Friedrich Wilhelm Nietzsche über Askese

  • Der Asket macht aus der Tugend eine Not.

Friedrich Wilhelm Nietzsche

deutscher Philosoph

* 15.10.1844 Röcken bei Lützen in Sachsen
† 25.08.1900 Weimar

Gedanken von Tom Borg zum Zitat

Friedrich Wilhelm Nietzsche bringt auf den Punkt, was nur allzu gern übersehen wird: Auch die Tugend hat ihre Grenzen. Übertreibt man es mit dem Gutsein, so kippt das vermeintlich Gute schnell ins Negative. Aus dem eigentlich guten Vorsatz wird plötzlich ein Übel, das umso schwerer zu bekämpfen ist, da es im Ansatz ja nach wie vor gut und lobenswert ist.

Zu Nietzsches Zeiten verband man die Askese, also die Enthaltsamkeit, vorwiegend mit der Vorstellung einer bescheidenen, einfachen und enthaltsamen Lebensweise. Der gläubige Asket, der als Einsiedler in aller Bescheidenheit einsam in seiner Höhle lebt und sein Leben mit Beten und Meditieren verbringt, prägte über Jahrhunderte das Bild der höchsten Tugend.

Schon Marcus Tullius Cicero sagte aus Überzeugung: Omnia mecum porto mea - All das Meinige trage mit mir. Als Philosoph benötigte er wohl nicht mehr als seine Gedankenwelt, dank derer er in der realen Welt jederzeit durch Unterrichten Anderer das Lebensnotwendige erlangen konnte. Doch bereits zu Nietzsches Zeiten war die Askese mehr ein Übel denn eine Tugend. Der Wahn, mit immer weniger auskommen zu können, griff nicht nur die Gesundheit an, sondern behinderte indirekt auch den Fortschritt, da die Enthaltsamkeit sich selbst genügte. Der Asket benötigt weder neue Arbeitstechniken noch einen industriellen Fortschritt.

Damit einher geht aber auch die Not. Denn der selbstverschuldete Mangel macht aus der gewollten Enthaltsamkeit bald eine schleichende Not. Die anfangs freiwillige Entscheidung zur Askese, wird langsam aber sicher zur Zwangslage. Sei es nun Sucht, verschlechterte Gesundheit oder auch die innere Einstellung zur Umgebung und dem Leben an sich. Was anfangs eine lobenswerte Tugend war, verkehrt sich bald in eine zunehmend schwerwiegendere Notlage aus der man sich immer schwerer befreien kann… und schon gar nicht mit der Tugend selbst, denn die ist ja letztlich die Ursache der Not.

Maßlose Tugend schadet mehr als sie nutzt

Was zu Nietzsches Zeiten vermutlich mehr auf die asketische Lebensweise in Form der Enthaltsamkeit gemünzt war, trifft aber auch auf die meisten anderen Tugenden zu: zu viel des Guten ist meist von Übel. Man denke nur an all die Gesundheitsfanatiker von denen heute ganze Wirtschaftzweige gut leben. Nichts gegen eine gesunde Lebensweise. Aber muss man tatsächlich jedes Pülverchen und jeden Trend ausprobieren, nur weil man seinem Körper etwas Gutes tun möchte?

Körperliche Fitness ist in. Kleine Helferlein, die den Erfolg der Bemühungen dokumentieren sollen, erobern immer größere Marktsegmente. Und plötzlich wird aus der Freude an der Körperertüchtigung eine schleichende Pflicht. Dann nämlich, wenn Versicherungen unsere Gesundheitswerte mitlesen wollen und uns für gute Werte einen Rabatt versprechen. Dann kommen wir schnell in die Notlage, diese Werte auch tatsächlich liefern zu müssen, da wir ohne in einen schlechteren weil teureren Versicherungstarif eingestuft werden.

Doch gerade dieses Beispiel zeigt, dass die Frage nach der Tugendhaftigkeit schnell zu einer gesellschaftlichen Frage werden kann. Der Gruppenzwang nimmt uns die Entscheidung ab. Und damit wird aus der individuellen Tugend ein Zwang, der zur Normalität wird. Was wir anfangs als persönliche Tugend betrachtet haben, wird plötzlich zur allgemeinen Norm, etwas Alltägliches. Und damit hat sich die Tugend Dank unseres Übereifers selbst entwertet. Dadurch wird sie zwar nicht gleich zur Not, aber wir haben ohne Not eine Tugend zur Banalität degradiert. Als Folge schätzen wir die eigentlich erstrebenswerte Tugend nicht mehr so hoch ein, denn sie ist nun etwas Alltägliches geworden, keine individuelle Leistung mehr. So wie auch die Enthaltsamkeit des Asketen im Laufe der Zeit immer mehr zum Selbstzweck wird, bevor die übertriebene Askese die Tugend in ihr Gegenteil verwandet und eine Not hervorruft, die bei einem gesunden Mittelweg zwischen Enthaltsamkeit und Maßlosigkeit nicht aufgetreten wäre.

Es ist ratsam, sich Nietzsches Gedanken von Zeit zu Zeit in Erinnerung zu rufen. Auch das Gute will in Maßen genossen werden, damit es etwas Besonders bleibt.

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