Schmerz und Mut!

Anmerkung an alle (auch ungeborenen) Heilige von Christa Schyboll

Verehrte Heilige, heute, an Allerheiligen, wird eurer gedacht. Wie viele ihr wirklich wart, weiß kein Mensch. Denn die Kriterien, die an euch angelegt wurden, haben vermutlich noch viel mehr tapfere Menschen erfüllt, als wir ahnen.

Doch wer erfüllt sie heute noch? Vielleicht ebenso viele, gar mehr, weil sich die Menschheit vergrößerte? Seid ihr jedoch nicht zahlende Mitglieder in der katholischen Kirche, dann werdet ihr alleine schon von daher keine Chance auf diese Ehrung haben.

Dennoch gibt es euch. Und man sollte euch allen gedenken. Ihr lebt und sterbt auf allen Kontinenten und in allen Kulturen und Religionen. Auch außerhalb von Religionen, wo ihr als Menschen das fast Menschenunmögliche tut, weil es euch Herzenssache und Berufung zugleich ist – und koste es euch das Leben.

Vielleicht ist es unter anderem auch eure ungewöhnlich starke Kombination von Schmerz und Mut für eine übergeordnete Sache, die ihr alle gemeinsam habt? Euer Verzicht auf das kleine private Glück und die angenehme Bequemlichkeit des Lebens? Eine Hingabefähigkeit an die Sache, die euch auch das Schlimmste erdulden lässt, obschon es zumeist eine doch mögliche Alternative für euch gab. Todesbereitschaft, weil ihr um das Größere wisst. Ihr wähltet den schwereren Weg, weil ihr der Sache zuliebe nur diesem die Priorität eures Ertragens und Tuns einräumt… sei es in Sachen Glaube, Gott oder der Menschlichkeit mit all ihren noch vielen unmenschlichen Facetten.

Euer Wille und eure Überzeugung waren oder sind so stark, dass viele von euch eine Unmenge von Qualen, Not und Leid ertragen haben oder immer noch ertragen müssen. Folter, Kerkerhaft und manchmal Feuertod, Henker oder Steinigung erwarteten euch: Aber ihr bliebet der Sache eures Herzens treu!

Ist es heute so viel anders als früher? Sitzen viele von euch nicht immer noch in schaurigen Verließen vieler Staaten die Unbequemen, die durchhalten? Jahre, Jahrzehnte – oft auch bis zum Tod? Politisch-humanitäre Ziele dürften sich mit denen früherer Heiligen ähnlich sein, innerhalb welchen Glaubenskanons auch immer.

So sollten wir heute nicht nur den verstorbenen Heiligen gedenken, sondern vor allem auch euch, den Lebenden in den Slums der Welt, in den ausgelagerten Gefängnissen der Demokratie, in den Folterkammern unmenschlicher Regime, die ihr noch immer auf Gerechtigkeit hofft, auf unsere Wahrnehmung und unser aktives Mitgefühl für euren Einsatz für die Sache der Menschlichkeit, die auch gewiss im Sinne Gottes oder der Schöpfung ist.

Auch die vielen Heiligen, die noch jung oder nicht geboren sind, die wir noch gar nicht kennen, weil ihre Zeit des Tuns noch bevorsteht, sind in unsere Gedanken kraftvoll mit einzupflegen, auf dass ihrem Wirken jener Mut, Zuversicht und Durchhaltevermögen niemals fehle, die es braucht zur weiteren Vermenschlichung der Welt.

(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 301ff)

— 05. März 2022
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