Albert Schweitzer über Zufall

  • Der Zufall ist das Pseudonym, das der liebe Gott wählt, wenn er inkognito bleiben will.

Albert Schweitzer

deutscher Arzt, Musiker, Philosoph und Theologe

* 14.01.1875 Kaysersberg, Elsass
† 04.09.1965 Lambarene (Gabun)

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Zufällig habe ich heute diesen oder jenen getroffen. Zufällig hatte ich ausgerechnet heute Pech auf der Arbeit. Zufällig kann ich von Glück sagen, dass… usw. Der liebe Zufall begleitet uns Menschen auf Schritt und Tritt im Leben. Ganz zufällig kommt der Zufall über uns hereingeschneit und macht etwas mit uns, dem wir dann unmittelbar ausgeliefert sind.

Ob es angenehm oder unangenehm ist, spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist, dass wir keinen Plan dahinter erkennen können. Weder fühlen wir uns selbst verantwortlich, noch scheinen die anderen Mitmenschen, die vielleicht in diesen Zufall mit involviert sind, ein klare Option auf die Ereignisse zu haben. Da passierte etwas ohne unser Zutun – zufällig eben!

Was hat es mit diesem ominösen Zufall auf sich? Albert Schweitzer, der Arzt, Philosoph, Pazifist und Menschenfreund, hat es in einem wunderschönen Satz zusammengefasst, in dem er Bezug auf den lieben Gott nahm. Nur fragt es sich, wie man jemand diese Aussage deuten soll, der nicht an den lieben Gott glaubt? Und von dieser Sorte Mensch gibt es reichlich viele. Werden all diese Menschen wiederum an den Begriff des Zufalls so ganz ohne Erklärung wieder zurückverwiesen?

Vielleicht kann man sich dem Begriff „Zufall“ auch noch auf eine andere Weise nähern, die Gott nicht zwingend ausschließt, aber auch nicht zwingend notwendig macht.

Vom Zufall sprechen wir, wenn wir keine vernünftige Erklärung für Ereignisse, die uns ereilen, abgeben können. Wir suchen nach Ursache und Wirkung – und werden nicht fündig. Also kann es nur Zufall sein. Alles, was nach den uns bekannten Gesetzmäßigkeiten verläuft, kommt offenbar nicht infrage. Es stellt sich dabei die Frage, ob die uns derzeit bekannten Gesetzmäßigkeiten denn schon alles sind, was zugleich auch denkbar ist. Und ist es denn nicht so, dass sich in ausnahmslos allen Wissenschaften ständig Neues ergeben hat, weil zum bisher Bekannten immer wieder neu bis dato Unbekanntes dazu kam und sich die Sichtweise auf die Frage- oder Problemstellung dann ganz plötzlich änderte?

Steckt hinter dem offenbar Absichtslosen vielleicht noch eine tiefere Wahrheit? Manche mögen diese Wahrheit in religiöse Bezüge setzen – andere setzen sie in psychische Bezüge zum Unterbewusstsein oder Unbewussten des Menschen. Die Möglichkeiten der Erklärungen zum Zufall sind längst noch nicht ausgeschöpft.

Der Zufall und der freie Wille

Das Wort "Zufall" selbst kennt man erst seit dem 17. Jahrhundert und stammt vom Lateinischen ac-cidens ab, was so viel bedeutet wie Unwesentliches, Zufälliges.

Nicht nur die Philosophie und die Psychologie sind mit dem Begriff des Zufalls beschäftigt, sondern auch die Mathematik, die Statistik, die Physik oder die Soziologie. In jedem dieser wissenschaftlichen Bereiche stellt sich jedoch die Frage ein wenig anders. Da geht es nicht nur um die Definition, sondern auch darum, ob und wie sich das Zufällige quantitativ erfassen lässt, welche Prozessabläufe eine Rolle spielen, wie sich aufgrund von Zufällen nun auch Gesellschaften entwickeln oder sich die Historie selbst beschreiben lässt.

Die Philosophie selbst nimmt dazu keinen einheitlichen Standpunkt ein. Sie hinterfragt z.B. den Determinismus und damit die Frage von Ursache und Wirkung. Auch stellt sich die Frage, aufgrund welcher Informationen man etwas als zufällig erklärt und wie tief man denn in die Möglichkeiten einer Hinterfragung einer Sache überhaupt einstieg. In der modernen Wissenschaft spielt im Hinblick auf den Zufall auch die Chaosforschung eine immer größere Rolle. Die hier untersuchten Phänomene nimmt man zwar auch als Produkte von Ursache und Wirkung an, aber kann aufgrund der ungeheuer großen Komplexität noch nicht vorhersagen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Das, was hier zufällig erscheint, kann durchaus einer inneren, aber noch nicht ganz verstandenen Ordnung gehorchen. Auch Chaos kann einer Gesetzmäßigkeit unterliegen, die zu ergründen unser heutiges Wissensvermögen noch zu klein ist.

Spannend im Zusammenhang mit dem Begriff des Zufalls ist auch die Frage nach dem freien Willen des Menschen. Hiernach kann es in einem Universum ohne Zufall keinen freien Willen geben, da jede Entscheidung bei Kenntnis aller Einflüsse vorhergesagt werden könnte. Sollten unsere Entscheidungen jedoch nur zufällig zustande kommen, wäre die Sache mit dem freien Willen und der freien Entscheidung erledigt. Wer tiefer in die philosophische Auseinandersetzung eintreten will, sei auch u.a. auf Immanuel Kant und die Kritik der reinen Vernunft verwiesen.

Ein ungelöstes Geheimnis des menschlichen Lebens

Wird der Zufall auch zum Zankapfel zwischen Psychologie und Religion? Wie frei oder unfrei der Wille des Menschen ist, wird auch innerhalb dieser Disziplinen differenziert betrachtet und bewertet. Beim bloßen Ja- oder Nein-Sagen zu einer Sache hört der freie Wille ja weder auf, noch fängt er dabei an, weil zu definieren wäre, unter welchen Voraussetzungen denn sowohl ein Ja oder ein Nein zu einer Sache überhaupt erst als Willensbekundung in einem Individuum entstehen kann. Albert Schweitzer nahm dabei zu Gott Zuflucht.

Andere Menschen wählen vielleicht auch die Frage der Zeitqualität. Da fällt etwas zu, weil es in diesem Augenblick perfekt passt, weil eine Sache, ein Ereignis oder eine Situation reif geworden ist, dass sie genau so und nicht anders letztlich abläuft, obschon es zahllose Alternativen dazu gab. Überschneidungen in Zeit und Raum – Zufälle, hintergründige Absichten der Seele, eine Frage des Zusammentreffens von Bewusstsein und Wille selbst dort, wo es noch unterbewusst oder unbewusst ist? Vieles spricht dafür. Beweise sind derzeit noch rar, was diese Strömungen und Kräfte innerhalbe einer bestimmten Zeitqualität formt, treibt oder bestimmt.

Wer seine eigenen Zufälle im Leben einmal auf Qualität und die Nachhaltigkeit im ganz Persönlichen untersucht – sofern er sich ihrer in besonderen Situationen und Momenten erinnert – könnte vielleicht ins Staunen darüber kommen, wie oft Subtiles im genau richtigen Moment uns im Leben erreichte und das Leben auch prägte oder ihm sogar eine Wendung verpasste. Doch das braucht eine feine und genaue Selbstbeobachtung.

Welche Schlüsse man nun daraus zieht, ob man an einen Gott glaubt, der uns durch plötzliche Ereignisse straft oder segnet, ob man eine natürliche Ordnung als Voraussetzung annimmt, die einer wunderbaren, aber noch unerkannten Gesetzmäßigkeit folgt – das bleibt jedem selbst überlassen, wenn er wieder einmal einen dieser "berühmten" Zufälle in seinem eigenen Alltag erlebt. Mag es im Glück oder im Pech sein, beides bringt uns immer wieder neu ins Staunen und lässt uns innehalten über die noch vielen ungelösten Geheimnisse des menschlichen Lebens.

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