Erziehung

Vermurkste Kinder, unfähige Eltern? Von Christa Schyboll

Die Kinderpersönlichkeit hat sich durch die gesellschaftlichen Bedingungen stark mit verändert. Andererseits gibt es Fundamente, die heute wie früher jedes Kind braucht, aber längst nicht mehr selbstverständlich bekommt. Auch unser Vertrauen in die natürliche Fähigkeit des Kindes, ein ganz normaler lebenstüchtiger Erdenbürger zu werden, ist offenbar massiv gesunken.

Die Regale der Bücherläden bersten fast. Ratgeber, Hilfestellung per CD, DVD, psychologische Sachbücher oder Vorträge überbieten sich mit Angeboten, darüber, wie aus sehr kleinen Menschen einmal vernünftige große Menschen werden, die das Leben ebenso meistern wie wir selbst.

Unser Vertrauen in die natürliche Fähigkeit des Kindes, ein ganz normaler lebenstüchtiger Erdenbürger zu werden, ist offenbar massiv gesunken. Das zeigen nicht nur die Anzahl der verhaltensauffälligen Kinder in Kindergarten und Schule - Tendenz stark wachsend -, die Umsatzzahlen der Sachliteratur für Erziehungshilfen, sondern auch all die Wartezeiten bei Kinderpsychologen oder sozialpsychologischen Notdienste.

Sind unsere Kinder also schon vermurkst, bevor sie "ich" zu sich selbst sagen können? Setzen wir sie allzu früh Bedingungen aus wie beispielsweise laufender Fernseher mit katastrophalen Inhalten, die sie unmöglich einordnen, verarbeiten, verkraften können? Sind es die allerorten durch die Medien geschürten Dauerängste vor Kinderpornographie, Vergewaltigungsopfer, Mordopfern, die es verhindern, dass Kinder noch einen natürlichen freien Auslauf ohne Eltern außerhalb des Hauses haben dürfen? Oder sind das die letzten kleinen Freiheiten von Dorfkindern, die vielleicht einmal aufgrund solcher Bedingungen eine etwas stabilere Spezies werden? Sind es die Versagensängste in Sachen Schule, Bildung, Ausbildung, Studium, die so manche Eltern von Dreijährigen schon in Panik geraten lassen, weil noch nicht der eigene Name sauber geschrieben werden kann? Die individuelle Defizitvermutung steht dann schnell bange im Raum und wird oft grotesk pathologisiert. Mein Kind braucht länger dafür als andere? Ein Schreckgespenst für Eltern, die es selbst geschafft haben, aber ihren Kindern angstvoll misstrauen.

Diese absurde und zugleich reale Frageliste könnte Seiten lang fortgeführt werden und würde doch nur auf eines hinauslaufen: Misstrauen und Angst der Eltern. An welchen Punkten sie wie berechtigt oder übertrieben ist, kann nur am Einzelfall festgemacht werden. Sicher aber ist: Das Misstrauen ist einerseits enorm gestiegen. Der gesellschaftlich gefühlte, zumeist jedoch selbst erzeugte Erwartungsdruck ebenfalls. Ein Kind ohne Abitur hat es in gewissen Kreisen "nicht geschafft". Ein Makel, der wie Pech an den unzuverlässigen Eltern hängen bleibt, die nicht einmal in der Lage waren, für eine gesunde bildungsbeflissene Grundsubstanz zu sorgen. Andererseits sind solche Haltungen zugleich auch eine Art modernes Luxusgefühl, das sich all die vielen Generationen zuvor in der Masse gar nicht leisten konnten. Die Kinder wurden groß. Manche gingen leicht ins Leben, andere waren eben etwas schwieriger oder auch gar nicht zu erziehen. Da hatte man Pech, auch früher schon. Die alte Literatur ist voll von diesen Fällen. Aber all das war ein zwar nicht schöner, dennoch völlig normaler Vorgang, der nicht mit all den Ängsten und dem Misstrauen einherging, wie es heute der Fall ist. Die Identifikation der Eltern war nicht ausschließlich auf die Kinder gerichtet und wurde an ihnen festgemacht. Heute ist es in vielen Fällen anders. Je gebildeter die Eltern sind, so sehr wächst der Druck. Eingestehen muss man aber auch: Heute sind eben besonders viele Eltern sehr gebildet, was früher eher nur einer kleineren Elite vorbehalten war. Auch daraus ergeben sich natürlich die neuen Ansprüche und neuen Zahlen.

Eines ist gewiss: Die Kinderpersönlichkeit hat sich durch die gesellschaftlichen Bedingungen stark mit verändert. Andererseits gibt es Fundamente, die heute wie früher jedes Kind braucht, aber längst nicht mehr selbstverständlich bekommt. Beachtet man die Fundamente und ist sich darüber im Klaren, wie wichtig ihre Einhaltung ist, sind die Chancen, den kleinen Erdenbürger gesund groß zu bekommen sehr gut.

In Stichworten will ich einige Wichtige noch einmal festhalten:

  • Kinder brauchen zuverlässige Eltern, die authentisch sind
  • Kinder brauchen starke Vorbilder, die nachahmenswert sind
  • Kinder brauchen Ruhezonen und Rhythmen
  • Kinder brauchen das Vertrauen der Eltern, dass sie schon zum rechten Zeitpunkt ihre eigene Entwicklung in guter Weise machen, so man sie nicht zu früh drängt
  • Kinder brauchen Eltern, die Grenzen nicht nur setzen, sondern auch einhalten
  • Kinder brauchen Eltern, die genau fühlen, wann es die Ausnahme von der Regel auch mal sein darf und damit ihre Grundregel dennoch bestätigen
  • Kinder brauchen Zeit, offene Ohren, offene Herzen und wollen nicht abgespeist werden mit Fernsehen, Medien oder der Computerwelt (selbst wenn sie mangels Alternative danach verlangen)
  • Vor allem aber brauchen Kinder LIEBE, die keine Affenliebe ist, die nicht verwöhnt und verhätschelt, sondern Zuwendung gibt, Zärtlichkeit und Vertrauen in die Richtigkeit des Seins

Stabile und patente Persönlichkeiten können mittels dieser wenigen Basisdaten, so sie auch eingehalten und gelebt werden, heranwachsen. Wir selbst haben einen großen Gewinn von solchen Kindern, weil sie es sein werden, die unsere Geschicke im Alter in Wirtschaft und Politik, Gesellschaft und Kultur leiten. Erziehung kann nicht hoch genug in ihrem persönlichen und gesellschaftlichen Wert geschätzt und geachtet werden. Alles dafür zu tun, dass Eltern dies lernen, ist in unser aller Sinne.

— 15. August 2010
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