Ein Kind ist verschwunden

Ein Albtraum von Christa Schyboll

Wir hatten einen Termin in einer großen Stadt. Der Kleine, zwei Jahre alt, musste mit. Alles war etwas knapp und wir in Eile. Dazu kam noch eine Zugverspätung und geringe Ortskenntnisse. Kurz hinter dem Bahnhof wurde mein Mann von jemandem angesprochen, der seine Aufmerksamkeit brauchte. Da Eile angesagt war, sagte, ich: »Mach langsam, klär die Sache, wir gehen schon mal vor. Du weißt ja, wo wir sind.« Also eilte ich mit dem Kleinen weiter.

In der Nähe des Zielortes fand ich jedoch nicht direkt den Eingang, da es sich um ein unübersichtliches Karree handelte, zu dem es sehr viele Zugänge gab und Schilderbeschriftungen ohne Ende. Da musste ich mich erst einmal kundig machen. Ich kramte nochmals den Stadtplan und die genaue Adresse heraus; wir waren richtig, aber der Eingang war erst noch aufzuspüren. Ich schaute, rechts, links, nach hinten, nach vorne --- wo sollte ich da mit dem Lesen des Schilderchaos erst einmal anfangen? Doch zuerst der Kleine. Ich schaute wieder nach rechts, links, nach vorne, nach hinten: Er war weg.

Adrenalin schoss hoch. Obschon ich ahnte, er kann gar nicht weit weg sein. Vor wenigen Augenblicken stand er doch noch bei mir.

Trotzdem Adrenalin! Sofortiges Rufen und loslaufen… In welche Richtung zuerst? Ich entschied mich für die, woher wir gekommen waren. Eine Instinktentscheidung. Eine falsche. Er war nirgends zu sehen. Los, die nächste Möglichkeit! Es gab nicht weniger als sechs Möglichkeiten… alles war unübersichtlich in dieser großen Passage mit den vielen Laufwegen, die zudem teils auch in Geschäfte führten.

Der Blutdruck stieg, mein Herz raste. Der muss doch hier irgendwo sein. Sprechen kann er noch nicht. Seinen Namen sagen auch nicht. Kinderbrabbeln konnte er gut. Verstehen auch – Erwachsenen verständlich antworten: Niente!

Wo bist du?

Zum Adrenalin und dem rasenden Herz macht sich nun doch Panik breit, weil er einfach nirgends zu sehen war. Das gibt es normaler Weise gar nicht, dachte ich. Die Zeiteinheit, die ich für das Studium des Stadtplanes brauchte, war doch so kurz! Das kann doch gar nicht sein. Und doch war es so. Er war weg.

Ich drohte hysterisch zu werden!

Dann sah ich plötzlich von weitem einen Mann, ein Kind, mein Kind, ein Auto. Die Autotür ging auf, das Kind wurde auf den Rücksitz gesteckt.

Mir blieb das Herz stehen. Er wurde entführt. Mitten am Tag hier in der belebten Stadt voller Menschen und einer suchenden, rufenden, verzweifelten Mutter.

Ich hatte das Bild noch nicht einmal vollbewusst realisiert, da verfiel ich in einen direkten Schockzustand! Ich war nicht fähig, mir Mann, Autokennzeichen, ja nicht einmal die Autofarbe zu merken. Irgendwas Dunkles. Zudem war das Ganze auch noch zu weit weg, meine Aufregung sehr hochgradig, aber es war nah genug, um mein Kind an seiner auffälligen Kleidung zu erkennen.

Die Schocklähmung brachte auch eine sofortige Atemlähmung mit sich und ich konnte in diesem Augenblick nicht einmal die Notrufnummer wählen… Einen Augenblick später jedoch sprintete ein Etwas in und mit mir los; atemlos los! Das Auto fuhr schon weg. Zu spät.

Mich überkam eine stille Verzweiflung. Nein, keine Tränen, sondern eine Ohnmacht, die nur noch tiefer in die Leere führte. Dann endlich konnte ich die Polizei anrufen. Ein Stammeln, man konnte mich nicht beruhigen. Ich war nicht einmal fähig, den Straßennamen zu sagen, auf dem ich mich jetzt in der Hin- und Her-Lauferei befand. Mein Mann war zwischenzeitlich zur Praxis gegangen, fragte nach mir und ging mich dann draußen suchen.

Da saß ich nun am Straßenrand und schaute ins Leere…

Das war der erste Teil des Traumes der vergangenen Nacht.

Ich erwachte aus diesem Alptraum und erinnerte mich blitzschnell an eine ähnliche, allerdings leider reale Episode am Ostseestrand vor fast 38 Jahren. Da war der Kleine real verschwunden… - mit seinem kleinen Freund. Adrenalin, Schock, Angst, Suche – und ein glückliches Auffinden unseres Kindes nach mehrfach abgehetztem Strandlauf mit irrem Blick in alle Richtungen gleichzeitig! Er saß wohlbehalten auf dem Schoß einer älteren Dame, die ruhig auf ihn einsprach. Er war nicht einmal weit entfernt – aber wir hatten ihn in diesem Strandkorb einfach auch nicht gesehen… Aber wo war der kleine Freund? In der Nähe? – Nein. Der kleine Freund war weiter- und weitergelaufen. Das real erlebte Angstdrama dauerte also an. Unsere atemlose Suche steigerte unsere Sorgen aufs Äußerste … Wir liefen und riefen, riefen und liefen… Weit, ganz weit hinter dem Strand, wo sich kein Erwachsener mehr befand, saß das kleine Kerlchen ganz allein und völlig erschöpft am Meer.

Wie gut wäre es nun gewesen, wenn diese Nacht nun mit diesem furchtbaren Alptraum, dem ein altes Realerlebnis zu Grunde lag, zu Ende gewesen wäre! Aber so war es nicht. Ich schlief wieder ein und träumte eine ähnliche Entführungsszenerie nun auf dem Bonner Marktplatz – ähnliche Inhalte, gleicher Schock. Ich wurde wieder wach und dachte: Das gibt es doch nicht! Wieso gleich zweimal hintereinander! Das gibt es doch einfach nicht! Doch, gab es.

Und nochmals schlief ich ein. Und wer’s nicht glauben mag oder kann: Sei’s drum! Es ist die Wahrheit! Ich träumte eine dritte Version einer Entführung. Wieder fast gleiche Inhalte, nur die Örtlichkeit nochmals eine andere.

Ich hatte die Nase nun endgültig voll. Die Nacht wurde beendet.

Die Nachwirkung des Alptraums dauert noch an.

Dreimal das Gleiche in einer Nacht, das gibt zu denken.

Aber noch bin ich nicht fündig geworden, worin nach fast vier Jahrzehnten dieses kurzen, aber schockierenden und realen Dramas eine dreifache Traumwiederholung ihren Sinn hat.

Die Jahrzehnte dazwischen: Wie nie existent. Die Zeit als Schimäre einer Hilfskonstruktion im Raum. Die Angst und die Ohnmacht in aller Frische vorhanden.

(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 61ff)

— 09. März 2022
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