Manchmal tut sich ein Riss in der Zeit auf

Trotz Schmerzen in einer parallelen Wirklichkeit. Von Christa Schyboll

Dann ist es mir so, als schwimme ich in der Blase einer Wirklichkeit - ja, in einem unauslotbaren See vieler Wirklichkeiten. Schmerz nehme ich in solchen Momenten selektiv war. Manchmal vergesse ich ihn, obschon er doch quält. Eine Art Hintergrundquälen, das sich mal nach vorne ins Bewusstsein beamt, manchmal in rücksichtsvoller Verschollenheit verharrt.

Es ist merkwürdig, dass so etwas Beständiges über Stunden, Tage sich dennoch so unbeständig benimmt. Woran liegt es? An meiner flattrigen Wahrnehmung, die sich mal so oder mal anders entscheidet, was nun prioritär ist?

Beim Schreiben passiert es am häufigsten. Dann bin ich so auf andere Gedanken konzentriert, dass Zähne, Muskelkrämpfe, Kopfschmerzen oder anderes Lalala der körperlichen Unbefindlichkeit mir Streiche spielen. Unbefindlichkeit? Ein merkwürdiges Wort. Befindlichkeit kenne ich. Aber Unbefindlichkeit lässt mich gerade stocken. Gibt es das? Wenn nicht, so gibt es das eben jetzt. Möge man es interpretieren, wie man es fühlt. Und fühlen sollte man immer, wenn man liest. Die Vorsilbe "un" verspricht nichts Gutes für eine Befindlicheit.

Was fühlst du im Moment, Du Leser? Ich erfahre es nicht. Aber erfahre du es unbedingt selbst! Unterbrich die Leserei an dieser Stelle. Fühl dich. Alles scheint unzuverlässig zu sein, in dieser Blase, in der ich ebenso lebe wie in anderen Blasen. Doch ergeht es nicht jedem so? Hat nicht jeder Mitmensch viele Wirklichkeiten? Liegt der Unterschied nur darin, dass viele Menschen die Nuancen dieser Feinheiten nicht erkennen, übergehen oder als nur sekundär erleben... und damit nicht wirklich vollbewusst erleben, obschon sie es erleben?

Eigentlich wollte ich heute morgen über etwas ganz anderes schreiben. Worüber habe ich gerade wieder vergessen. Vielleicht sollte ich gleich mal in eine andere Wirklichkeitsblase hüpfen...

Nachtrag:

Es ließ mir doch jetzt keine Ruhe: diese "Unbefindlichkeit." Also im deutschen Duden kennt man den Begriff tatsächlich nicht. Insofern ist es eine "Neu-Erfindung". Aber es gab sie schon einmal in Grimms Wörterbuch, 1919.

Quelle: Staub-Tobler 1, 849: also das er auch befyndtliche fynsternus unserer aigner unbefundlikait uber unns gesendet hat Eberlin v. Günzburg 3, 251 neudr. Fundstelle

Wenn das mal kein Kennzeichen einer meiner Zeitblasen ist! Altes-Unbekanntes "neu" (er-)finden!

— 05. November 2022
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