Stefan Zweig

Dickens

Nein, man soll nicht Bücher und Biographen befragen, wie sehr Charles Dickens von seinen Zeitgenossen geliebt worden ist. Liebe lebt atmend nur im gesprochenen Wort. Man muß es sich erzählen lassen, am besten von einem Engländer, der mit seinen Jugenderinnerungen noch zurückreicht bis an jene Zeit der ersten Erfolge, von einem derer, die sich noch immer nicht nach nun fünfzig Jahren entschließen können, den Dichter des »Pickwick« Charles Dickens zu nennen, sondern ihm unentwegt seinen alten vertraulicheren, innigeren Necknamen »Boz« geben. An ihrer wehmütig rücksinnenden Rührung kann man den Enthusiasmus der Tausende messen, die damals mit ungestümem Entzücken jene blauen, monatlichen Romanhefte empfangen hatten, die heute, ein Rarissimum für den Bibliophilen, in Fächern und Schränken gilben. Damals – so erzählte mir einer dieser »old Dickensians« – konnten sie es am Posttage niemals über sich bringen, den Boten zu Hause abzuwarten, der endlich, endlich das neue blaue Heft von Boz im Bündel trug. Einen ganzen Monat hatten sie danach gehungert, hatten geharrt, gehofft, gestritten, ob Copperfield die Dora heiraten werde oder die Agnes, hatten sich gefreut, daß Micawbers Verhältnisse wieder zu einer Krisis gelangt waren – wußten sie doch, er werde sie mit heißem Punsch und guter Laune heroisch überwinden! –, und nun sollten sie noch warten, warten, bis der Postbote auf der schläfrigen Kutsche kam und ihnen all diese heiteren Scharaden auflöste? Das konnten sie nicht, es ging einfach nicht. Und alle, die Alten wie die Jungen, wanderten Jahr für Jahr am fälligen Tage dem Briefboten zwei Meilen entgegen, nur um ihr Buch früher zu haben. Im Heimwandern schon fingen sie an zu lesen, einer guckte dem andern über die Schulter ins Blatt, andere lasen laut vor, und nur die Gutmütigsten liefen mit langen Beinen zurück, um die Beute rascher zu Frau und Kind zu bringen. So wie dieses Städtchen hat damals jedes Dorf, jede Stadt, das ganze Land und darüber hinaus die in allen Erdteilen gesiedelte englische Welt Charles Dickens geliebt; hat ihn geliebt von der ersten Stunde der Begegnung bis zur letzten seines Lebens. Nie im neunzehnten Jahrhundert hat es irgendwo ein ähnlich unwandelbares herzliches Verhältnis zwischen einem Dichter und seiner Nation gegeben. Wie eine Rakete schoß dieser Ruhm auf, aber er losch nie aus, er blieb wie eine Sonne wandellos leuchtend über der Welt. Vom ersten Heft der »Pickwickier« wurden 400 Exemplare gedruckt, vom fünfzehnten bereits 40 000: mit solcher Lawinenmacht stürzte sein Ruhm nieder in seine Zeit. Nach Deutschland bahnte er sich schnell den Weg, Hunderte und Tausende kleiner Groschenhefte säten Lachen und Freude in die Furchen selbst der verwittertsten Herzen; nach Amerika, Australien und Kanada wanderte der kleine Nikolaus Nickleby, der arme Oliver Twist und die tausend anderen Gestalten dieses Unerschöpflichen. Heute sind schon Millionen Bücher von Dickens im Umlauf, große, kleine, dicke und dünne Bände, billige Ausgaben für die Armen und die teuerste Ausgabe drüben in Amerika, die je von einem Dichter veranstaltet worden ist (dreimalhunderttausend Mark, glaube ich, kostet sie: diese Ausgabe für Milliardäre), aber in all den Büchern nistet heute wie damals noch immer das selige Lachen, um aufzuflattern wie ein zwitschernder Vogel, sobald man die ersten Blätter gewendet hat. Beispiellos ist die Beliebtheit dieses Autors gewesen: wenn sie sich im Laufe der Jahre nicht steigerte, so war es nur, weil die Leidenschaft keine höheren Möglichkeiten mehr kannte. Als Dickens sich entschloß, öffentlich zu lesen, als er zum erstenmal seinem Publikum Auge in Auge entgegentrat, war England im Taumel. Man stürmte die Säle, pfropfte sie voll, an den Säulenpfeilern klammerten sich Enthusiasten an, krochen unter sein Podium, nur um den geliebten Dichter hören zu können. In Amerika schliefen die Leute bei bitterster Winterkälte auf mitgebrachten Matratzen vor den Kassen, Kellner brachten ihnen das Essen aus den benachbarten Restaurants, aber der Andrang wurde unaufhaltsam. Alle Säle wurden zu klein, und man räumte schließlich dem Dichter in Brooklyn eine Kirche ein als Vorlesesaal. Von der Kanzel las er die Abenteuer Oliver Twists und die Geschichte der kleinen Neil. Launenlos war dieser Ruhm, er drängte Walter Scott zur Seite, überschattete ein Leben lang das Genie Thackerays; und als die Flamme erlosch, als Dickens starb, ging es wie ein Riß durch die ganze englische Welt. Auf der Straße erzählten es Fremde einander, Bestürzung verstörte London wie nach einer verlorenen Schlacht. Zwischen Shakespeare und Fielding bettete man ihn, in Westminster Abbey, dem Pantheon Englands; Tausende strömten hinzu, und tagelang war die schlichte Gedenkstätte überflutet von Blumen und Kränzen. Und noch heute, nach vierzig Jahren, kann man selten vorübergehen, ohne ein paar von dankbarer Hand hingestreute Blüten zu finden: der Ruhm und die Liebe ist nicht gewelkt in all den Jahren. Heute wie damals in jener Stunde, da England dem Ahnungslosen, dem Namenlosen das unverhoffte Geschenk des Weltruhms in die Hand drückte, ist Charles Dickens der geliebteste, umworbenste und gefeierteste Erzähler der ganzen englischen Welt.

Eine so ungeheuerliche, gleicherweise in die Breite wie in die Tiefe dringende Wirkung eines dichterischen Werkes kann nur durch das seltene Zusammentreffen zweier meist widerstrebender Elemente Wirklichkeit werden: durch die Identität eines genialen Menschen mit der Tradition seiner Zeit. Im allgemeinen wirken das Traditionelle und das Geniale gegeneinander wie Wasser und Feuer. Ja, es ist beinahe das Merkzeichen des Genies, daß es als verkörperte Seele einer werdenden Tradition die vergangene befeindet, daß es als Ahnherr eines neuen Geschlechtes dem absterbenden Blutfehde ansagt. Ein Genie und seine Zeit sind wie zwei Welten, die zwar Licht und Schatten miteinander tauschen, aber in anderen Sphären schwingen, die sich auf ihren kreisenden Bahnen begegnen, aber nie vereinen. Hier ist nun jene seltene Sekunde des Sternenhimmels, wo der Schatten des einen Gestirns die leuchtende Scheibe des anderen so ausfüllt, daß sie sich identifizieren: Dickens ist der einzige große Dichter des Jahrhunderts, dessen innerste Absicht sich ganz mit dem geistigen Bedürfnis seiner Zeit deckt. Sein Roman ist absolut identisch mit dem Geschmack des damaligen England, sein Werk ist die Materialisierung der englischen Tradition: Dickens ist der Humor, die Beobachtung, die Moral, die Ästhetik, der geistige und künstlerische Gehalt, das eigenartige und uns oft fremde, oft sehnsüchtig-sympathische Lebensgefühl von sechzig Millionen Menschen jenseits des Ärmelkanals. Nicht er hat dieses Werk gedichtet, sondern die englische Tradition, die stärkste, reichste, eigentümlichste und darum auch gefährlichste der modernen Kulturen. Man darf ihre vitale Kraft nicht unterschätzen. Jeder Engländer ist mehr Engländer als der Deutsche Deutscher. Das Englische liegt nicht wie ein Firnis, wie eine Farbe über dem geistigen Organismus des Menschen, es dringt ins Blut, wirkt regelnd ein auf seinen Rhythmus, durchpulst das Innerste und Geheimste, das Ureigenste im Individuum: das Künstlerische. Auch als Künstler ist der Engländer mehr rassepflichtig als der Deutsche oder Franzose. Jeder Künstler in England, jeder wahrhafte Dichter hat darum mit dem Englischen in sich gerungen; aber selbst inbrünstigster, verzweifeltster Haß haben es nicht vermocht, die Tradition niederzuzwingen. Sie reicht mit ihren feinen Adern zu tief hinab ins Erdreich der Seele: und wer das Englische ausreißen will, zerreißt den ganzen Organismus, verblutet an der Wunde. Ein paar Aristokraten haben es, voll Sehnsucht nach freiem Weltbürgertum, gewagt: Byron, Shelley, Oskar Wilde haben den Engländer in sich vernichten wollen, weil sie das Ewig-Bürgerliche im Engländer haßten. Aber sie zerfetzten nur ihr eigenes Leben. Die englische Tradition ist die stärkste, die siegreichste der Welt, aber auch die gefährlichste für die Kunst. Die gefährlichste, weil sie heimtückisch ist: keine frostige Öde ist sie, nicht unwirtlich oder ungastlich, sie lockt mit warmem Herdfeuer und sanfter Bequemlichkeit, aber sie zäunt ein mit moralischen Grenzen, sie beengt und regelt und verträgt sich übel mit dem freien künstlerischen Trieb. Sie ist eine bescheidene Wohnung mit stockender Luft, geschützt vor den gefährlichen Stürmen des Lebens, heiter, freundlich und gastlich, ein echtes »home« mit allem Kaminfeuer bürgerlicher Zufriedenheit, aber doch ein Gefängnis für den, dessen Heimat die Welt, dessen tiefste Lust das nomadenhaft selige, abenteuerliche Schweifen im Unbegrenzten ist. Dickens hat sich behaglich in der englischen Tradition gemacht, hat sich häuslich eingerichtet in ihren vier Mauern. Er fühlte sich wohl in der heimatlichen Sphäre und hat nie, sein Leben lang, die künstlerische, moralische oder ästhetische Grenze Englands überschritten. Er war kein Revolutionär. Der Künstler in ihm vertrug sich mit dem Engländer, löste sich allmählich ganz in ihm auf. Sein Werk ist der unbewußte, Kunst gewordene Wille seiner Nation: und wenn wir die Intensität, die seltenen Vorzüge und die versäumten Möglichkeiten seiner Dichtung umgrenzen, rechten wir gleichzeitig immer mit England.

Dickens ist der höchste dichterische Ausdruck der englischen Tradition zwischen dem heroischen Jahrhundert Napoleons, der ruhmreichen Vergangenheit, und dem Imperialismus, dem Traum seiner Zukunft. Wenn er für uns nur ein Außerordentliches geleistet hat und nicht das Gewaltige, zu dem ihn sein Genie prädestinierte, so ist es nicht England, nicht die Rasse selbst, die ihn gehemmt hat, sondern der unverschuldete Augenblick: das viktorianische Zeitalter Englands. Auch Shakespeare war ja höchste Möglichkeit, poetische Erfüllung einer englischen Epoche: aber der elisabethanischen, des starken tatenfrohen, jünglinghaften, frischsinnlichen England, das zum erstenmal die Fänge nach dem Imperium mundi reckte, das heiß und vibrierend war von überschäumender Kraft. Shakespeare war der Sohn eines Jahrhunderts der Tat, des Willens, der Energie. Neue Horizonte waren aufgetaucht, in Amerika abenteuerliche Reiche gewonnen, der Erbfeind zerschmettert, von Italien her flackte das Feuer der Renaissance herüber in den nordischen Nebel, ein Gott, eine Religion waren abgetan, die Welt wieder anzufüllen mit neuen lebendigen Werten. Shakespeare war die Inkarnation des heroischen England, Dickens nur das Symbol des bourgeoisen. Er war loyaler Untertan der anderen Königin, der sanften, hausmütterlichen, unbedeutenden, old queen Victoria, Bürger eines prüden, behaglichen, geordneten Staatswesens ohne Elan und Leidenschaft. Sein Auftrieb war gehemmt durch die Schwere des Zeitalters, das nicht hungrig war, das nur verdauen wollte: schlaffer Wind nur spielte mit den Segeln seines Schiffes, trieb es nie fort von der englischen Küste zur gefährlichen Schönheit des Unbekannten, hinein in die pfadlose Unendlichkeit. Vorsichtig ist er immer in der Nähe des Heimischen, Gewohnten und Althergebrachten geblieben: wie Shakespeare der Mut des gierigen, ist Dickens die Vorsicht des satten England. 1812 ist er geboren. Gerade wie seine Augen um sich greifen können, wird es dunkel in der Welt, die große Flamme verlischt, die das morsche Gebälk der europäischen Staaten zu vernichten drohte. Bei Waterloo zerschellt die Garde an der englischen Infanterie, England ist gerettet und sieht seinen Erbfeind auf ferner Insel einsam ohne Krone und Macht zugrunde gehen. Das hat Dickens nicht mehr miterlebt; er sieht nicht mehr die Flamme der Welt, den feurigen Schein von einem Ende Europas sich gegen das andere wälzen; sein Blick tappt in den Nebel Englands hinein. Der Jüngling findet keine Helden mehr, die Zeit der Heroen ist vorüber. Ein paar in England wollen es freilich nicht glauben, sie wollen mit Gewalt und Enthusiasmus die Speichen der rollenden Zeit zurückreißen, der Welt den alten sausenden Schwung geben, aber England will Ruhe und stößt sie von sich. Sie flüchten der Romantik nach in ihre heimlichen Winkel, suchen aus armen Funken das Feuer wieder zu entfachen, aber das Schicksal läßt sich nicht zwingen. Shelley ertrinkt im Tyrrhenischen Meer, Lord Byron verbrennt im Fieber zu Missolunghi: die Zeit will keine Aventüren mehr. Aschfarben ist die Welt. Behaglich verschmaust England die noch blutige Beute; der Bourgeois, der Kaufmann, der Makler ist König und räkelt sich auf dem Thron wie auf einem Faulbett. England verdaut. Eine Kunst, die damals gefallen konnte, mußte digestiv sein, sie durfte nicht stören, nicht mit wilden Emotionen rütteln, nur streicheln und krauen, sie durfte nur sentimental sein und nicht tragisch. Man wollte nicht den Schauer, der die Brust wie ein Blitz spaltet, den Atem zerschneidet, das Blut einfrieren läßt – zu gut kannte man das vom wirklichen Leben, als die Gazetten aus Frankreich und Rußland kamen –, nur das Gruseln wollte man, das Schnurren und Spielen, das unablässig den farbigen Knäuel der Geschichten hin und her rollt. Kaminkunst wollten die Leute von damals, Bücher, die sich behaglich, während der Sturm an den Pfosten rüttelt, am Kamin lesen und die selbst so züngeln und knacken mit vielen kleinen ungefährlichen Flammen, eine Kunst, die das Herz wärmt wie Tee, nicht eine, die es freudig und lodernd berauschen will. So ängstlich sind die Sieger von vorgestern geworden – sie, die nur behalten möchten und bewahren, nichts mehr wagen und wandeln –, daß sie Angst haben vor ihrem eigenen starken Gefühl. In den Büchern wie im Leben wünschen sie nur wohltemperierte Leidenschaften, keine Ekstasen, die aufstürmen, immer nur normale Gefühle, die sittsam promenieren. Glück wird in England damals identisch mit Beschaulichkeit, Ästhetik mit Sittsamkeit, und Sinnlichkeit wiederum mit Prüderie, Nationalgefühl mit Loyalität, Liebe mit Ehe. Alle Lebenswerte werden blutarm. England ist zufrieden und will keinen Wandel. Eine Kunst, die eine so satte Nation anerkennen kann, muß darum selbst irgendwie zufrieden sein, das Bestehende loben und nicht darüber hinaus wollen. Und dieser Wille nach einer behaglichen, freundlichen, einer digestiven Kunst findet sein Genie, wie einst das elisabethanische England seinen Shakespeare. Dickens ist das Schöpfung gewordene künstlerische Bedürfnis des damaligen England. Daß er im richtigen Augenblicke kam, schuf seinen Ruhm; daß er von diesem Bedürfnis überwältigt wurde, ist seine Tragik. Seine Kunst ist genährt von der hypokritischen Moral von der Behaglichkeit des satten England: und stände nicht eine so außerordentliche dichterische Kraft hinter seinem Werke, täuschte nicht sein glitzernder, goldfunkelnder Humor hinweg über die innere Farblosigkeit der Gefühle, so hätte er nur Wert in jener englischen Welt, wäre uns indifferent wie die Tausende von Romanen, die jenseits des Ärmelkanals von fingerfertigen Leuten produziert werden. Erst wenn man aus tiefster Seele die hypokritische Borniertheit der viktorianischen Kultur haßt, kann man das Genie eines Menschen mit voller Bewunderung ermessen, der uns diese widerliche Welt der satten Behäbigkeit als interessant und fast liebenswert zu empfinden zwang, der die banalste Prosa des Lebens zu Poesie erlöste.

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