Armut fängt im Kopf an

Es gibt immer einen Weg - man muss ihn nur gehen, meint Tom Borg

Wenn man seine Ziele aus den Augen verliert und sich an dem Schein orientiert, den so manche Werbung verspricht, dann fühlt sich selbst ein Bank-Manager arm. Und vielleicht ist er es auch, wenn er den ganz Tag lang nur dem Gewinn hinterher hechelt.

Seit fast 20 Jahren bin ich nun mit einer Filipina verheiratet und fast genauso lange ist her, dass ich das erste Mal auf den Philippinen war. Eigentlich nichts besonderes – abgesehen davon, dass ich meine Schwiegereltern und den Großteil meiner neuen Familie damals noch nicht kannte. Doch was sollte schon groß passieren? Meine Frau war nicht nur jung wie ich, sondern auch – allen boshaften Vorurteilen zum Trotz - nett und gebildet und eigentlich sowas wie das nette Mädchen von nebenan. Was sollte da schon schlimmes kommen…?

Die Ankunft in Manila war noch nichts besonderes. Wie jedes Mal wurde ich beim Verlassen des gekühlten Airports von einer Hitzewelle erschlagen. Und bevor ich mich so richtig umsehen konnte, saß ich bereits im Taxi Richtung Hotel. Der 4-Sterne Palast machte einen guten Eindruck, aber für mehr als ein Abendessen im Lokal um die Ecke und einen anschließenden Spaziergang zurück zum Hotel war nicht. Am nächsten Morgen ging es weiter zum nationalen Flughafen. Auf dem Weg dorthin sah ich zum ersten Mal etwas weniger prachtvolle Straßen mit Straßenhändler und Kinder, die am Straßenrand in Bruchbuden sitzend alles mögliche verkaufen sollten.

Mit dem Flugzeug ging es eine Insel weiter, ein Katzsprung. Der Flieger war kaum oben, da ging es schon wieder runter. Kaum Zeit, über die neuen Eindrücke nachzudenken. Der alte Flughafen der Stadt Bacolod auf Negros war dann schon etwas gewöhnungsbedürftig. Eigentlich war es gar kein Flughafen, sondern eher eine Zementpiste mit zwei Baracken die als Abfertigungshallen dienten. Aber das leicht mulmige Gefühl wurde aber gleich wieder verdrängt, als die laut winkende Familie uns in Empfang nahm. Lauter fremde Gesichter, eine fremde Sprache – und ganz viel Geschnatter. Bevor ich mich versah, saß ich im Jeepney vorne neben meinem Schwager der als Fahrer arbeitete und das ganze Gefährt kurzerhand zum Familientransport umfunktioniert hatte.

Während meine Frau hinten mit ihrer Familie plauderte, hatte ich die Gelegenheit, mir die Gegend anzusehen. Bacolod selbst war im ersten Moment gar nicht soviel anders als die Straßen Manilas. Doch dann wurde es immer ländlicher und ärmlicher, bis wir in einer Stadt ankamen, die glatt als Kulisse für einen Goldgräberfilm im letzten Jahrhundert hätte herhalten können. Na ja, dachte ich mir, warten wir erstmal ab, wie es bei Schwiegermama aussieht. Weit kann es ja nicht mehr sein. Und damit hatte ich recht. Mitten in dem Kulissenkaff fingen die Leute plötzlich alle an zu winken als sie uns sahen – und dann blieb der Jeepney stehen und meine Frau meinte nur: wir sind da. Oh, Gott, dachte ich. Hier…?!

Der zweite auf mich einströmende Eindruck waren die fröhlichen Gesichter von all den Menschen, die auf uns zu drängten. Klar, überall erstmal freudige Begrüßung und bis abends ging es durch‘s halbe Dorf - Familie, Verwandte und Freunde besuchen. Da ich die Sprache nicht verstand und philippinische Frauen sowieso oft unter sich sind, wurde ich kurzerhand bei den Männern abgestellt. Echte Männer! Keine Milchbubis, und schon gar keine Sesselpupser wie ich. Den Männern sah man sofort an, dass sie gewohnt waren, sich um alles zu kümmern. Der nächste Polizist war eh eine mittlere Weltreise entfernt und einen Anwalt hätte dort sowieso keiner bemüht. Dort regeln die Leute selbst, was zu regeln ist. Und auch wenn man mich freundlich anlächelte, spürte ich doch sofort wie man mich musterte. Die Leute wollten wissen, wenn meine Frau denn da angeschleppt hat. Und bevor ich mich richtig sammeln konnte, drückte man mir ein Bier in die Hand, schob mich zur Bank und fragte neugierig: wie ist es denn so bei euch? Einer hatte wohl mal aufgeschnappt, dass es damals noch Ost- und West-Deutschland gab und fragte, ob es da wirklich eine Mauer quer durch unser Land gäbe. Und so langsam fing ich an, mich wohl zu fühlen. Ja, und dann wurde mir auch die groteske Situation bewusst. Eigentlich war ich ja derjenige, der aus dem reichen Deutschland kam, während meine Gastgeber im wahrsten Sinne des Wortes nicht so recht wussten, was sie am nächsten Tag essen sollten. Aber sie stellten mir ein Bier hin und löcherten mich mit Fragen über mein Land und Leben.

Würden wir hier in Deutschland einfach so einen Asiaten oder Afrikaner zu uns an den Tisch einladen und ihn bitten, uns etwas über sein Land zu erzählen? Wohl kaum. Aber diese Menschen, die selber kaum etwas zu beissen hatten, stellten mir Bier und Essen hin, obwohl ich für sie ein völlig Fremder war, nicht einmal Verwandschaft. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass diese Menschen anders denken als wir. Sie lebten das Jetzt und genossen den Augenblick. Die rechneten nicht nach, wieviel Geld für den nächsten Tag übrig blieb - sie gaben es einfach aus. Der nächste Tag wird schon neues Geld bringen. Armut beginnt im Kopf. Nur wenn man daran denkt, empfindet man sie. Für die Menschen dort im Dorf war es normal, dass sie nichts hatten. Es war keine Sorgenfalte wert. Irgendwoher kommt schon ein Gelegenheitsjob und wenn nicht, dann leiht man sich was beim Nachbarn. So geht das munter reihum – und es funktioniert irgendwie. Als ich abends im Fernsehen eine Werbung sah, die ein Scheuermittel für eine Badewanne anpries, wie sie selbst der reiche Landbesitzer im Dorf nicht hatte, da bekam ich als Antwort nur ein Achselzucken und die Antwort: sowas haben wir hier nicht, na und…?

Trotzdem wurde mir sehr schnell bewusst, dass es materiell an allem mangelte. Umso mehr wunderte es mich, dass die Kinder in Uniformen zur Schule gingen, die zumeist top sauber aussahen. Einmal sah ich sogar im Vorbeifahren an der Landstraße ein Kind mit perfekt gebügelter Schuluniform und blitzsauber gewaschen aus einer Hütte kommen, die man hierzulande nicht einmal seinem Hund zumuten würde. Dazu muss man wissen, dass es dort keine Waschmaschinen gibt. Gewaschen wird in einer Schüssel mit Wasser aus einer Quelle. Wohl dem, der ein Rinnsal hinter seiner Hütter hat. Gebügelt wurde mit einem Uralt-Eisenteil, das wohl schon unsere Großmütter naserümpfend in den Müll geworfen hätten. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass ich als kleiner Junge es geschafft hätte, sauber durch die schmutzigen Türen zu kommen. Aber diese Kinder trugen ihre bitzsauberen Unformen als wäre es das normalste der Welt. Es war ein irritierender Widerspruch: eine vergammelte Holzhütte aus der ein – auch nach deutschen Verhältnissen – perfekt gekleidetes Mädchen in Schuluniform hervorkroch. Auf meinen fragenden Blick meinte meine Schwägerin: Wir sind zwar arm, aber deswegen können wir trotzdem ordentlich sein. Wow, das hatte gesessen. Und, ja, es stimmt: das eine hat mit dem anderen tatsächlich nichts zu tun. Und wieder wurde mir bewusst: Armut fängt im Kopf an.

Für die Menschen in einem Entwicklungsland wie die Philippinen sind die materiellen Dinge nicht so wichtig. Dort stehen eher die menschlichen, sozialen Werte im Vordergrund. Klar, hätte da jeder gerne das neueste Handy und ein eigenes Auto im Carport anstatt selbst in einer wackeligen Holzhütte zu hausen. Aber es fällt den Leuten nicht im Traum ein, deswegen zu jammern oder gar Trübsal zu blasen und schon gar nicht nächtelang wach zu liegen aus Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren. Nein, Armut beginnt im Kopf. Nur wenn man die trüben Gedanken zulässt, empfindet man sich selbst als arm – egal wie auch immer die materielle Situation sein mag. Menschen in Entwicklungsländer gehen die Probleme einfach an, sie leben das was sie haben und machen für sich das beste daraus. Vor allem die junge Generation widerlegt so manches hartnäckige Vorurteil: In ein reiches Industrieland heiraten um alle finanziellen Sorgen loszuwerden? Die gut ausgebildete Jugend denkt nicht mal darüber nach, auch wenn es wahrlich einiges zu gewinnen gäbe. Die heutigen College-Absolventen wollen aber in erster Linie ihr eigenes Land aufbauen, selber etwas erreichen, wenn auch weniger materiell als persönlich. Sie wollen aus ihrem Leben etwas machen, ihre Chancen nutzen, ihre Begabungen gebrauchen. Indien hat es vorgemacht: Mit Bildung kann man etwas erreichen. Die IT-Experten Indiens sind weltweit gefragt. Am Anfang hatten die meisten von ihnen wohl auch nicht mehr als den Willen, etwas zu verbessern. Armut und Fortschritt fängt eben im Kopf an.

Wenn man seine Ziele aus den Augen verliert und sich an dem Schein orientiert, den so manche Werbung verspricht, dann fühlt sich selbst ein Bank-Manager arm. Und vielleicht ist er es auch, wenn er den ganz Tag lang nur dem Gewinn hinterher hechelt. Klar, es gibt materielle Nöte, wer hat die nicht dann und wann. Auch mein Konto war schon oft leerer als es meinem Wohlfühlempfinden gut tat und ich vertrete auch vehement die Ansicht, dass jemand, der sein Leben lang in die Sozialsysteme eingezahlt hat, auch das Recht hat, diese Versicherungen in Anspruch zu nehmen, wenn er sie braucht. Aber wenn ich eines von meinen philippinischen Verwandten und Freunden gelernt habe, dann dies: es gibt immer einen Weg – man muss nur bereit sein, ihn zu gehen…!

Ja, so mancher Weg gefällt uns nicht. Aber wie oft führt ein trostloser Weg zu einem wunderschönen Ort? Ginge es nach dem Weg, würden wir ihn als Maßstab nehmen, so würden wir viele Schönheiten schlichtweg verpassen, im Kopf ablehnen, weil uns der Weg nicht gut genug war. Deshalb bleibe ich dabei: Armut beginnt im Kopf. Nur, wer sich freimachen kann von Vorurteilen, im Moment nicht realisierbaren Wünschen und der aktuellen tristen Situation, und das Leben so annimmt wie es ist, der hat die Kraft, einen Schritt vorwärts zu gehen. Dass es immer einen Weg gibt, das zeigen uns die Entwicklungsländer, die von so manchem Kolonialherren gebeutelt Schritt für Schritt vom Entwicklungsland zum Schwellenland aufsteigen und trotz aller Widrigkeiten vermehrt mit ihren Produkten an unsere industriellen Türen klopfen. Armut beginnt im Kopf – Fortschritt ebenfalls…

— 15. Oktober 2010
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