Johann Wolfgang von Goethe über Toleranz

  • Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.

Johann Wolfgang von Goethe

deutscher Dichter

* 28.08.1749 Frankfurt am Main
† 22.03.1832 Weimar

Gedanken von Christa Schyboll zum Zitat

Wir leben heute in einer sogenannten toleranten Gesellschaft. Und darauf sind wir stolz, weil es doch aller Welt zeigt, wie wir es mit dem Humanismus halten. Doch was ist Toleranz und was ist Anerkennung in ihrem Kern? Der Begriff der Toleranz definiert sich vor allem durch eine Duldung von etwas oder jemandem. Wir lassen etwas gelten oder gewähren, das nicht unbedingt zu unseren eigenen Anschauungen oder Handlungsweisen gehört oder unserem eigenen Wesen entspricht. Wir sind großmütig dem Anderen und dem Andersartigen gegenüber und wollen ihn oder es gern gleichberechtigt neben uns sehen.

Sprachlich kommt das Verb tolerieren aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie: dulden und ertragen. Im Gefühl vieler Menschen wurde dieser Begriff jedoch erweitert um die Empfindungen von Nachsicht, Weitherzigkeit oder Großzügigkeit. Das Gegenstück ist die Intoleranz, also eine Unduldsamkeit.

Warum aber reicht dem Dichter- und Denkerfürsten Johann Wolfgang von Goethe die Toleranz als Eigenschaft nicht aus? Warum möchte er eine Steigerung bis hin zu einer Anerkennung, die nicht bloß duldet, sondern etwas oder jemanden voll bejaht?

Etwas voll zu bejahen bedeutet für mich, eine Sache in ihrem Wahrheitskern so durchdrungen zu haben, dass es keine Duldung mehr braucht. Die Kraft für Toleranz braucht nicht mehr aufgebracht werden, weil die Sache klar ist.

Um da hin zu kommen, braucht es jedoch ein vorheriges Befassen mit dem Thema oder dem Ereignis. Hier sind wir in unserer eigenen Geistesklarheit gefordert, die Dinge in ihrem Wesen selbst zu untersuchen und dann zu entscheiden, ob sie unseren bereits erkannten Wahrheitskriterien standhalten können. Wie subjektiv dies ist und auch nur sein kann, ergibt sich aus dem Bewusstsein und der Erkenntnisfähigkeit desjenigen, der mit diesen Dingen arbeitet.

Nun wird es uns in vielen Fällen jedoch nicht gelingen, den Schritt von der Toleranz bis zur Anerkennung und Bejahung zu finden. Das mag einmal daran liegen, dass wir letztlich die Sache, um die es geht und mit der wir uns auseinandergesetzt haben als falsch oder unzureichend einstufen müssen. Das Unvollkommene, Fehlerhafte daran wurde von uns entlarvt und kann nun auch keine Bejahung mehr erfahren. Oder aber im anderen Fall kann es vorkommen, dass es uns selbst an Erkenntnisfähigkeit fehlt, das Wahrhaftige schon zu erkennen, weil wir noch selbst blind und nicht urteilsfähig in der Sache selbst waren.

Respekt vor dem Denken der Mitmenschen

Viele Bereiche unseres Lebens sind vom Begriff der Toleranz abhängig oder durchdrungen. Dazu gehören beispielsweise auch die Ethik, Politik oder die Soziologie. Überall dort, wo Konflikte innerhalb sozialer Systeme gelöst werden müssen, stehen wir früher oder später vor der Toleranzfrage. Oder man denke an die Religionsfreiheit, wo es eine Duldung des andersartigen Glaubens braucht, um ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten. Hier gibt es seit Menschengedenken immer wieder besonders große Konflikte, wie die heutige Lage der Welt uns offensichtlich vor Augen führt.

Toleranz kann man nur aufbringen, wenn man auch den nötigen Respekt vor dem Denken und Fühlen eines anderen Mitmenschen aufbringt. Dort, wo Verachtung die Seele vergiftet, kann Toleranz keinen Fuß fassen. Gut funktionierende Gesellschaften brauchen ein verbindliches und stabiles Wertesystem, um auch den Minderheiten Freiräume zu gestatten und diese zu schützen. Insofern ist Toleranz eine der Grundsäulen für ein friedliches Zusammenleben vor allem dann, wenn verschiedene Kulturen, Religionen und geistige Strömungen zusammenkommen. Dass es gelingen kann, zeigen uns Beispiele in jenen Schmelztiegeln der Welt, wo viele Religionsgemeinschaften es auch friedlich miteinander schaffen.

Interessant ist die philosophische Kritik am Begriff der Toleranz, die auf eine Verringerung des Bewusstseins für Gut und Böse in diesem Zusammenhang hinweist. Vielleicht hatte dies auch Goethe mit in seinem Gedankenhintergrund? Denn man lässt im Falle eines toleranten Verhaltens letztlich etwas zu, das man eigentlich für nicht gut erachtet. Sonst müsste man ja keine Duldung dafür aufbringen, sondern könnte es gleich voll bejahen. Doch wer entscheidet darüber, was Gut und was Böse ist? Die allgemeine Konvention, die gesellschaftliche Verhaltensregel? Diese ist aber nun einmal je nach Religion und Kultur sehr unterschiedlich. Und wer gibt jemandem das Recht, seine eigene Anschauung über Gut und Böse über die des anderen Mitmenschen zu stellen?

Ein Nachgesang auf Reformation und Humanismus?

Im Laufe der Geschichte und ihrer Völkerwanderungen standen alle großen Kulturen immer wieder neu vor dem Problem der Integration neuer Völker und ihren Sichtweisen des Lebens. Toleranz aufzubringen wurde zu einer Notwendigkeit, um gemeinsam überleben zu können. Eine pluralistische Gesellschaft ohne Toleranz ist nicht denkbar, auch wenn Toleranz dabei eine Art Mindeststandard ist, auf dem das soziale Miteinander gedeihen kann. Dort wo sie fehlt, ist das menschliche Leid der Minderheiten gesichert.

Vor allem der Reformation und dem Humanismus ist es in erster Linie zu verdanken, dass wir die heutige Form einer toleranten Gesellschaft entwickeln konnten. Hier stehen Luthers Bemühungen im Mittelpunkt. Dank seines Wirkens und seiner Einflüsse konnte das mittelalterliche Ketzerstrafrecht in unserer europäischen Welt überwunden werden. Es folgten ihm noch viele große Geister, die ebenfalls weiter an den Grundzügen einer freien und friedlichen Gesellschaft arbeiteten. Vor allem die amerikanische Unabhängigkeitserklärung war ein weiterer entscheidender Schritt in der Menschheit, auch die Religionsfreiheit der Minderheiten im eigenen Land zu tolerieren.

Und wo stehen wir heute? Die Toleranzfrage, die wir als solche überwunden zu haben glaubten, weil sie uns schon lange als selbstverständlich erscheint, stellt uns in Zeiten des neuen Terrors vor immer neue Herausforderungen. Es gibt große gesellschaftliche Debatten in Europa, politische Umbrüche und eine ganz ungewisse Zukunft, die unter anderem auch die Frage der Toleranz und des konkreten Umgehens im Alltag damit in den Mittelpunkt rückt.

Die großen Flüchtlingsströme, die weltweiten Migrationsbewegungen fordern aktiv gelebte Toleranz im neuen Schmelztiegel Europa mehr als je zuvor. Da Toleranz aber zugleich auch als Deckmäntelchen für vielerlei politische und religiöse Bestrebungen missbraucht werden kann, ist höchste Vorsicht geboten, wann, wie und wo hier eine Grenze zu ziehen ist. Die Grenzen werden derzeit immer enger gezogen; sowohl in unseren Herzen und Köpfen, wie auch mit Stacheldraht an unseren europäischen Landesgrenzen. Und das betrifft nicht nur die Außen- sondern selbst die Binnengrenzen. Das sollte uns in mehrdeutiger Hinsicht als Fakt und Metapher zugleich zu denken geben.

Unsere Gesetze, die auch die Frage der Toleranz und der Menschenwürde, der Freiheit und des Humanismus betreffen, sind nicht nur allein menschengemacht, sondern sie werden von Menschen auch äußerst unterschiedlich ausgelegt, was zu Problemen führt. Diesen Missbrauchsmöglichkeiten und gewissen neuen Bestrebungen gegenüber allerdings eine zu tolerante Einstellung der Toleranz selbst entgegenzubringen, kann zu einer gefährlichen Sache werden, wenn wir ihre Notwendigkeit für den Frieden dabei aus dem Auge verlieren.

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