Der Antichrist

Begegnung mit dem Bösen in einer säkularisierten Gesellschaft – von Christa Schyboll

Nicht nur in religiösen, sondern auch in politischen Zusammenhängen (speziell häufig in den USA) taucht immer wieder der Begriff des Antichristen auf. Seit zwei Jahrtausenden wird über ihn spekuliert. Kein Wunder in einer dualistischen Welt voller Gegensätze. Ein Christ hat eben auch einen Antichristen zu erzeugen, damit die Welt in der Waage bleibt.

Es sind nicht wenige, die bei der Nennung dieses Begriffes ein leiser Schauder erfasst. Manche haben eine sehr reale bewusste oder unbewusste Furcht davor – ohne genau definieren zu können, was ihnen dabei eigentlich Angst einjagt. Selbst scheinbar atheistische Menschen spüren hin und wieder ein gewisses Unbehagen, auch wenn sie es schnell auf einen Stellvertreterplatz zu schieben wissen. Andere wiederum reagieren sauer oder aggressiv auf diesen Begriff, was auch Zeichen einer gewissen Affinität sein kann.

Die Definitionen zum Antichrist sind uneinheitlich. Im Allgemeinen wird er als "das Böse" schlecht hin bezeichnet, das in der Welt wirkt. Eine Kraft also, die jedem Menschen in unterschiedlicher Weise innewohnt und damit Gläubige wie Ungläubige gleichermaßen betrifft, da sie für ziemlich jeden Menschen erfahrbar ist. In dieser Definition steht sie letztlich „über“ der christlichen Tradition insofern, als sie als eine universelle Kraft in Menschen aller Kulturen geortet ist, mit vielen Namen und Bezeichnungen. Und weil es so ist, hantiert auch Hollywood erfolgreich weltumspannend immer wieder neu mit diesem Thema, da es sein millionenstarkes globales Publikum in seiner seelischen Befindlichkeit psychologisch und ökonomisch intelligent erfasst hat und im innersten Mark der Angst trifft.

Für Ungläubige, die sich diese Filme in großer Zahl ebenfalls anschauen, reduziert sich das Kernthema des Antichristen nicht selten auf die niederen Triebe im Menschen. Sie haben für all das schnelle psychologische Erklärungen, die vor allem hirnphysiologisch gern bemüht werden, indem gewisse Reizstrommessungen in irgendwelchen Lappenregionen diese oder Schaltungen zeigen und miteinander interagieren. Ur-Ängste vor dem Bösen als blitzschnelle Verschaltungen von Synapsen, die gewisse Hormone ausschütten und Gefühle erzeugen – und aus die Maus. Folge und Ursache mutieren dann zu einem quengeligen Kausalspiel zwischen Hirnaktivität, Handlung, Gedanke und Gefühl. Die Frage des Bewusstseins in diesem Spiel der unbekannten Kräfte unterbleibt, da man eh darauf noch keine Antwort hat.

Für Gläubige wiederum ist der Antichrist eine Kraft, die man einem jeweiligen religiösen Zusammenhang zuordnet und sehr gerne nach "außen" transferiert wird, damit er bildhafter und scheinbar greifbarer für die Menschen wird. Dazu nimmt man gern Gestalten wie Teufel, Satan, Luzifer. Je nach Art der Religiosität und des eigenen Selbstverständnisses fühlen sich manche Menschen solchen übermächtigen Wesenheiten ausgeliefert oder doch zumindest hin und wieder gefährlich „nahe kommend“. Hollywood schafft es dabei, diese Wesenheiten auf spannende Weise zu personifizieren, so dass gewisse Identitätsgefühle oder Gefühle starker Abwehr erzeugt werden, als handele es sich dabei bereits um eine Realität.

Was aber ist denn nun mit diesem Antichristen? Kann man das zweitausendjährige Spekulieren im tieferen Sinne (!) wirklich als "lächerlich" abtun? Nur weil man sich längst aus der Kirche und dem Christentum verabschiedet hat? Oder weil es gerade nicht en vogue ist, religiös zu sein? Gelten bei solchen Fragen tatsächlich moderne Mainstream Meinungsmoden? Oder müsste man das Thema nicht viel ernsthafter aufgreifen, da es ja offensichtlich Spuren von Betroffenheit oder Abwehr in den Menschen hinterlässt, was zeigt, dass es noch unbearbeitet ist.

Oder ist der Antichrist am Ende eine gigantische psychische Projektionsgestalt, auf die wir all das projizieren, was wir kollektiv als Menschheit falsch machen? Wo wir versagen, wo wir moralisch nicht einmal mit dem eigenen Gewissen mithalten können und uns ohnmächtig ausgeliefert fühlen, die Welt eben doch nicht retten zu können? Ein übersteigerter Anspruch an uns selbst? Oder auch das offene Hinschauen auf all das Grauen, das Menschen anderen Menschen tagtäglich neu antun, ohne dass sich irgendetwas wesentlich ändert? Könnte es sich nicht um ein gewaltiges psychisches „Experiment“ handeln, dessen Beteiligte wir sind, ohne es zu überschauen? Eines das wir unbewusst mit initiiert haben und es mangels Größe und Überblick in religiöse oder moralische Anschauungen gewandeten?

In einem kleinen „Gedankensplitter“ wie diesem, kann das Thema nur kurz angerissen werden. Eine ausgiebige Bearbeitung bleibt jedem selbst vorbehalten. Vor allem dann, wenn er dem Bösen erneut in irgendeiner Form real begegnet.

— 25. November 2010
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