Wiedervereinigung

Über die Möglichkeiten der notwendigen Veränderungen, sinniert Christa Schyboll

Die Wiedervereinigung stellte uns ganz gewaltige Aufgaben in Ost und West. Eine der größten wird sein, wie wir die Qualitätsunterschiede neu vereinigungen wollen und können. Hierzu gehören aber nicht nur schicke Straßen und neu eingedeckte Häuser, sondern vor allem die Qualität des Mit- und Zwischenmenschlichen.

Zunächst das Einfache des Begriffes Wiedervereinigung: Ein Volk wird aus politischen Gründen auseinander gerissen. Jahrzehnte später vereinigt es sich wieder neu, will zusammenwachsen und eine verändertes politisches, staatliches, gesellschaftliches, juristisches und kulturelles Gebilde miteinander schaffen, legal und friedlich zugleich. Das Ganze nennt man dann Wiedervereinigung und man ist dankbar, wenn es auf solche Weise gelingt.

Die weltweite Anzahl der Menschengruppen, Landstriche, Kulturgebiete, die ein homogen Gewachsenes sind und bis heute kriegerisch oder friedlich um ihre Wiedervereinigung kämpfen, weist eine traurige lange Liste aus, die oft mit dem Blut ganzer Generationen geschrieben ist. Sind die getrennten Hälften extremen Unterschieden in existentieller Hinsicht unterworfen, wird die Trennung als besonders schmerzhaft von beiden Seiten empfunden. Die eine Seite lebt dann der anderen vor, wie es auch besser ginge, ohne dass man ihr die Möglichkeit dazu gibt. Das Bessere ist in mancher Hinsicht aber auch nur Flitter, Glimmer, Schein. Wirkliche Werte bemessen sich nicht nur daran, womit das nichts besitzende Auge sich so gerne verführen lässt. Was ist mit den inneren Werten? Sie kommen wiederum oftmals unter die Räder, wenn die neue Bedürfnislage ehemaliger Habenichtse nach einer Grundbefriedigung ins Suchtverhalten gesteigert wird und auch werden soll.

Immer mehr, immer neues… Und das immer schneller und von immer höherer Güte, die zugleich als Wegwerfartikel produziert wird, damit das immer mehr des beschleunigten Wachstums seinen Siegeszug antreten kann. Einmal in Fahrt gekommen, lässt er sich nicht mehr stoppen. Masse, Geschwindigkeit und Energie verflochtener und verpflichtender Abhängigkeiten des Konsum-D-Zuges haben keinen kurzen Bremsgang. Entstehende innere Leere, nur weil die Wirtschaft gut brummt? Oh nein, im Ernst, uns geht es prächtig! Nur unsere Schwester und Brüder auf der anderen Seite haben echt Pech gehabt - und bekommen ein Hilfspaketchen. Aber auch das ist im Falle der ehemaligen DDR Vergangenheit - andere Konfliktgebiete in der Welt erleben es noch immer als traurige reale Gegenwart.

Im Laufe der Zeit wachsen da sehr verschiedene Charaktere heran, die durch die Art ihrer Jahrzehnte langen Prägung ganz andere Anschauungen und Bedürfnisse entwickelt haben. Gewisse menschliche Grundwerte werden gleich bleiben, aber anderes verändert sich. Während die einen, die materiell nichts besaßen, sich auf anderen Gebieten des Lebens andere Formen von immateriellem Reichtum verschafften - insofern eine infame und perfekte Spitzelclique das zuließ -, wurden die anderen materiell beglückt und entwickelten daraus wiederum ganz andere Wünsche und Interessenslagen.

Die Wiedervereinigung ist da

Die einen träumten von Gelüsten, von unerreichbaren Sinnesreizen, die anderen gingen schon fast wieder verschwenderisch gelangweilt mit demselben um. Rausch und Lust, die unbefriedigt blieb, gegen sich auftürmende Berge voller Wohlstandsmüll, der kaum noch Abnehmer fand. Solche Erfahrungen prägen. Tiefer als die meisten Menschen ahnen. Jeden ein wenig anders und auch je nach dem, in welchem der beiden Lager man steht oder lebt.

Und dann kommt irgendwann eine Wiedervereinigung. Man wünscht sie, ist ihr aber keinesfalls schon gewachsen. Auch das gilt für beide Seiten.

Herzliche Willkommensrufe und dann die Frage: Aber was machen wir nun mit ihnen?! Ah! Wir werden sie integrieren… und gut ist es! Als wenn dies so einfach gelänge! Stoßen Hungrigen zu den Satten und werden integriert, so ist es nicht mit einer fetten Speisung getan. Da wurzeln noch ganz andere, lang gewachsene Anschauungen über das Leben, den Umgang mit den Menschen und den mit der Materie, die erst einmal angeglichen werden will. Geschieht dies zu einseitig, ist eine Chance verpasst. Die Adaption an den Wohlstand, zumal auf sehr schnelle Weise, birgt die Gefahr, dass andere wertvolle Ressourcen per Verführung unter die Räder kommen.

Wiedervereinigung kann nicht die Wiedervereinung oder Teilung an Konsum und Wohlstand allein bedeuten, so man Jahre später sich nicht wiederum ein armseliges Zeugnis ausstellen will. Beide Seiten sind aufgefordert, genau hinzuschauen, ob sich da nicht echte Qualitäten vereinigen wollen, die zusammen ein drittes neues Ganzes ergeben und nicht auf einen gefräßigen Rachen der Habenden hindeutet, der die Habenichtse schluckt und die sich umgekehrt auch allzu gern in dem Monster freiwillig wohnlich einrichten … all inclusiv, versteht sich.

Wiedervereinigung müsste Neuanfang sein, der anderes als frisch gedeckte Dächer und – wie ich sah – völlig unnötig aufwendig gepflasterte Waldstraßen meint. Was sich wirklich wiedervereinigen sollte sind Fähigkeiten und Talente, Güte und Niveau, Werte, echtes Format und Feinheiten ohne Mindesthaltbarkeitsdatum. Die Frage ist, ob dies tatsächlich geschah und jetzt, mit Abstand betrachtet, vielleicht nicht schon wieder zu spät ist… und diese großartige Chance vom Müllschlucker der Geschichte nicht schon intern geschreddert wurde.

Wieder einmal was verpasst mit einer Wiedervereinigung in der Geschichte der Menschheit?

— 10. August 2010
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