Lebensarbeitszeitkonto mit Abhebeoption

Ein revolutionäres Konzept für die Zukunft findet Tom Borg

Ein Lebensarbeitszeitkonto für alle wäre etwas revolutionäres, etwas, das unsere Gesellschaft von Grund auf verändert, wenn es wirklich konsequent umgesetzt würde. Und dabei doch auch etwas grundsolide gerechtes: Wer viel arbeitet, zahlt viel ein auf sein Lebensarbeitszeitkonto.

Unsere neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist bekannt dafür, mit Ideen um sich zu werfen die sich manchmal nur sehr schwer durchsetzen oder gar umsetzen lassen. Doch auch für von der Leyensche Verhältnisse ist der Kracher, den sie jetzt mit Blick auf die Bundeswehr in die Runde wirft, eine revolutionäre Zukunftsvision, deren Tragweite vermutlich nicht einmal die Initiatorin ganz abschätzen kann.

Dabei klingt es doch auf den ersten Blick ganz plausibel wenn Ursula von der Leyen bekennt:"Ich denke auch an Lebensarbeitszeitkonten, auf die Überstunden eingezahlt werden und von denen Freizeiten abgehoben werden können, sei es für die Betreuung von kleinen Kindern oder alter Eltern." Wow, ja, gerne. Doch weiß die Mutter der Truppe eigentlich, was sie da los tritt?

Ein Lebensarbeitszeitkonto für alle - denn Gerechtigkeit muss ja wohl sein! - wäre etwas revolutionäres, etwas, das unsere Gesellschaft von Grund auf verändert, wenn es wirklich konsequent umgesetzt würde. Und dabei doch auch etwas grundsolide gerechtes. Wer viel arbeitet, zahlt viel ein auf sein Lebensarbeitszeitkonto. Das ist nur gerecht. Ebenso, dass er das eingezahlte irgendwann wieder abheben darf, was in der Praxis ja nicht immer so gesehen wird. Man denke nur an die Arbeitslosenversicherung in die man zwar ein Leben lang einzahlen darf, aber nicht auch mal eben so in Anspruch nehmen darf. Wer 30 Jahre seine Prämien brav bezahlt hat und dann arbeitslos wird und meint, jetzt könne er seine Versicherung jetzt auch mal ein halbes Jahr oder gar länger in Anspruch nehmen, der bekommt vom Sozialsystem kräftig den Marsch geblasen: Einzahlen, ja, aber in Anspruch nehmen bitte erst kurz vor dem Verhungern - und auch dann maximal 3 Tage, um es mal etwas überspitzt zu formulieren.

Da fragt man sich natürlich, ob man seine eingezahlten Lebensarbeitsstunden einfach so ausgezahlt bekommt. Man stelle sich einmal vor: eine Verkäuferin leistet täglich 2 Überstunden - und das 10 Jahre lang. Dann hat sie bei angenommenen 250 Arbeitstagen pro Jahr am Ende 2 * 250 * 10 = 5.000 Stunden auf ihrem Lebensarbeitszeitkonto angespart. Das entspräche bei einer 38 Stundenwoche 131 Wochen Urlaub - oder rund 3 Jahre. Und die soll man sich auszahlen lassen können, wann immer einem danach ist? Das wäre sensationell!

Wer zahlt die Rechnung?

Ein Lebensarbeitszeitkonto würde ich begrüßen, wenn es auch die Selbständigen berücksichtigt. Denn ich als Freiberufler habe weder eine Arbeitslosenversicherung, noch interessiert es irgendjemanden, ob ich morgen noch Arbeit habe. Dürfte ich auch in die Lebensarbeitszeitkasse einzahlen? Und wer würde mir die Stunden dann auszahlen? Der Staat? Eine staatlich kontrollierte Einrichtung a la Sozialamt?

Und das ist noch der harmlose Gedankengang, da ich Selbständiger bin. Doch was passiert bei einem Arbeitnehmer, der im Laufe seines Lebens den Arbeitgeber wechseln musste - sei es einmal oder gar mehrfach? Wenn ein solcher Arbeitnehmer nach 20 Berufsjahren Hunderte oder gar Tausende von Arbeits(über)stunden auf seinem Lebensarbeitszeitkonto hat, wer bezahlt dann die Inanspruchnahme der Auszahlung? Der aktuelle Arbeitgeber etwa? Der würde sich bedanken!

Reduziert man das ganze Modell auf die Dauer eines Arbeitsverhältnisses, dann wird es realitätsfremd. Bezieht man es nur auf die Bundeswehr, wäre es gesellschaftlich ungerecht und untragbar.

Dabei kann man sowohl bei der Bundeswehr als auch in der Privatwirtschaft in den Sonderfall rutschen, dass infolge einer Insolvenz oder einer Bundeswehrreform der einzige Arbeitgeber eines Arbeitnehmers einfach wegfällt. Was dann?

Dabei ist die Idee als solche gar nicht so schlecht, ja ich würde sie zu 100% begrüßen. Ich kenne beispielsweise einen Verlag bei dem die Mitarbeiter ihre Überstunden in Form von Freizeit vergütet bekommen. Eigentlich ja nicht schlecht. Nur der Haken dabei ist: Der Verlag hat keine Kapazitäten um die in Anspruch genommenen Freistunden auszugleichen. Die mangels einer fehlenden Mitarbeiterin nicht geleistete Arbeit bleibt einfach liegen oder wird durch andere Mitarbeiter erledigt, die dadurch selbst Überstunden leisten müssen. Ein Polster X an unbezahlten Überstunden rotiert so munter durch die Belegschaft und wird durch die Freistunden nur mäßig ausgeglichen. Denn wer kann sich schon richtig entspannen wenn er weiß, dass sich mit jeder freien Stunde die Arbeit auf seinem Schreibtisch weiter anhäuft? Da wäre es schon besser, man könnte seine Arbeitsstunden einfach auf ein Lebensarbeitszeitkonto einzahlen - und alle wären zufrieden: Der Verlag, weil die Arbeit getan ist, die Kollegen weil sie nicht einspringen müssen … und der Arbeitnehmer weil er ein schönes Polster aufbaut. Aber kann unsere Gesellschaft das überhaupt aushalten?

Was wäre wenn jemand sich in jungen Jahren ein fettes Lebensarbeitszeitkonto aufbaut, Überstunde nach Überstunde schiebt, und dann mit 40 sich aus dem Arbeitsprozess verabschiedet, weil er auf seinem Lebensarbeitszeitkonto so viel eingezahlt hat, dass es bis zum Renteneintritt reicht? Was gäbe das böses Blut, wenn das viele machen würden….!

Gesellschaftlicher Reformbearf

Aber eine ganz andere Frage schließt sich an: Wenn jemand mit 40 aufhört zuarbeiten und von seinem Lebensarbeitszeitkonto lebt, erwirbt er damit trotzdem weiterhin Rentenansprüche? Schließlich wird die Rente nach Beitragsjahren berechnet, nicht nach geleisteten Arbeitsstunden. Rententechnisch gesehen sind 20 Jahre mit 4 Stunden pro Tag mehr als 10 Jahre mit 8 Stunden pro Tag. Und Leben vom Lebensarbeitszeitkonto wäre demzufolge gar nicht relevant für die spätere Rente. Da wären auch hitzige Debatten zu erwarten, weil schlichtweg das gesamte System der Rentenanwartschaft reformiert werden müsste. Das wiederum könnte ja die neue Aufgabe von Ursula von der Leyen in der nächsten Regierung werden…

Doch Spaß beiseite. Die Idee des Lebensarbeitszeitkontos ist eine gute Idee, das sieht Frau von der Leyen vollkommen richtig und man sollte sie für diesen Weitblick loben. Die Idee enthält aber gesellschaftlichen Sprengstoff für mehr als eine Koalition - und schier unlösbare Komplikationen in Form von unzähligen Schatten über die so mancher springen müsste. Wer wagt sich an solch eine Aufgabe?

Aber einen gesellschaftlichen Aufschrei gäbe es auch, wenn ein solches Lebensarbeitszeitskonto nur für Soldaten eingerichtet würde. Deren Arbeit und Leistung soll hier nicht geschmälert werden. Aber andere Arbeitnehmer leisten auch viele, sehr viele Überstunden.

Sind wir wirklich reif für eine Gesellschaft, in der jeder so viel arbeitet wie er arbeiten möchte - und dann auch so viel Freizeit nehmen kann, wie er sich erworben hat? Was, wenn alle Bäcker einer Stadt just im gleichen Winter für 4 Monate in die Karibik entfliehen wollen…?

Ich für meinen Teil könnte damit gut leben wenn ich Arbeitnehmer wäre. Es wäre gerecht, ja gerechter, als das aktuelle Modell. Denn wer seine ausbezahlten Überstunden auf ein Sparbuch packt und hofft, dass sie in 20 Jahren noch vorhanden sind, der kann unter Umständen sein blaues Wunder erleben. Wer dann jedoch seine Überstunden in Form von frei wählbarem Urlaub ausgezahlt bekommt, der ist fein raus. Vorausgesetzt es handelt sich um bezahlten Urlaub. Doch wer soll das bezahlen, möchte man fragen? Wer garantiert das ganze - und vor allem: was ist Lebensarbeitszeit wert? Darüber streitet man sich ja schon jetzt bei Mütter und Renten. Doch was, bittschön, sind 200 im Jahr 2014 geleistete Überstunden im Jahr 2030 wert wenn ich sie dann nehmen möchte oder gar außerplanmäßig nehmen muss aus familiären Gründen oder wegen Insolvenz meines Arbeitgebers? Und MUSS ich die nehmen, wenn ich arbeitslos werde oder darf ich meine Arbeitslosenversicherung in Anspruch nehmen und mein Zeitkonto unangetastet lassen? Darauf, liebe Frau von der Leyen, hätte ich gerne eine Antwort. Und ich wünschte von ganzem Herzen, Sie hätten darauf tatsächlich eine verbriefte Antwort auf der man einen Lebensentwurf gründen kann.

Ein Lebensarbeitszeitkonto könnte unsere Gesellschaft bereichern, Lebensentwürfe flexibler machen und neue Anreize bieten. Aber unsere Gesellschaft könnte auch daran zerbrechen, am Neid derer, die ein leeres Lebensarbeitszeitkonto haben oder einfach keine Überstunden leisten wollen; Menschen, die lieber jetzt leben und die Zukunft auf morgen verschieben - und dann auf Zeitgenossen treffen, die jetzt schuften und die Zukunft mit Urlaub gleichsetzen. Hält unsere Gesellschaft wirklich so viel Flexibilität aus?

— 12. Januar 2014
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