Apokalypse vor der eigenen Haustüre
Die Flutkatastrophe im Ahrtal. Von Christa Schyboll
In der Nacht vom 14. Juli 2021 ereignete sich eine Flutkatastrophe ungeahnten Ausmaßes im Ahrtal und auch in anderen Gebieten der Eifel.

Das Ahrtal, meine Heimat, war extrem durch die Wucht der Zerstörung betroffen. Gigantische Wassermassen hatten sich binnen kurzer Zeit durch das liebliche, aber enge Tal des Flüsschens gewälzt und den Mensch Tod, Leid und immense Zerstörung gebracht.
Allein im Ahrtal verloren 134 Menschen ihr Leben. Zwei Menschen gelten noch als Vermisst und in Sinzig, meiner Heimatstadt ertranken allein 14 Menschen im Wohnheim für Behinderte in ihren Zimmern.
Mindestens 467 Gebäude riss die Flut mit sich mit, darunter mindestens 192 Wohnhäuser. Geschäfte, Hotels, Fabriken und Werkstätten werden vom Wasser zerstört. Von den 4.200 Gebäuden entlang der Ahr sind geschätzt mehr als 3.000 beschädigt worden. Das sind mehr als 70 Prozent aller Gebäude. Die Zerstörung der Infrastruktur: total. Straßen, Brücken, Eisenbahngleise – alles zerstört, schlimmer als in den beiden Weltkriegen, wie die Zeitzeugen berichteten.
Jetzt ist es vier Monate später. Manches ist notdürftig gerichtet. Vieles ist schon geschehen – aber angesichts dessen, was alles noch geschehen muss, um ein halbwegs vernünftiges Leben zu leben, ist noch sehr weit entfernt. Noch gibt es an vielen Stellen keine Heizung. Die noch nicht abgerissenen Häuser sind zu Tausenden entkernt und nicht bewohnbar, weil noch nass durch die Flut.
Die Flut zwang uns zunächst in die Ohnmacht und forderte das Überschreiten der Grenzen von Erfahrung. Denn das Leben musste für die vielen Opfer weitergehen.
Klar war anfangs alles chaotisch, unerträglich und voller Leiden. Die vielen Toten, die zu beklagen waren, die vielen Existenzen, die zerstört waren, die Menschen, die alles verloren haben, was sie sich lebenslang aufgebaut hatten.
Tausende von Einzelschicksalen, die nach und nach von jedem Betroffenen irgendwie verarbeitet werden müssen.
Ich habe mir damals, aktuell direkt nach der Flut, ein paar Aufzeichnungen gemacht, die ich hier Stelle einstelle:
»Während noch Abertausende in den Katastrophengebieten bei der Sicherung ihrer Existenz-bedingungen sind, ist für viele deshalb auch noch nicht Zeit gekommen, das Trauma in Ruhe zu verarbeiten. Zu sehr stehen im Moment noch die alltäglichen Nöte um Unterkunft, Hygiene, Ernährung und Wiederaufbau an, während andere schon sorgenvoll überlegen müssen, ob nicht sogar der Auszug aus der geliebten Heimat die einzige und letzte Chance ist, wenn beim materiellen Verlust auch noch ein langanhaltender Jobverlust auf Dauer droht.«
Diese tragischen Geschichten, die ein jeder individuell anders schlimm erlebt und erleidet, sind wichtige Themen, die unbedingt auch auf die politische Agenda gehören, damit der Staat schnell, effektiv, ausreichend und vor allem nachhaltig hilft. Dafür braucht es all diese Schilderungen der Dramen, die Zeugen des unfassbaren Geschehens sind.
Denn was jetzt wettertechnisch passierte, ist eben kein Jahrhundertereignis mehr, sondern kann nun jederzeit und überall eintreffen. Das »stehende Wetter« (durch den Klimawandeln vermutlich bedingt) muss sich nur die entsprechende Örtlichkeit aussuchen. Drei Tage an Dauerregen reichen für die sprichwörtliche Sintflut aus, die Tod und Zerstörung an vielen Landstrichen bringen kann.
Und doch gibt es da noch etwas ganz anderes, dem ich heute Gedanken widmen möchte!
Es sind die vielen authentischen Berichte der Helfer und der Betroffenen über ein zwischenmenschliches Zusammenwirken, das Gänsehaut bereitet.
Schon immer gab es zu allen Notzeiten diese Schutzengel in Menschengestalt, die man nicht erst losschicken mussten, sondern die »wie vom Himmel fielen« und einfach da waren, wenn und weil man sie braucht.
Doch diesmal scheint dieser Zu/Fall, dieses wunderbare Geschick als Geschenk so immens groß zu sein, wie es der Größe der Katastrophe entspricht.
Damit meine ich nicht, dass damit etwa die Not und das Leid durch ausreichende freiwillige und professionelle Helfer schon beendet wären, sondern ich spreche hier von einem gegenseitigen Geschenk, die sich Helfende und Bedürftige gegenseitig als Kraftreservoir für die eigene Zukunft schenken.
Die Helfer schenken durch ihre aktive Tat, die in Not geratenen Menschen mit tiefem warmherzigem Dank, so dass daraus wiederum etwas Wertvolles erwächst, das es fürs Weiterleben braucht: Hoffnung und Zuversicht!
Das vor allem verhindert die große Depression, für die aller Anlass besteht, wenn man nach den äußeren Fakten die Sache nüchtern beurteilt. Zuversicht jedoch ist genau die Eigenschaft, die Mut zum Weiterleben macht, die sich nicht nur in Worten oder Geld zeigt (das es natürlich auch dringend braucht!), sondern die noch ganz andere Qualitäten bergen, welche unbezahlbar und auch nicht zu befehlen sind: Warmherzigkeit, Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit und Solidarität.
Die vielen Geschichten der gegenseitigen Dankbarkeit, die Helfer und Bedürftige an- und miteinander erleben, wird etwas Bleibendes für beide Gruppen sein.
Die Helfer – egal wie und womit, wie lange und wie oft sie halfen – werden ein Leben lang jetzt ein Gefühl von Freude in sich tragen, dass ihnen niemand mehr nehmen kann. Sie werden sich zu Recht als werterfüllend-handelnd erleben und dieses Erlebnis wird auch für ihre Zukunft prägend sein. Zum Wohle aller. Und hierbei geht es diesmal nicht um eine kleine, überschaubare Gruppe, sondern um Abertausende von Menschen. Namenlos, ungezählt, vereint jedoch im mitmenschlichen Tun.
Und die Notleidenden wiederum bekommen in all ihrer Kraftlosigkeit so viel Hilfe und Wärme weit über das normale Maß hinaus, dass es ganz gewiss zu vielen neuen, wunderbaren Begegnungen kommt, die keinesfalls nach dem Aufräumen der Flut auch beendet sind – sondern vielfach dann erst richtig anfangen.
Diese Menschen, die sich in aller Fremdheit schicksalhaft so tief verbunden haben, werden sich zu anderen Zeiten, zu besseren Zeiten wiedersehen. Sie werden sich treffen, besuchen und sich erinnern.
Sie werden – so hoffe ich – irgendwann auch einen schönen Wein miteinander trinken und sich in den Armen liegen, weil sie beide auf äußerst unterschiedliche Weise den Schrecken einer fürchterlichen Katastrophe in etwas Wunderbares im Zwischenmenschlichen verwandelten.
Manchmal sind es ausgerechnet Zerstörung und Tod, der die Menschen sich näherkommen lässt. Allen Betroffenen alle Kraft, Schutz und Segen. Und allen selbstlos Helfenden ein warmer Dank.
(Aus: Verlorene Texte, Band 1)