Störungen in der Lebensordnung

Über Freud und Leid des Miteinanders schreibt Christa Schyboll

Um meiner Lieblingstätigkeit nachzugehen, brauche ich Stille und Konzentration. Das geht zu einem zu Lasten von Musikgenuss, zum anderen auch zu Lasten einer gewissen Geselligkeit. Doch jeder von uns muss seine eigenen Prioritäten setzen, was immer bedeutet, zu Gunsten von etwas anderen zu verzichten. Was dabei mehr oder weniger verzichtbar ist, entscheiden entweder das innere Gefühl oder äußere existenzielle Bedingungen.

Doch wer glaubt, in meiner selbstgewählten Rückzugsenklave wäre nun nichts los, der irrt. Denn ständig klopft jemand bei mir an. Und wäre es nur »jemand«…! Nein sie kommen auch zu zweit, zu dritt oder gleich in einer kleinen Gruppe. Wie immer kommen sie unangemeldet. Auch uneingeladen. Ich bin also keineswegs immer auf diesen Besuch eingestellt. Dennoch, als höflich erzogener Mensch bitte ich sie, meistens, eben doch herein. Es müssen schon besondere Umstände sein, um meine Tür für sie erst gar nicht zu öffnen.

Bin ich inkonsequent? Manchmal ja. Oft eigentlich. Aber warum lasse ich mich denn ablenken und habe dabei solche ambivalenten Gefühle? Vermutlich deshalb, weil diese Situation als solche selbst ambivalent ist: Da sind Störer, die mich bereichern könnten. Das tun sie nicht immer. Aber schon meine Verblüffung ob ihres plötzlichen Auftauchens an sich ist schon eine gewisse Bereicherung. Denn mit ihnen hatte ich ernsthaft nicht gerechnet. Und zudem ist Verblüffung in durchorganisierten Zeiten ein Sonderfall des Alltags.

Manche klopfen vorsichtig an. Andere klingeln mich so brachial aus meiner Konzentration, dass Wut in mir hochkommt. Warum gerade jetzt? Warum gerade du? Nach so vielen Jahren? Wieso suchst du mich auf? Was willst du von mir? Habe ich dir etwas getan? Haben wir noch eine alte Rechnung offen? Sehnst du dich nach mir? Fehlte ich dir? Was willst hier und jetzt?

Manchmal kommt ein Lächeln meines Besuches, der nicht mein Gast ist, sondern eben eine spontane Überraschung. Ob er infolge seines Verweilens bei mir zum Gast wird, hängt von den Umständen ab. Aber Überraschungen an sich bergen Potenzial. Auch dann, wenn es gerade stört.

Was sind Störungen? Sind sie nicht die Aufforderung, das Gewohnte für eine neue Nuance zu öffnen? Sind sie nicht schicksalhafte Momente, wo urplötzlich etwas vor einem steht, dass noch erledigt werden will oder muss. Sind Störungen nur die eigenen oder gemeinsamen Verdrängungen, die ans Oberwasser des Bewusstseins schwemmen und in Zeit und Raum sich um Wahrnehmen und Ernstnehmen bemühen? Sind sie lästig, aber voller kreativer Impulse?

Man erfährt es nur, wenn man sich einlässt.

Dennoch bleibt nach solchen unerwarteten Besuchen ein Mysterium zurück. Ein Fragezeichen. Denn diese Besuche spielen sich ja »nur« im Kopf ab. Kopfbesuche. Plötzlich auftretende Gedanken in Form konkreter Menschen. Lebendige Gesichter mit Mündern, die lautlos zu mir sprechen. Menschen, die mich zwingen, nun an sie zu denken und in einen inneren Dialog zu treten. Alles nonverbal, versteht sich. Gedankenkonstruktionen mit gefühlvoller Zutat anhand hochsteigender Erinnerungen an Vergangenes. Gutes, Schlechtes, Wichtiges, Banales, Epochales…

Aber was heißt schon »nur« in diesem Zusammenhang? Diese Besucher sind in mir so lebendig, dass ein physisch realer Besuch von Herrn oder Frau X da oft nicht einmal im Ansatz mithalten kann.

Allein schon das zeigt mir die Relativität des Lebendigen.

Im Kopf, in Gedanken, in Gefühlen, in der Bauchgegend und erst recht im Herzen ist die Lebendigkeit oft in wesentlich stärkerer Dimension erfahrbar als … real live. Merkwürdig… Oder auch nicht. Vielleicht ist die eigene Lebendigkeit dabei mit entscheidend, die nicht ausgebremst wird durch eine real vorhandene Seichtheit oder Stupidität manch einer – lebenden Person?

Schaltet mein Hirn bei solchen Besuchen unwillkürlich also auf eine Superrealität um, die manche nur mit Drogen erreichen, während ich diese Geschenke ohne jede Substanz von Mutter Natur bekomme? Ich weiß es nicht, halte es aber für möglich. Mittlerweile halte ich fast jede Absurdität für möglich, wenn ich meine Erfahrungen mit den verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit abgleiche.

Und dann bleibt da noch die Kernfrage meiner Kopfbesuche. Wieso denke ich an diesen und jenen Menschen, gerade jetzt? Ohne äußeren Anlass, ohne konkreten Impuls.

Und die Umkehr dieser Frage ist für mich fast noch viel spannender: Wer denkt an mich? Warum? Wie? In Liebe, in Zorn, in zweifelhaften Bedenken? In Angst, mit Zuversicht, voller Hoffnung auf was? Wie oft tauche ich selbst in welchen Köpfen auf? Klingele ebenfalls ungebeten an der Haustür ihres Seins, erbitte Einlass, bin zurückhaltend oder quengelig, bin in jedem Fall interessiert, weil ich sonst ja nicht aufgetaucht wäre.

Wie oft macht ein unbekannter Teil von mir solcherart Reisen in die Köpfe anderer Menschen? Und was macht es mit ihnen?

Fragen über Fragen… und keine Antwort. Aber fangen nicht alle Antworten mit einer scharfen Beobachtungsgabe an?

(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 23ff)

— 05. März 2022
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