Merkels Akt der Selbstermächtigung

Das Dilemma der repräsentativen Demokratie. Von Tom Borg

Einmal gewählt können Politiker quasi machen was sie wollen. Und für Fehlentscheidungen verantworten müssen sie sich in der Regel auch nicht. Das haben sie mit Anwälten gemein. Auch ein Anwalt muss nicht ins Gefängnis, wenn er einen Prozess verliert. Sein Mandant sitzt die Strafe ab. Die Fehler der Politiker bezahlt der Bürger.

Geahnt haben wir es ja alle schon länger. Doch wenn man es offen aussprach, hagelte es Kritik und man fand sich plötzlich in der politisch rechten Ecke wieder. Nun hat der Verfassungsrechtler Udo di Fabio nach juristischer Prüfung der aktuellen Migrationskrise ein Gutachten vorgelegt, das zu dem Ergebnis kommt, dass die Bundesregierung mit ihrer Weigerung, die Landesgrenzen umfassend zu kontrollieren, eindeutig Verfassungsrecht bricht.

Di Fabio, der selber einer Gastarbeiterfamilie entstammt, gilt in der Migrationsfrage eigentlich als sehr liberal. Umso schwerer wiegt nun sein Gutachten.

Auch Michael Bertrams, der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen, bezeichnet Angela Merkels Alleingang als einen Akt der Selbstermächtigung und spricht von einer "selbstherrlichen Kanzler-Demokratie".

Doch eigentlich ist es nur die Spitze des politischen Eisbergs. Auch wenn der Bundestag zugestimmt hätte, wäre es der Masse der Bundesbürger nur schwer zu vermitteln. Sicher, das anfängliche Engagement, die Hilfsbereitschaft für die ankommenden Flüchtlinge, war nicht zu übersehen - es kam von Herzen.

Aber die Folgen waren weder damals für die Helfenden sichtbar, noch sind sie es heute. Die Verantwortlichen tun alles, um die wahren Konsequenzen zu verschleiern. Ja, manchmal hat man den Eindruck, sie wüssten es selbst auch nicht viel besser.

Das größte Problem dabei ist jedoch gerade der Kontrollverlust und das schwindende Vertrauen in die Politik. Der Glaube in die Europäische Union ist ohnehin verloren. Es ist die scheinheilige Unverfrorenheit mit der jeder auf europäischer wie auch nationaler Ebene seinen Vorteil sucht - und gleichzeitig empört auf andere schimpft, wenn die das gleiche tun.

So geht gerade ein Aufschrei durch die Republik, weil die Türkei Flüchtlinge wieder zurück in das vom Bürgerkrieg gebeutelte Syrien schickt. Das sei ein Verstoß gegen internationales Recht. Mag sein. Doch wohin sollte die Türkei die Menschen sonst schicken, wenn die EU ihre Grenzen dicht macht. Es ist schließlich nicht jedes Land bereit, unbegrenzt Flüchtling aufzunehmen.

Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt bringt es auf den Punkt mit seiner Aussage: "Grenzschließungen in Europa führen dazu, dass die Türkei mit Härte und Brutalität vorgeht und ihrerseits die Grenze zu Syrien dicht macht."

Europas Verantwortung

Wenn Europas Abschottung Abschiebungen versucht, dann ist Europa verantwortlich für das Schicksal der Flüchtlinge? Das klingt wie ein Schiedsgerichtsverfahren eines Freihandelsabkommens wo ein Tabak-Konzern einen Staat verklagt, weil dieser Anti-Rauchergesetze erlassen hat.

Natürlich ist Europa schuldig, keine Frage. Aber anders als auf den ersten Blick sichtbar. Die Flüchtlinge, die jetzt bei uns eintreffen, kommen nicht, weil Gott Blitz und Donner geschickt hat. Es stecken knallharte politische und wirtschaftliche Interessen hinter all den internationalen Krisenherden. Und Europa hat dabei fleißig gekungelt, geschoben und betrogen - und vor allem, was Partner taten, die Augen verschlossen. Europas Interessen sind Teil des Flüchtlingsproblems!

Doch halt! Wer ist eigentlich Europa? Der Bürger auf der Straße fühlt sich immer weniger durch die Europäische Union und der EU-Kommission vertreten. Mit der aktiven Flüchtlingshilfe tun sie gar das Gegenteil von dem, was die offizielle Politik Europas eigentlich - stillschweigend in Kauf nehmend - bewirken möchte. Denn nicht der Bürger am Stammtisch macht die Gesetze sondern die gewählten Politiker, die sich dummerweise weitestgehend einig sind, so einig, dass eine Große Koalition aus traditionell politischen Gegnern zu beeindruckenden Mehrheitsentscheidungen kommen kann. So einig sind sich die Volksvertreter sonst nur, wenn es um die Erhöhung ihrer Diäten geht.

Damit zeigt sich aber auch ein Dilemma der repräsentativen Demokratie: Einmal gewählt können Politiker quasi machen was sie wollen, denn sie sind nur ihrem Gewissen Rechenschaft schuldig. Und für Fehlentscheidungen verantworten müssen sie sich in der Regel auch nicht. Das haben sie mit Anwälten gemein. Auch ein Anwalt muss nicht ins Gefängnis, wenn er einen Prozess verliert. Sein Mandant sitzt die Strafe ab. Für Anwalt wie Politiker geht es dabei um nichts - außer der eigenen Karriere und dem eigenem Vorteil.

Heute so, morgen so

Doch selbst wenn die Politiker eine zahlenmäßige Mehrheit vertreten, protestiert die Minderheit entschieden dagegen. Und das praktisch ebenso zu Recht wie juristisch zu Unrecht. In einer repräsentativen Demokratie muss die Minderheit die Folgen der Mehrheitsentscheidung mittragen - oder auswandern… Will die Minderheit weder das eine noch das andere akzeptieren, dann knallt es - zunächst verbal und allzu oft auch leider auf der Straße…

Es gibt viele Menschen, denen ich ohne jeden Zweifel glaube, dass sie Mitgefühl empfinden für die Opfer der Bürgerkriege, dass es ihnen eine Herzensangelegenheit ist, den Flüchtlingen zu helfen. Dann sollten sie es halt tun - und nicht nur in ihrem jahrelang abgestotterten Häuschen sitzen und auf alle schimpfen, die anders denken, sondern einfach eine Hypothek auf das Häuschen aufnehmen und damit Flüchtlingshilfe bezahlen…!

Denn wenn mich eines an dieser ganzen Diskussion stört, dann die mangelnde Konsequenz. Wir schimpfen auf die Hilfsverweigerer, die Migrationsgegner und alle, die sich Angel Merkels "Wir schaffen das" in den Weg stellen. Würden alle jene mit der gleichen Entschlossenheit gegen poltische Kriegstreiber vorgehen und notfalls zum Generalstreik aufrufen, um die Regierung zu zwingen, nicht mit repressiven Staaten und korrupten Regimen zu kooperieren, dann hätten wir diese Flüchtlingskrise gar nicht.

Doch nun sind sie da, die Folgen unserer feigen Blauäugigkeit. Und die Frage ist: wer soll das bezahlen? Die Antwort lautet wie immer: der Steuerzahler, wer sonst…?!

Aber ich weigere mich, ständig für die Fehler und Interessen anderer zahlen zu müssen. Wir retten Banken nachdem deren Manger und Aktionäre Milliarden eingestrichen haben, wir retten Kriegsflüchtlinge nachdem Rüstungskonzerne Milliarden mit Waffenlieferungen abgegriffen haben - und wir nehmen Flüchtlinge auf, die vor den Bomben unserer politischen Freunde flüchten.

Wer soll das bezahlen…

Und nun präsentiert uns die Bundesregierung scheibchenweise eine dicke Rechnung, nachdem die Bundeskanzlerin in eigenmächtiger Selbstherrlichkeit eine Entscheidung traf, vor der ganz Europa erschauderte. Mit welchem Recht eigentlich? Volksvertreter sind immun, doch das berechtigt sie nicht zur Veruntreuung des Volksvermögens.

Ist das der Preis der Demokratie? Nein! Mir kommt unser politisches System vor, wie eine rosarot angestrichene Diktatur; ein System, bei dem alle etablierten Parteien - andere schaffen es ja eh nicht in den Bundestag - seltsamerweise bei allen relevanten Fragen einer Meinung sind und das immer zum gleichen Ergebnis führt: das politische Establishment entscheidet, die Bürger zahlen...

Deshalb: Flüchtlings-Soli? Nein danke! Wir hatten schon einen Solidaritätsbeitrag über viele Jahre. Und auch der wäre vermutlich nicht - oder zumindest nicht in dieser Höhe - nötig gewesen, hätte man das Volksvermögen, die Firmen, Immobilien, Grundstücke und Werte der ehemaligen DDR nicht so lächerlich tief unter Wert verkauft - oder muss man sagen: verschoben?

"Soli" wird zu einem Modewort, einer bürokratisch-politischen Allzweckwaffe, die so herrlich angenehm von den eigentlichen Problemen ablenkt: Die mangelnde Legitimation im Volk mit der so manche Entscheidung der Regierenden behaftet ist.

Geheimabkommen in einer modernen Welt wo eh so ziemlich jeder alles über die anderen weiß? Sie dienen doch nur noch dazu, einen gegen den anderen auszuspielen - und vermutlich in erster Linie dazu, die verantwortlichen Politiker vor dem Lynch-Mob zu schützen.

Politische Transparenz sieht anders aus! Nicht einmal unseren nationalen Status kennen wir genau: Wir haben ein Grundgesetz aber keine Verfassung, nationale Souveränität oder vielleicht auch nicht. Details regeln Geheimverträge. Wenn selbst ein anerkannt solider Politiker wie Egon Bahr über Willy Brandts Erlebnisse mit zu unterzeichnenden Briefen erzählt, dann muss etwas Wahres daran sein. Doch was genau? Warum dürfen wir Bürger das nicht wissen? Dies ist die Kehrseite der repräsentativen Demokratie: wir dürfen alles zahlen, aber nicht alles wissen…

— 15. Januar 2016
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