Bockigkeit und Eigensinn

Wenn Vertrauen zum Wendepunkt wird. Von Christa Schyboll

Karla ist bockig. Sie will nicht. Was? Egal! Sie will nicht. Obschon es so wichtig wäre. Aber sie will nicht. Sie ist eigensinnig. Stur. Bockig. Sie will das tun, was sie will. Nicht das, was ihre Mutter will. Oder der Vater. Oder der Lehrer. Karla will sein wie sie ist. Punkt.

Karla übersieht die Konsequenzen noch nicht, meint die Mutter. Sie wird bald viel Stress bekommen, orakelt der Lehrer. Wenn sie bleibt, wie sie ist, endet das noch in einer Katastrophe, schimpft der Vater. So oder so. Entweder, weil man sie lässt und sie jede Menge Fehler macht. Oder wenn man sie zwingt zu etwas, was sie nicht will. Wer weiß, welche Mätzchen und Sperenzchen sie sich dann noch ausdenkt! Karlas Eigensinnigkeit ist für alle ein Problem. Nur für sie selbst nicht. Für sie sind nur die anderen das Problem.

Karla ist aber nicht nur bockig, sondern auch unglücklich darüber. Immerhin ist sie kein kleines Kind mehr. Sie ist 16 und will frei entscheiden. Selbst das Gesetz gewährt ihr gewisse Rechte in diesem Alter. Aber all das zählt nicht. Darum schert sich die Welt der Erwachsenen keinen Deut. Damit vor Gericht vorsprechen zu können, ist chancenlos. Karla fühlt sich als Sklavin fremder Willensbekundungen.

Karlas Eigensinn ist einfach gewachsen, so sorglos und natürlich wie ihr Körper. Sie kann ja nichts dafür. Sie lebt auf selbstredend ihren Widerspruchsgeist aus. Sie hat eine große innere Abwehr gegenüber der Norm. Sie hasst das Übliche. In diese Schublade gehört sie nicht hinein. Sie quillt doch über von Menschen, die sie entsetzlich findet. Ihre Eltern zum Beispiel mit ihren engen Sichtweisen. Karla braucht weit geöffnete Fenster. Ihr wachsen Flügel. Doch keiner bemerkt es.

Warum lässt man sie nicht? Warum traut man ihr nicht zu, aus eigenen Erfahrungen zu lernen? Warum will man sie dauernd vor etwas schützen, das sie doch offenbar erleben will? Weil man sich um sie sorgt und es selbst „besser weiß“? Oder weil man prophylaktisches Mitleid hat, wenn dies und jenes eintritt? Oder weil man sich schämt, wenn sich das Kind irrt und Fehltritte erlaubt? Oder weil man ihr und dem Leben schlicht und einfach nicht vertraut, dass sie durchaus auch mit schlechten Erfahrungen klarkommen kann. Weil man sie für unfähig hält, das Böse zu meistern? Oder dass Karla am Ende sogar noch Recht behält?

Wie geht man mit der Bockigkeit einer starken Persönlichkeit um? Das Patentrezept muss sich jeder dafür selbst schreiben. Jeder Fall liegt anders. Aber wenn man mit der Zutatenliste beginnt, sollte man zunächst den Blick auf sich selbst werfen und sich ehrlich fragen, wie wichtig es ist, diesem ungebrochenen Eigensinn nun selbst auch noch eigenen Widerstand entgegenzusetzen. Geht es um Lebensgefahr, ist es leicht und schnell zu entscheiden. Aber darum geht es im Alltag fast nie. Es sind fast immer die Kleinigkeiten, an denen man sich reibt. Und wozu reibt man sich? Wie steht es denn mit dem eigenen Vertrauen in die bockige Person? Oder findet gerade eine unbemerkte Projektion statt? Übertragen wir in solchen Fällen unsere Ängste und Schwächlichkeit nicht automatisch und unbewusst schnell auf andere, weil wir uns selbst so wenig zutrauen? Oder sind wir in ein Machtspiel verquickt, wo es längst nicht mehr um die Sache an sich geht, sondern um Sieger und Verlierer?

Authentisch zu werden, ist für die meisten Menschen ein langer, schwerer Weg. Die Konditionierungen durch Erziehung, Prägungen usw. sind mächtig in unser Blut geschrieben. Authentisch werden heißt aber manchmal auch, Widerstand dort zu leisten, wo andere Menschen die gesunde Form des Eigen-Sinns verhindern. Notwendiger Eigen-Sinn, der sich zunächst vielleicht Eigensinnigkeit und Bockigkeit zeigen mag, aber doch auf bestem Weg ist, die eigene Persönlichkeitsstruktur zu stärken… sofern sie zuvor nicht allzu früh aus falschen Motiven der Erwachsenen zerbrochen wird.

— 28. November 2013
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