Künstlerblutes äussert sich oft als Forderung erotischer Erneuerung. Aber während der eine dadurch seine Stärke und Gesundheit steigert, wird der andere immer ärmer und hässlicher. Goethe war einer der ersteren, George Sand ebenso. Diese Art Naturen besitzen eine unerschöpfliche Wiederherstellungskraft. Sie können mehrere Male lieben, ohne erotisch verringert zu werden. Ihre Seelen können wie die vulkanischen Wiesen des Südens drei Ernten tragen, ohne erschöpft zu werden. Aber das geistige Erdreich und das Klima der Menschen ist im allgemeinen nicht so beschaffen. Und selbst solche olympische Götter und Göttinnen ahnen, dass die Liebe für sie ein verschlossenes Geheimnis birgt. Goethe, der das Schicksal anflehte, in einem anderen Dasein nur einmal lieben zu müssen, dürfte weniger von der Liebe gewusst haben als Dante, dem die wunderbare Vision vergönnt war, die von den wunderbaren Worten gezeichnet wird

Vede il cuor tuo ...

George Sand, die die Götter um die Flamme der grossen Liebe anruft, war nie so von derselben durchglüht wie ihre Schwester in Apoll, die ihr Mitgefühl mit ihr in den vollendeten Strophen aussprach, die so beginnen:

Thou largebrained woman and largehearted man ...

Aber die grosse Liebe wie das grosse Genie kann niemals Pflicht werden: beide sind ein Gnadengeschenk des Lebens für seine Auserkorenen. Für den, der mehr als einmal liebt, kann es keinen anderen sittlichen Massstab geben, als für den, der nur einmal liebt: den Massstab der Lebenssteigerung. Wer durch eine neue Liebe versiegte Quellen singen, den Saft in kahle Zweige steigen, die schaffenden Kräfte des Lebens sich erneuen fühlt, wer dadurch fähiger zu Hochsinn und Wahrhaftigkeit, zu Milde und Edelmut wird, wer in seiner neuen Liebe nicht nur Berauschung, sondern auch Stärke findet, nicht nur Festesfreude, sondern auch Nahrung – der hat das Recht zu diesem Erlebnis. Diejenigen hingegen – und das ist die Mehrzahl – die durch jede neue Liebe ärmer an allgemeinmenschlichen Eigenschaften und persönlichem Machtgefühl werden, schlaffer im Willen, schlechter in Handlungen und Werken, diese haben aus dem Gesichtspunkte des Lebensglaubens nicht das Recht zu einer solchen Selbstverringerung. An ihren Früchten kann man die Liebe erkennen. Nichts ist wahrer, als dass es »keine lokale Demoralisation gibt«. Der Mensch, der in all seinem übrigen Handel und Wandel gesund und wahr ist; der in seinen Werken stark und gross verbleibt, der ist in den meisten Fällen auch geschlechtlich sittlich nach seinem Gewissen – auch wenn das nicht mit dem Monogamieglauben übereinstimmt. Wer hingegen in seinem übrigen Leben, in seinen Werken ein Schwindler und ein jämmerlicher Mensch ist, der ist es wahrscheinlich auch auf dem Gebiete der Erotik, mögen seine Sitten monogam oder polygam sein. Und es ist darum törichter, die übrige Sittlichkeit eines Menschen nach seiner Geschlechtsmoral zu beurteilen, als seine geschlechtliche Sittlichkeit nach seinem ethischen Standpunkt im übrigen. Auch dies gibt keinen unfehlbaren Massstab, denn es gibt Menschen, die die Höhe ihrer Natur in einer grossen Liebe erreichen, aber in ihrem übrigen Wesen dahinter zurückbleiben. Anderen gelingt es hingegen wieder nie, ihren erotischen Wandel auf die Höhe ihrer übrigen Persönlichkeit zu erheben. Aber der letztere Massstab ist doch, was die Feinheit des Ergebnisses betrifft, dem ersteren ebenso überlegen wie eine Medizinalwage einer alten Marktwage. Es dürfte oft vorkommen, dass die anderen Schöpfungen eines Menschen in gewissem Sinne grösser oder geringer sind als der Mensch selbst, aber seine Liebe ist hingegen in tausend Fällen gegen einen mit seinem innersten Selbst eins. So gross oder klein, so reich oder arm, so rein oder unrein er darin ist, wird man ihn auch in den anderen grossen Verhältnissen des Lebens finden. Von allen summarischen Kennzeichen eines Menschen wird darum keines sicherer sein, als dass man sagt, was er ist, wenn man sagt, wie er geliebt hat.

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