Qualitative Gedächtnisstörung

Kurzer Sturz in tiefe Verwirrung Christa Schyboll

Eigentlich wollte ich heute über etwas ganz anderes schreiben. Doch dann durchkreuzte die Wirklichkeit der Erfahrung meine Pläne. Denn ich hatte ein déjà vu. Ich erlebte das Phänomen einer Erinnerung, die sich so darstellte, als habe ich exakt diese Situation in diesem Raum mit dieser Person inklusive der Bewegungsabläufe bereits einmal erlebt.

Dieses Erleben nennt die Wissenschaft eine »Erinnerungstäuschung« oder eben eine »qualitative Gedächtnisstörung«, weil nach unserem Zeitmodell das einfach nicht sein kann, was man dennoch gerade erlebte.

Ich selbst habe diese Erfahrung jetzt 6 ,7 oder 8 Mal im Leben gemacht. Statistisch also gefühlt so zirka einmal im Jahrzehnt. Aufzeichnungen darüber habe ich keine. Aber die Erinnerung hat sich jedes Mal deshalb so tief eingeprägt, weil sie das Gefüge des Gewohnten nicht nur störte, sondern total auf den Kopf stellte. Denn natürlich konnte nicht sein, was da war. Gleichzeit war das reale Erleben des Augenblicks etwas, das eben doch war – auch wenn es nicht sein konnte. Die Inhalte jedes Mal banal. Alltagssituationen, nichts Spektakuläres, über das sich hier spannend schreiben ließe. Spannend ist und bleibt nur das Phänomen an sich.

Was passiert da eigentlich genau?

Die Antwort vorweg: Man weiß es immer noch nicht, rätselt rum und steckt dieses Erleben einer exakt wiederholten Situation deshalb schnell in die Schublade einer Täuschung und Störung. Damit ist man dieses lästige hirnphysiologische Problem schon los, weil Störungen aller Art bei der Komplexität unseres Denkorgans in Verbindung mit Gefühlen und Erinnerungen so mannigfaltig sein können, dass man damit fast schon aus dem Schneider ist. Störung, Täuschung, Punkt. Aus.

Mir reicht das nicht. Ich werde es auch selbst wohl nicht herausfinden können, weil es eine andere Dimension berührt, zu der wir zwar alle einen natürlichen Zugang haben, aber kaum oder kein wirklich handfestes Wissen darüber: Nicht eine Eindimensionalität (wie es scheint), sondern eben doch eine Multidimensionalität, die mehr Wirklichkeit erfahrbar macht, als nur unseren Alltag. Deshalb bleibt der Gedanke so fest verankert, dass unser Bezug zum Zeitsystem hier eine zentrale Rolle spielen könnte… nämlich die fatale, das Ganze unseres Seins einfach noch viel zu eng zu denken.

Wir nehmen in unserer Dimension die Zeit als Ablauf von aufeinanderfolgenden Augenblicken wahr. Lineal über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Der Brennpunkt kann aber immer nur die Gegenwart sein, weil dort unsere Wahrnehmung zentriert ist. Das Zukünftige ist noch nicht, wird aber schon in der Gegenwart mitgestaltet und beeinflusst. Das Vergangene ist schon passiert. Soweit, so normal. Wenn man sich aber als Mensch nicht nur allein mit der Endlichkeit des Körpers identifiziert, sondern davon ausgeht, dass man auch als gleichzeitiges geistiges Wesen (mit Bewusstsein begabt – das immateriell und damit nicht sterblich ist) zugleich eine ganz natürliche multidimensionale Wirklichkeit hat, verschiebt sich der Blickwinkel der linearen Zeit vollkommen, ja wird obsolet, erledigt sich von selbst.

Nun steht man vor dem – nicht nur wissenschaftlichen – sondern generellen Problem, dass man das Große, Größere, Höhere niemals durch ein Kleineres, Niedrigeres, Unzureichendes beweisen kann, was logisch ist. Was meint: Wenn man die Dimensionen der hier gültigen Wirklichkeit verlässt, kann man nicht zugleich mit den hier probaten, sinnlich erfahrbaren und empirisch nachweisbaren Mitteln (Forschung) gleichzeitig in die Gesetzmäßigkeit einer anderen Wirklichkeit vorstoßen. Der Ansatz ist schlicht und einfach falsch, nein, unmöglich. Dennoch wird auch das immer wieder von der Wissenschaft versucht, was bedeutet, dass im Falle von Zeitverschiebung letztlich dann alles mit Gedächtnisstörung, Erinnerungstäuschung usw. allzu schnell etikettiert wird. In anderen Bereichen ist dieser Ansatz wirkungsvoll, richtig und gut, nämlich dann, wenn es sich innerhalb der gleichen Gesetzmäßigkeit bewegt (wie die Gesetze der Materie, Physik, Schwerkraft & Co.). Diese Differenzierung der verschiedenen Ebenen der Gesetzmäßigkeiten vermisse ich sehr.

Wenn es um ein déjà vu geht, geht es um die Sprengung unseres Zeitkonzeptes… das glaube ich zumindest. Wir berühren damit den Bereich der Synchronizität und Akausalität, die das kausale Erleben von Ursache und Wirkung auf den Kopf stellt und Raum und Zeit und Ereignis und Person ein einen übergeordneten Zusammenhang. Auch in Banalitäten. Denn wenn das gilt, gilt es für alles.

Leider sprengt meine Auffassung, die die Akausalität und Synchronizität – also die Gleichzeitigkeit allen Geschehens – hier berühren, den Platz, das alles im Detail anzuführen. Aber es gibt viele gute Bücher darüber, wo man sich vertieft kundig machen kann… sofern man Lust hat, in diese offenen Fragestellungen ernsthaft einzusteigen.

Meine déjà vus sind nur wenige und inhaltlich hier auch weniger interessant. Interessant ist aber für mich die Wiederholung, die mich immer wieder daran gemahnt, das Leben nicht nur als »eher langweiligen« linearen Ablauf zu sehen, sondern zu erleben, wie Unbekanntes uns alle immer wieder flutet und bereichert und zur Kreativität beiträgt. Auch ist die Motivation, der Natur der eigenen Persönlichkeit einen breiteren Raum einzuräumen als eben jenen den engen, den wir als »wissenschaftlich bewiesen« betrachten. Denn Wissenschaft verändert notwendiger Weise ihren Blickwinkel (und damit auch die alten Irrtümer) am laufenden Band… eine ebenfalls natürliche Folgerichtigkeit. Warum also nicht auch irgendwann einmal zum Thema ZEIT…

Schade, dass ich diese neuen Sichtweisen und ihre daraus resultierenden Folgen nicht mehr zu meiner eigenen Lebenszeit hier auf Erden noch erleben werde. Aber ich bin ganz sicher, dass die zukünftigen Generationen mit dem Faktor Zeit und ihren eigenen Lebenserfahrungen innerhalb dieses Kontextes noch schwer ins Staunen geraten. Und ganz sicher ist: Die Bezeichnung (fast schon Bezichtigung!) von »Qualitativer Gedächtnisstörung« wird einmal ein famoser Lacher werden…

(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 42ff)

— 09. März 2022
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