Manches Mal drohe ich auf der Mimik einer Freundlichkeit auszurutschen. Wie Schmierseife das Lächeln. Und dennoch in diesem Moment ehrlich, weil die Zeiteinheit für ein Kalkül viel zu kurz war. Dem anderen mag es ähnlich gehen. Denn auch ich lächele, bin ja ein freundlicher Mensch.

Eine spontane Begegnung unterliegt fast immer einem Automatismus der Gutwilligkeit, weil wir ja fast alle gern umgänglich nette Menschen sind oder sein wollen. Nur wer durchschaut es so schnell, was da im Außen an Zuwendung zelebriert wird, wenn das Gefühlsleben mit der unerwarteten Person eigentlich auf einem ganz anderen Level steht?
Oft vergehen Minuten, bis man spürt: Was mir da begegnet gilt nicht mir, sondern der Konvention. Und ich spiele brav meinen Part mit, weil auch ich diesem schnellen Automatismus der Benimmregel wie blind folge. Wir stecken nun gemeinsam einer kleinen Inszenierung, die sich erst nach der Verabschiedung zur vollen Blüte entfalten wird. Da übernehmen gerade zwei innere Dirigenten das Zepter des Handelns, die erst einmal jeweils in sich entdeckt werden müssen, bevor man sie stoppen kann. Es sind bemerkenswerte Vorgänge, was sich da abspielt, weil man kurz vom Ungeplanten überrumpelt wurde.
Lächeln, Belangloses fragen, und hoffen, dass es die richtigen Fragen zur richtigen Zeit sind und keine thematische Verbindung schaffen, die man gerade nicht möchte. So gründlich spontan sein, dass man das wirklich Wichtige nicht fragt oder fragen soll, weil genau das hier und jetzt in dieser Konstellation aus vielen Gründen nicht stimmig ist. Und das alles, ohne das klare Denken vorher einschalten zu können, weil der Überraschungsmoment der Begegnung zu kurz für eine Vorbereitung war. Immerhin beherrschen wir die Regeln des Umgangs und des sozialen Verhaltens untereinander. Ob wir uns schätzen, mögen oder auch nicht so sehr.
Obschon! Ist es so? Werden wir umgekehrt nicht vielmehr von den Regeln beherrscht, weil wir solche Begegnungen längst automatisiert haben? Angepasst wie wir nach außen sind und erst einmal wirken, auch wenn wir unangepasst denken und fühlen und zudem feinst differenzieren?
Die Stimmlage erhöht sich oft, um Freude auszudrücken. Vor allem unter Frauen. Die Begeisterung über das Spontane kann dabei echt sein, aber ist meist gar nicht der Freude, sondern der Überraschung an sich geschuldet. Die Sprechgeschwindigkeit wird dabei oft beschleunigt. Das macht alles noch wichtiger und lebendiger. Auch nerviger. Doch im ersten Augenblick sind die Nerven noch außen vor, weil wir ja im Automatismus gefangen sind. Momente später, wenn Bewusstsein einsetzt und man gerade ein wenig klarer wird, dann tapfer weiter lächeln. Die störenden, ja verstörenden neu hereinströmenden Gedanken über die wahre Gefühlslage werden zur Falle, wenn man jetzt falsch reagiert. Denn auch der andere ist im Automatismus der Konvention und durchschaut sich selbst, die wahre Faktenlage und den anderen vermutlich ebenfalls nicht. Auch er steckt noch im Vakuum des Überraschungsmoments.
Also nun in aller Kürze: Es geht mir gut, sehr gut. Aber bitte nicht zu sehr betonen, sonst kommen die Nachfragen, die man gerade nicht will. Small Talk auf adäquatem Niveau. So kurz oder lang wie noch die Wohlfühlmomente dauern, bis andere Gefühle durch den abgelösten inneren Dirigenten die Oberhand gewinnen. Freundliche Zwanghaftigkeit.
Ich, die ich mitspiele wie alle anderen, durchschaue uns irgendwann. Aber ich verübele uns nichts. Ich klage nichts an. Ich weiß ja, warum es so läuft, wie läuft und wieso es zustande kommt. Auch, wie schnell es wieder vergeht. All diese Flüchtigkeit. Auch schön kann sie sein! Warmherzig und ohne all das oben Beschriebene, das nur der andere Teil dieser Wirklichkeit ist. Je nachdem auf wen man unerwartet trifft.
Was wäre denn, so frage ich mich, wenn wir uns alle in unseren spontanen Begegnungen aus dem Korsett der Konvention, des allzu schnellen Ablaufs, befreien würden?
Was wäre, wenn wir einfach innehielten, als direkt freundlich übereinander herzufallen?
Würden wir dann am Ende sogar noch einen Verlust erleiden? Würden wir uns um einen schönen ungeplanten Inszenierungsmoment sogar betrügen? Was wäre, wenn wir uns Momente Zeit gäben – uns anschauen und überlegen: Wie stehen wir beide eigentlich wirklich zueinander?
Würden dann Moment der Unsicherheit uns quälen aus Sorge, dem anderen nicht ausreichend gut zu tun – und er uns? Vielleicht hat es mit manchen Konventionen sogar etwas Schonendes, Beruhigendes, was wir aber nicht zu wichtig nehmen sollten?
Geduld brauchen wir mit uns selbst, nicht nur mit den anderen. Geduld, dass wir den Durchbruch der Klarheit, Wahrheit und Ehrlichkeit in jedem Augenblick des Lebens nicht von jetzt und gleich auch schon beherrschen, obschon wir ihn so wünschen.
(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 93ff)