Heavy Metal Stille Nacht?

Mut zum Andersein, fordert Tom Borg

AC/DC unterm Weihnachtsbaum oder Weihnachten in Badehose am Strand in der Karibik? Mich stört das nicht, wohl aber unsere verlogene "das gehört dazu" Gesellschaft, die sich wie eine Schafherde gedanken- und willenlos überall hintreiben lässt.

Man fragt sich ja immer wieder: was, um alles in der Welt, bringt einen echten Hardcore-Rocker dazu, ein feierliches "Stille Nacht" anzustimmen? Das passt doch eigentlich gar nicht, meinen viele, und übersehen dabei einen ganz einfachen Zusammenhang, von dem auch andere profitieren. Ich sage nur: Heino…! Ja, seit Dieter Bohlen den guten alten Heino medial geadelt hat, darf man den Namen wieder erwähnen. Dabei hat der Mann deutlich mehr Fans als sich öffentlich als solche bekennen.

Ich erinnere mich noch an meine Schulzeit; damals hatte Heino noch Single-Hits im Radio. Aber schon damals war er eigentlich verpönt. Und doch kennt fast jeder seine bekanntesten Hits wie beispielsweise den "Blauen Enzian" und gröhlt diese lautstark mit. Wie, das glauben sie nicht? Na, dann gehen Sie mal nach München aufs Oktoberfest. Zu fortgeschrittener Stunde, spätestens nach dem zehnten Bier, ist nicht nur der Enzian blau, die Wiesen-Besucher sind es auch. Und selbst eingefleischte Rock-Fans und die Vertreter der RAP-Generation stimmen munter ein mit Heino & Co. Warum? Weil es dazu gehört!

Man kann nicht auf das Oktoberfest gehen und dort im Zelt ein Streichkonzert erwarten, obwohl es das inzwischen auch gibt. Nein, zum Oktoberfest tauschen auch Rocker die Lederkutte gehen eine Lederhose und die schnieken Modepüppchen schlüpfen in ein Dirndl, das sie abseits der Wiesen-Saison allenfalls naserümpfend zur Kenntnis nehmen würden. Aber zum Oktoberfest gehört es nun einmal dazu, wie das "Dinner for two" zum Sylvester - und wie "Stille Nacht" zu Weihnachten.

Es gleicht einem protokollierten Zeremoniell: Kommt Weihnachten, so kommt auch Weihnachtsmusik. Die muss einfach sein, überall und rund um die Uhr. Man mag sie am Ende fast gar nicht mehr hören, aber irgendwie gehört sie halt dazu - für den Rentner genauso wie die Fans von Rock & Pop Musik.

Toleranz und Ehrlichkeit

Doch gerade das ergibt ein Armutszeugnis für unsere Kultur und unsere moderne Gesellschaft. Denn letztlich zählt eben nicht der Genuss der weihnachtlichen Musik und Zeit, nicht der Spaß, den man beim Singen mit der Familie empfindet. Nein, es ist einfach eine Pflicht, das muss halt so sein. So wie man jeden Tag zur Arbeit geht, obwohl man lieber am Strand liegen würde. So würde auch mancher viel lieber in einem Club rocken, aber zu Weihnachten sitzt man bei "Stille Nacht" im Familienkreis vor dem Tannenbaum weil es so üblich ist.

Eine tiefere innere Überzeugung kommt dabei unter die Räder, auch wenn es oberfläch vielleicht Interesse gibt. Weihnachten ist leider immer öfter so, wie ich es einmal auf der Straße hörte: Mit Kinder zum Markt gehen, Glühwein trinken, Lebkuchen kaufen, Karussell fahren, bisschen ablachen und so…

Und so, ja. Dabei betrügt man letztlich nicht nur sich selbst, sondern auch alle um sich herum. Diejenigen, denen es etwas bedeutet ebenso wie diejenigen, die sich vom schlechten Vorbild angezogen fühlen und halt auch mitmachen, weil sie sich dazu verpflichtet fühlen. Aber immerhin, sie wissen noch, dass sie eigentlich etwas anderes wollten.

Deutlich tiefer rutscht man, wenn man dies gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn man sich als Bauernfigur auf dem Schachbrett der Gesellschafts- und Wirtschaftsinteressen dahin schieben lässt, wo es anderen gerade ins Konzept passt.

Man kann nicht einerseits einen Künstler wie Heino mit innerster Verachtung in die geschmackliche Mülltonne werfen und dann beim Oktoberfest fröhlich beim "Blauen Enzian" mitgröhlen. Dann sollte man die Ehrlichkeit besitzen, zumindest sich selbst einzugestehen, dass man ja eigentlich AC/DC oder was auch immer bevorzugt, aber ein Heino bei speziellen Gelegenheiten eben auch ganz passend sein kann. Doch das würde abseits jener Gelegenheiten Toleranz erfordern. Toleranz, die wir offenbar nicht aufzubringen bereit sind. Wir schieben lieber ein saloppes "das macht man halt so" vor, anstatt uns damit zu befassen oder zu unserer Meinung zu stehen.

Jemand liebt Heavy Metal oder RAP Musik mehr als "O, du fröhliche"? Ist doch ok, warum nicht? Es muss doch nicht jeder "Alle Jahre wieder" toll finden. Es geht nicht um die Lieder, die zu Weihnachten gesungen werden, sondern um die Einstellung, die man dazu hat - und dies schließt mit ein, dass man dem Fest eventuell gar nichts abgewinnen kann.

AC/DC unterm Weihnachtsbaum oder Weihnachten in Badehose am Strand in der Karibik? Mich stört das nicht, wohl aber unsere verlogene "das gehört dazu" Gesellschaft, die sich wie eine Schafherde gedanken- und willenlos überall hintreiben lässt.

Weihnachten ist eine besondere Zeit. Da sollten wir ruhig einmal ehrlich zu uns selbst und unseren Liebsten sein. Denn wenn wir es zu Weihnachten nicht können, wann dann…?!

— 19. Dezember 2015
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