Obgleich also ein Bekenner des Lebensglaubens die Tolstoische Geschlechtsmoral als tief unsittlich ansieht, begreift er doch, dass sie einen reineren und einen weniger reinen Ursprung haben kann.

Das erstere ist der Fall bei dem, der so tief unter den Leidenschaften gelitten hat, dass er nun anderen um ihres Friedens willen rät, sie auszurotten. Auch bei denen, die in jenem ersten Frühling stehen, wo das Leben noch schlummert und die Natur scheinbar die Farben des Herbstes trägt.

Das letztere hingegen ist bei jenen der Fall, für die das ganze Leben zum Herbst würde, weil sie welk zur Welt kamen, bei jenen Frauen und Männern, die von Hass gegen die Bedingungen der Zeugung ergriffen wurden, weil sie den Lastern und Leidenschaften zum Opfer gefallen sind, die noch die Erotik zu der divina Commedia des Erdenlebens machen, aber nicht wie in der Dantes mit einer architektonischen Ordnung von Hölle, Fegefeuer und Himmel, die diesen eine bestimmte Folge in Raum und Zeit gibt, sondern zu einem Schauspiel, wo die drei Zustände ineinander stürzen wie brandende Wellen. Aber mögen die Hasser des Geschlechtslebens nun zu den Verlebten oder den Ausgeschlossenen, den Unfruchtbaren oder den Unreifen, den Vertrockneten oder den Vergifteten gehören, so können sie wohl persönlich Anspruch auf grössere oder geringere Milde haben, ihre Sittlichkeitsverkündung muss jedoch aus den angegebenen Gründen als wertlos verworfen werden.

Dasselbe gilt von jenen, welche das Geschlechtsproblem kurz und bündig durch die Forderung lösen, dass dem Individuum ohne Rücksicht auf das künftige Geschlecht unbedingte Freiheit zu gewähren sei.

Diese letzteren pflegen das Recht, die geschlechtliche Sehnsucht zu befriedigen, mit dem Rechte, den Hunger zu stillen, zu vergleichen. Die ersteren hingegen verwerfen diesen Vergleich als unhaltbar, weil ein Mensch ja bei lebenslänglicher geschlechtlicher Enthaltsamkeit gesund leben kann. Sie vergleichen anstatt dessen die erotische Leidenschaft mit anderen Leidenschaften wie Spiel und Trunksucht, bei denen die allgemeine Meinung Beherrschung anempfiehlt und der Wille dazu imstande ist.

Beide sehen die Frage gleich oberflächlich an. Die Grundbedingungen des Naturlebens, die bewegenden Kräfte der Kultur, die Liebe und den Hunger, mit einer anderen Leidenschaft als miteinander zu vergleichen, fälscht die ganze Stellung des Problems. Der Trieb der Liebe wie der des Hungers lässt sich bis zu einem gewissen Grade unterdrücken; in beiden Fällen kann eine erhöhte Stärke in irgend einer bestimmten Richtung gelegentlich errungen werden. Aber beide Bedürfnisse müssen in der richtigen Weise befriedigt werden, wenn der einzelne Mensch und das Menschengeschlecht leben und den Sinn des Lebens durch eine höhere Entwicklung erfüllen sollen. Hungerkünstler auf dem Gebiete der Liebe sind für die Lebenssteigerung ebenso bedeutungslos wie alle anderen derartigen.

Man hat sich durch das Christentum so sehr daran gewöhnt, die geschlechtliche Reinheit individuell zu behandeln, dass man – von seiten der Reinheitseiferer wie von seiten der Freiheitseiferer – nicht einsieht, dass, während man den Hunger stillt, um selbst leben zu können, man sich fortpflanzt, damit die Gattung lebe. Dies macht die asketische Behauptung von der Ungefährlichkeit der Enthaltsamkeit ebenso oberflächlich wie das vorgebliche Recht, die geschlechtliche Sehnsucht mit derselben Freiheit zu stillen wie den Hunger.

Denn wenn das Individuum ohne Nahrung verbleibt, büsst es selbst sein Leben ein. Aber verbleibt es ohne das Recht der Fortpflanzung, büsst das Geschlecht das Leben ein, das es ihm hätte geben können. Wenn das Individuum sich zu Tode isst, leidet nur es selbst darunter; wenn der Geschlechtstrieb durch Unmässigkeit missbraucht wird, leidet die Gattung.

Die jetzige Unsittlichkeit führt eine ununterbrochene Blutvergiftung des Organismus der Menschheit herbei. Die jetzige Gesellschafts- und Sittlichkeitsordnung hungert diesen Organismus aus. Unzählige vortreffliche Männer und Frauen stimmen in die Klage des schwedischen Dichters:

»das Blut von tausend Jahrhunderten löscht seinen Funken in mir«

nicht nur mit Wehmut über ihr eigenes unabänderliches Schicksal ein, sondern auch mit jener Bitterkeit, die nicht notwendige Leiden bereiten.

Es ist ausser aller Frage, dass der Trieb des einzelnen, in der Gattung fortzuleben, beherrscht werden muss, um lebensteigernd, nicht lebenverheerend zu werden. Aber es ist, im buchstäblichen Sinne, die Lebensfrage des einzelnen und des Menschengeschlechts: wie und warum und bis zu welchem Grade diese Beherrschung geübt wird?

So wird sowohl das Leben des einzelnen wie das der Menschheit gesteigert, wenn die Jugend enthaltsam lebt, bis sie die volle Reife erlangt hat. Und die Entwicklung des Menschengeschlechts gewinnt, wenn die minderwertigen Leben nicht durch Nachkommenschaft fortgesetzt werden. Aber das Leben des einzelnen und das der Gattung sinkt, wenn reife, vortreffliche Jugend nicht in der Lage ist, Nachkommen in die Welt zu setzen und zu erziehen.

Auf einem niedrigen Entwicklungsstadium ist der Hunger sowie das Cölibat eine veredelnde Macht gewesen. Der Mensch hat allmählich gelernt, die Menge der Nahrung einzuschränken, aber die Beschaffenheit besser und die Zufuhr regelmässiger zu gestalten. Er weiss nun, dass der Wert der Nahrung zum grossen Teile von dem Genusse abhängt, den sie bereitet, dass das Widerwärtige seine Aufgabe schlecht erfüllt. Er weiss auch, dass der Organismus nicht durch Bestandteile, welche für jedes Alter oder jede Arbeit ausgerechnet sind, ernährt werden kann, sondern dass nur ein gewisser Überfluss wirklich das notwendige Bedürfnis befriedigt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass zu grosse Knappheit ebenso schadet wie Unmässigkeit und dass folglich das persönliche Bedürfnis innerhalb gewisser Grenzen zu entscheiden hat, ob eine Nahrung voll ausreichend und lebensteigernd ist. Die Kenntnisse auf diesem Gebiete sind freilich der Möglichkeit der Menschen, allgemein nach diesen Kenntnissen zu leben, weit voraus. In Beziehung auf den Geschlechtstrieb hingegen sind wir noch weit davon entfernt, die Bedingungen des Gleichgewichts zu kennen, und noch viel weiter davon, in Wirklichkeit das Gleichgewicht zwischen dem Hunger und der Unmässigkeit in der Befriedigung dieses Bedürfnisses zu erreichen, wie sie unsere abendländischen Staaten charakterisieren.

Es war natürlich, dass Luther das Fasten und das Cölibat aufhob. Beides war der Ausdruck der Sehnsucht des Morgenlandes, den idealen wunschlosen Zustand zu erreichen; beides waren notwendige Mittel für die Erziehung der Germanen gewesen. Aber es war leider auch unvermeidlich, dass Luthers Befreiungswerk halb blieb; dass er es nicht vermochte, den Glauben der Antike an die Göttlichkeit des Menschlichen, an das Recht des Natürlichen aufzunehmen; dass er immer die Heiligung der Menschennatur ausserhalb derselben suchte. Jemand hat Luthers Mut, sich als Mönch mit einer Nonne zu verheiraten, mehr wert genannt als seine ganze Lehre. Das ist Wahrheit. Filippo Lippi tat allerdings dasselbe. Die Welt bekam dadurch herrliche Madonnen und – Filippino Lippi. Aber weder Fra Filippo noch andere ihr Gelöbnis brechende Mönche gestalteten die Sitte um: das tat nur Luther, der sein göttliches und natürliches Recht auf seine Handlung vertrat!

Die Aufgabe der Gegenwart ist es, diese Rechtserklärung für die Natur weiter zu verfolgen.

Aber die Natur ist ebensowenig unfehlbar wie vollkommen, ebensowenig vernünftig wie unvernünftig, ebensowenig zweckmässig wie zweckwidrig – weil sie dies alles ist. Sie kann durch die Kultur umgewandelt – veredelt oder verdorben – werden, und darum kann eine Rechtserklärung der Natur nur das Recht des Menschen bedeuten, die Natur zielbewusst zu veredeln, so dass sie in irgend einer gewissen Richtung ihren eigenen Zweck immer vollkommener erfüllt. Oder mit anderen Worten: so dass die Bedürfnisse, die die Natur in und mit den Menschen geschaffen hat, von ihnen auf eine immer schönere und gesündere Weise befriedigt werden. Aber diese Kultur der erotischen Natur kann ihre sittliche Norm nicht in irgendwelchen göttlichen Geboten oder transzendentalen Begriffen haben. Sie hat sie nur in der geheimnisreichen Vollkommenheitssehnsucht selbst, die im Laufe der Entwicklung den Trieb zu Leidenschaft, die Leidenschaft zu Liebe gesteigert hat und die nun danach strebt, die Liebe zu einer immer grösseren Liebe zu steigern.

Es gibt Menschen, welche meinen, dass die Liebe dann mit dem Anspruch auf eine Selbstherrlichkeit auftreten werde, die mit ihrer »natürlichen« Aufgabe, der Arterhaltung, unvereinbar ist.

Jeder weiss jedoch, dass Entwicklung einen zusammengesetzteren, verschiedenartigeren Zustand als den ursprünglichen mit sich bringt. Und die Liebe ist in dieser Beziehung der Beweis vor allen anderen. Die Liebe ist – wie schon dargelegt wurde – eine grosse geistige Macht geworden, eine Form des Genies, vergleichbar mit jeder anderen Schaffenskraft auf dem Gebiete der Kultur, und ihre Schöpfungen sind da ebenso bedeutend wie auf dem sogenannten natürlichen Gebiete. Ebenso wie man jetzt dem Künstler das Recht zuerkennt, seine Werke so zu formen, dem Gelehrten, seine Forschungen so auszuführen, wie es ihnen gut dünkt, muss man der Liebe das Recht geben, in ihrer eigenen Weise ihre Schaffenskraft zu gebrauchen, soweit diese nur in der einen oder anderen Richtung schliesslich dem Ganzen zugute kommt.

Aus diesem Gesichtspunkt kann man also den Satz, dass die Liebe Selbstzweck sei, nicht dahin ausdehnen, dass sie unfruchtbar bleiben dürfe. Sie muss Leben geben, wenn nicht neuen Wesen, so doch neuen Werten; sie muss die Liebenden selbst bereichern und durch sie die Menschheit. Hier wie überall ist die lebensgläubige, die sittlichkeitschaffende Wahrheit in der glückschaffenden Erfahrung eingeschlossen. Und die schwerste Anklage gegen gewisse Formen der »Freien Liebe« ist, dass sie – unglückliche Liebe ist! Denn es gibt keine andere unglückliche Liebe als die unfruchtbare.

Die Fähigkeit des Menschen, zu vergessen, ist wunderbarer als seine Fähigkeit, zu lernen. Wäre dem nicht so, so brauchte man nicht wieder und immer wieder daran zu erinnern, dass jede Apostelschar einen Judas birgt, ja dass die Wahrheit nur von Schülern in die Hände ihrer Feinde überantwortet werden kann. Dann würde man daran denken, dass jede Reformation ihre »Schwarmgeister« hat, die die Neuerer einschüchtern, so dass sie mit dem Streiche innehalten, wenn die Axt an die Wurzel gelegt wird; dann würde man sich nicht darüber wundern, dass mit jeder Frühlingsflut nicht nur das Eis, sondern auch die Erde forttreibt!

Aber – die Menschen wollen sich nun einmal nicht erinnern. Sie müssen also wieder erinnert werden, dass die immer fester geschlossene, immer rascher wachsende Kämpferschar der neuen Sittlichkeit sich von ihrer zerstreuten Nachhut und ihrer leichten Vortruppe durch die Gewissheit unterscheidet: dass die Liebe unter demselben Gesetze lebt wie jede andere schaffende Kraft, nämlich nur im Zusammenhange mit dem Ganzen selbst zu ihrem höchsten möglichen Werte gesteigert werden zu können. Ja, die Liebe, deren Ursprung der Geschlechtstrieb ist, muss tiefer als irgend eine Seelenbewegung mit dem Menschengeschlechte verbunden sein. Und die Erfahrung zeigt auch, dass sie ihre Lebenskraft nicht bewahren und fördern kann, wenn ihr jeder Zusammenhang mit diesem fehlt, wenn sie nicht in der einen oder anderen Weise, gebend oder empfangend, in einem Verhältnisse zur Menschheit steht. Es ist darum eine unabweisliche Notwendigkeit, dass jede von der Menschheit ganz losgelöste Liebe aus Mangel an Nahrung stirbt.

Aber das bindende Band kann aus verschiedenen Stoffen gewebt sein; dieses Geben kann sich auf verschiedene Weise äussern. Das eine Mal schafft das grosse Gefühl ein grosses tragisches Schicksal, das der Menschheit die Augen für die purpurnen Tiefen öffnet, die sie in sich trägt. Ein anderes Mal schafft es ein grosses Glück, das einen allen anderen leuchtenden Lichtkreis um die Glücklichen bildet. In vielen Fällen wird die Liebe in geistige Grosstaten, in nutzbringende Gesellschaftswerke umgesetzt; in den meisten entstehen durch die Liebe ein paar vollkommnere Menschen und neue Menschen, vollkommener als diese selbst.

Die Liebespaare hingegen, die nicht durch ihr vereintes Leben oder ihren vereinten Tod einen Stern entzündet haben; die keine Staffel auf der goldenen Treppe zu einer höheren Menschheit bildeten, die an einander nur die Lust des Tieres gefunden haben – ohne dessen Willen, sich für die Nachkommenschaft zu opfern – die waren unsittlich, weil ihre Liebe nicht der aufsteigenden Entwicklung des Lebens diente. Mag diese lebenswidrige Liebe die lockere und leichte oder die lebenslängliche und gesetzgeweihte Form gehabt haben, so hat sie doch in keiner Beziehung das eigene Leben des Paares reicher gemacht, geschweige denn das der Menschheit.

Wenn man die Lebenssteigerung als Sittlichkeitsnorm der Liebe annimmt, wird es, wie schon im Anfange dargelegt wurde unmöglich, im vorhinein zu entscheiden ob eine freie oder legitime Liebe, eine gebrochene oder fortgesetzte Ehe, freiwillige Kinderlosigkeit oder Elternschaft sittlich oder unsittlich ist. Denn der Ausgang hängt in jedem besonderen Falle von dem Willen, der Wahl ab, die dahinter liegt, und nur die Entwicklung der Ereignisse und der Charaktere kann über die Beschaffenheit dieses Willens, dieser Wahl entscheiden.

Freilich sind die Menschen oft schwächer in der Ausführung als im Entschlüsse. Aber mögen sie sich dann begnügen, alte Sittlichkeitsbegriffe zu vertiefen, sie sind nicht dazu berufen, neue Sitten zu schaffen. Und freilich bietet einem das Leben oft unberechenbare Hilfe zum Gutmachen eines Fehlgriffs. Aber in der Regel werden die Folgen so, wie die Ursache war. Eine Frau, die aus ausschliesslich selbstischen Gründen die Mutterschaft scheut, wird sich meistens auch als Geliebte ohne Zärtlichkeit zeigen; eine Gattin, die sich aus einer Ehe losreisst, bevor sie versucht hat, ihr ihre Glücksmöglichkeiten abzugewinnen, wird wahrscheinlich in einer neuen in gleicher Weise diese Möglichkeiten zerstören. Kein Verhältnis kann besser werden, als die Menschen, die es bilden. Dieses Gesetz ist so unerschütterlich, dass das Walten der sittlichen Gerechtigkeit ruhig der Zeit überlassen werden könnte! Dies bedeutet nicht, dass die Liebe mehr als irgend eine andere Lebensäusserung dem Werturteil der Menschen entzogen werden kann. Aber es bedeutet, dass dieses irrig wird, wenn es sich von den Formen der Vereinigung zweier Menschen anstatt von ihren Folgen bestimmen lässt. Hier ist die Wasserscheide zwischen der Richtung der alten und der neuen Sittlichkeit. Die Bahn der ersteren wird durch den Zweifel an den Kraftquellen der menschlichen Natur bestimmt, die letztere durch den Glauben an sie; die Zweifel der ersteren führen zu der Pflicht des einzelnen, sich den Forderungen der Gesellschaft unterzuordnen; der Glaube der letzteren zu der Freiheit des einzelnen, selbst seine Gesellschaftspflicht zu wählen. Auf Grund der Schwäche der menschlichen Natur und folglich aus Sorge um die Stärke der Gesellschaft verlangen die Gesellschafterhalter: dass der einzelne im vorhinein die Gesellschaft von seinem guten Willen überzeuge, erotisch ihren Zwecken zu dienen, indem er auf einen Teil seiner leicht missbrauchten Freiheit verzichtet. Auf Grund des Reichtums der menschlichen Natur und der Forderungen der Entwicklung verlangen die Neuerer für den einzelnen das Recht, nach eigener Wahl mit seiner Liebe dem Ganzen zu dienen und unter eigener Verantwortung die Freiheit seiner Liebe zu gebrauchen.

Wer den Blick nicht von den leichten Spänen fesseln lässt, die mit dem Zeitenstrome segeln und darin vergehen, wird bald gewahr werden, dass die neue Sittlichkeit sich durch immer mehr Zuflüsse vertieft.

Die christliche Sittlichkeit geht von der menschlichen Natur als etwas Konstitutivem, wenn auch noch nicht kulturell Fertigem aus, und von einem in Geist und Körper geteilten Menschenwesen. Der Geist ist göttlichen Ursprungs, aber gefallen und muss in einer von der Religion bestimmten Kulturentwicklung, deren Ziel es ist, dass die Menschheit das von der Religion gegebene Ideal Christus erreiche, wieder erhoben werden.

Es gibt eine andere Sittlichkeit, die sich auf die Überzeugung von der angeborenen Güte der Menschennatur und der Gleichheit aller Menschen gründet – oder gründete. Diese Überzeugung führte zu den Bestrebungen der Aufklärungszeit nach gemeinsamer Wohlfahrt und zu dem Glauben an die Verwirklichung der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit schon mit dem jetzt vorhandenen Menschenmaterial.

Die neue Sittlichkeit hingegen nimmt Humanismus wie Evolutionismus in sich auf. Sie ist von dem monistischen Glauben an Seele und Körper als zwei Formen desselben Seins bestimmt; von der Überzeugung des Evolutionismus, dass das psycho-physische Wesen des Menschen weder gefallen noch vollkommen, doch der Vervollkommnung fähig ist: dass es bildbar ist, gerade weil es konstitutiv noch nicht fertig ist. Der utilitarische wie der christliche Humanismus sah die »Kultur«, den »Fortschritt« und die »Entwicklung« in des Menschen Veredlung der materiellen und nicht-materiellen Hilfsquellen ausserhalb und innerhalb seiner selbst. Aber der Evolutionismus weiss, dass all dies nur Vorbereitung zu einer Entwicklung gewesen ist, die das Material des sozusagen erst nur versuchsweise dargestellten Menschen verbessern und veredeln soll.

Unsere jetzige »Natur« bedeutet nur, was in diesem Entwicklungsstadium psychologisch und physiologisch notwendig ist, damit wir als Menschen einer gewissen Zeit, einer gewissen Rasse, einer gewissen Nation da sind. Die Behaartheit war einmal unsere »Natur«, wie es jetzt die Nacktheit ist. Der Frauenraub war einmal »natürlich«, wie jetzt die Werbung. Welche neue Verwandlungen die Menschheit durchmachen wird; welche heute ungeahnten Verluste und Errungenschaften an Organen und Sinnen, Fähigkeiten und Seeleneigenschaften der Menschheit vorbehalten sind – das ist das Geheimnis der Zukunft. Aber je mehr die Menschheit überzeugt ist, selbst in ihre Entwicklung eingreifen zu können, desto notwendiger wird Zielbewusstheit. Man muss wissen, welche Hindernisse man beseitigen, welche Wege man versperren, welchen Opfern man sich unterwerfen will.

Die neue Sittlichkeit steht fragend auf vielen Gebieten, – wie dem der Arbeit, des Verbrechens, der Erziehung, aber vor allem auf dem des Geschlechtslebens. Auch auf diesem Gebiete empfängt sie nicht mehr ihre Gebote vom Berge Sinai oder von Galiläa; hier wie überall kann der Evolutionismus nur fortgesetzte Erfahrung als Offenbarung betrachten. Der Evolutionismus verwirft das Resultat der historischen Erfahrung nicht, nicht die Errungenschaften der christlich-humanen Kultur – als ob es überhaupt möglich wäre, das zu verwerfen, was in der Menschheit Blut und Seele geworden ist! Aber er sieht den hinter uns liegenden, historischen Kulturverlauf als ein Schlachtfeld von miteinander kämpfenden Gedanken und Willen, wo zielbewusster Plan ebensosehr fehlt wie bei der Kriegsführung wilder Stämme. Erst wenn die Menschheit ihre Ziele und ihre Mittel wählt – und als ihr nächstes Ziel ihre eigene Steigerung in allem, was sie schon jetzt als Menschheit kennzeichnet, festsetzt – erst wenn sie beginnt, alle ihre anderen Errungenschaften und Verluste nach dem Grade zu messen, in dem sie diese Steigerung fördern oder hemmen, erst dann nimmt sie die richtige Stellung auch zu dem Ererbten ein. Dann verwirft sie das, was hindert, aber wählt das, was ihren Kampf zur Befestigung ihrer Stellung als Menschheit und ihrer Erhebung zur Über-Menschheit fördert.

Wir stehen am Anbruch eines Kulturabschnitts, welcher der der Tiefe, nicht nur wie bis jetzt der der Fläche werden wird; der Epoche, die nicht nur eine Kultur durch Menschen, sondern Kultur von Menschen sein wird. Bis jetzt haben die sozial Schaffenden vor dem Menschenmaterial gestanden, wie der junge Michel Angelo mit seinen von Zornestränen erfüllten Augen, als ihm befohlen ward, eine Bildsäule aus Schnee für den Garten der Medicäer zu formen. Erst in dieser neuen Epoche werden die grossen Bildformer der Kultur nicht mehr genötigt sein, aus Schnee zu schaffen, sondern sie werden aus Marmor bilden können.

Das richtige Verhältnis zwischen dem Rechte des einzelnen und dem der Gattung ist auf dem erotischen Gebiete ebenso bedeutungsvoll wie das Verhältnis zwischen dem Rechte des Individuums und dem der Gesellschaft auf dem Gebiete der Arbeit. Die Bedingungen der Arbeit heben oder verringern den Wert der schon existierenden sowie der werdenden Menschen. Dasselbe gilt – und in noch höherem Grade – von den Bedingungen der Liebe. Wie die Grenze schliesslich – im einen wie im anderen Falle – gezogen werden wird, können wir jetzt nicht wissen. Wohl flimmert hier und dort ein Licht auf, das schon den Weg andeutet. Aber bevor der Lichter nicht mehr werden, kann sich die Menschheit nur tastend und fallend in der Richtung bewegen, die sie vielleicht einmal bei vollem Tageslichte wandern wird.

Viele, die die geschlechtliche Sittlichkeit aus dem Gesichtspunkt des Evolutionismus betrachten, haben niemals untersucht, ob die Monogamie – und eine immer vollständigere Monogamie – wirklich das beste Mittel zur Entwicklung der Menschheit ist. Diese Evolutionisten vereinen sich mit den Vertretern des christlichen Idealismus in dem vernichtenden Urteil über die »jetzige Unsittlichkeit«, die sich auf dem geschlechtlichen Gebiete in freien Verbindungen ausserhalb der Ehe äussere; in zahlreicheren Scheidungen; in der Unlust zur Elternschaft und in dem Anspruch unverheirateter Frauen auf das Recht auf Mutterschaft. Andere Evolutionisten meinen, dass all dies im innersten den Durchbruch kündet, der der Liebe ihre volle Bedeutung nicht nur für die Fortdauer des Menschengeschlechts, sondern für seinen Fortschritt geben wird. Sie greifen mit dem Willen des wirkenden, werdenden Lebens die geltenden Sittlichkeitsnormen und das Familienrecht an. Der Gegenstand des Kampfes selbst ist ja nicht neu; neu ist nur der von dem Entwicklungsgedanken bewusst oder unbewusst genährte Mut, das Recht der Liebe gegen das der Gesellschaft, die Sitte der Zukunft gegen die der Vergangenheit zu behaupten.

Im Laufe der Jahrhunderte hat die Liebe der Gesellschaft unablässig Terrain abgewonnen. Weniger und weniger gestehen die Menschen einander das Recht der Einmischung in Liebesfragen zu; weniger und weniger lassen sie sich vorspiegeln, dass ihre erotischen Forderungen als Einzelwesen oder als Gesamtheit befriedigt werden, solange nur die Pflicht zur sittlichen Norm auf dem Gebiete gemacht wird, auf dem schon die Natur mit der Befriedigung des Bedürfnisses die Lust verbunden hat, und auf dem die Kultur, je mehr sie sich entwickelte, das Glück der Liebe immer unzertrennlicher von dem Willen, die Geschlechtsbestimmung zu erfüllen, gemacht hat.

Die neue Sittlichkeit weiss, dass die Kultur im grossen gesehen erst dann dauernd Macht über die Natur erhält, wenn sie höhere Glücksgefühle mit den Zielen verbindet, zu deren Erstrebung harte Mittel erforderlich sein können. Der Lebensglaube, der die Gattungsaufgabe mit dem persönlichen Liebesglück verbindet, wird auch von dem letzteren die Opfer verlangen, die die erstere notwendig macht. Aber er wird diese Notwendigkeiten nicht durch asketische Reinheitserfordungen vermehren, die für die Gattungsaufgabe bedeutungslos sind. Die Bekenner dieses Glaubens wollen die geschlechtlichen Gefühle und Handlungen des einzelnen durch die Liebe bestimmen, vor allem weil sie glauben, dass das Glück des einzelnen die wesentlichste Bedingung auch für die Lebenssteigerung der Menschheit ist.

Sie wollen die Erde mit Glückshungernden erfüllen, weil sie wissen, dass nur so das Erdenleben seinen innersten Willen erreicht, nämlich – in einem ganz neuen Sinne – Ewigkeitsmenschen zu bilden.

Das Wort, das durch Eros Fleisch und Blut wurde und in uns lebt, ist das tiefste von allen:

»Freude ist Vollkommenheit.«

Wenn wir in diesem Worte Spinozas die höchste Offenbarung vom Sinn des Lebens empfangen, öffnet sich der Blick auch für den Zusammenhang des Daseins. Wir sehen ein, dass das vollkommenere Geschlecht im vollsten Sinne des Wortes hervorgeliebt werden wird. Aber dies geschieht erst, wenn die Liebe Religion geworden ist, der höchste Ausdruck der Lebensfurcht, nicht der Gottesfurcht; wenn die Lebensfrömmigkeit den Aberglauben und den Unglauben verjagt hat, die die Erotik noch entstellen. Wenn der Älteste der Götter keine anderen Götter neben sich hat, dann werden die Ungeheuer, die die dunklen Tiefen erfüllen, über denen Gottes Geist schwebt, im Lichte des neuen Schöpfungstages sterben.

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