Johann Wolfgang von Goethe über Sittlichkeit

  • Tasso: Die goldne Zeit, wohin ist sie geflohn,
    nach der sich jedes Herz vergebens sehnt?
    Da auf der freien Erde Menschen sich
    wie frohe Herden im Genuß verbreiteten;
    da ein uralter Baum auf bunter Wiese
    dem Hirten und der Hirtin Schatten gab,
    ein jüngeres Gebüsch die zarten Zweige
    um sehnsuchtsvolle Liebe traulich schlang;
    wo klar und still auf immer reinem Sande
    der weiche Fluß die Nymphe sanft umfing;
    wo in dem Grase die gescheuchte Schlange
    unschädlich sich verlor, der kühne Faun,
    vom tapfern Jüngling bald bestraft entfloh;
    wo jeder Vogel in der freien Luft
    und jedes Tier, durch Berg' und Täler schweifend,
    zum Menschen sprach: Erlaubt ist, was gefällt.
    Prinzessin: Mein Freund, die goldne Zeit ist wohl vorbei;
    allein die Guten bringen sie zurück.
    Und soll ich Dir gestehen, wie ich denke:
    Die goldne Zeit, womit der Dichter uns
    zu schmeicheln pflegt, die schöne Zeit, sie war,
    so scheint es mir, so wenig, als sie ist;
    und war sie je, so war sie nur gewiß;
    wie sie uns immer wieder werden kann.
    Noch treffen sich verwandte Herzen an
    und teilen den Genuß der schönen Welt;
    nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund,
    ein einzig Wort: Erlaubt ist, was sich ziemt.

Johann Wolfgang von Goethe

deutscher Dichter

* 28.08.1749 Frankfurt am Main
† 22.03.1832 Weimar

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