Als die Kinder verschwanden

Elternsorgen und Elternglück liegen manchmal nah beisammen, weiß Christa Schyboll

Quicklebendige Kinder sind nicht nur selbstvergessen im Spiel, sondern auch im Zusammenhang mit Zeit und Raum. Sie leben in ihrer eigenen Welt, die sie hierhin oder dorthin tragen kann. Sind sie plötzlich verschwunden, werden vermisst und nicht gleich wieder gefunden, dann geraten Eltern in einen Ausnahmezustand.

Kleine Kinder sind oft speziell. Sie können schon recht flink sein, aber kennen nur sehr bedingt Angst. Die Welt steht ihnen offen, aber sie hat sich ihnen noch keinesfalls erschlossen. Vor allem nicht mit ihren Gefahren. Alles, was die Welt zu bieten hat, ist vor allem eines: spannend und erfahrenswert.

Einmal waren wir mit Freunden und den Kindern am Meer. Der Ostseestrand war warm, das Wetter rauschte und die Zeit war wunderschön. Die Männer angelten an einem anderen Strandabschnitt, die beiden kleinen Freunde, 3 und 4 Jahre alt, spielten wunderschön ruhig im Sand. Wir Frauen hatten endlich Zeit für wichtige Gespräche. Die hat man mit kleinen Kindern nicht allzu oft. Endlich hatte sich aber jene seltene Zeitqualität eingestellt, die zu nutzen war. Die Kinder im Blick in wenigen Metern Entfernung, selig mit Wasser, Sand und Förmchen damit beschäftigt, Kuchen für Fische herzustellen.

Der Blick auf die Kinder war unnötig. Wann immer wer von uns schaute, spielten sie wie festgewachsen an ihrem Platz, als hätte man sie angebunden. Die Gespräche intensivierten sich und bewegten nach und nach die kosmischen Weiten aller Frauen, die gerne auf den Punkt genau miteinander sprechen, tief analysieren und die Welten kurzfristig mental aus den Angeln heben. Unbemerkt ging dann der Blick wohl ein wenig weniger zu den Kindern, die ja immer noch ruhig spielten, immer noch kein Eis wollten oder sonstige Zuwendungen suchten. Das hätte uns eigentlich stutzig machen müssen. Denn wir waren gewohnt, ständig gestört zu werden. Doch irgendwie war es wohl zu verführerisch, sich endlich sich einmal selbst widmen zu können.

Der nächste Blick brachte eine Überraschung. Die Kinder waren weg. Klar, sie brauchten ja neues Wasser und waren gewiss ein paar Meter Richtung Meer gelaufen. Wie soll man auch nur trockenen Sandkuchen backen. Wir standen auf, um ihnen beim Wassertragen behilflich zu sein. Die Kinder aber blieben weg. Eine leichte Unruhe erfasste uns schon, weil der Strand doch sehr voll und damit sehr unübersichtlich war. Aber so schnell können die kleinen Beinchen ja noch nicht laufen.

Wo sind die Kinder?

Jede von uns ging nun am Wasser entlang in die jeweils entgegen gesetzte Richtung, um nun ja keinen Fehler zu machen. Treffpunkt war dann jeweils wieder am Strandlager. Minuten, und wir hätten die beiden kleinen Ausbüchser wieder eingefangen! Instinktiv suchten meine Augen zunächst das Wasser ab. Nur da war eine echte Gefahr, da die Kinder ja nicht schwimmen konnten. Am Wasser war alles ruhig und normal. Badende und Sonnende, Dösende und Flanierende - nirgends Hektik oder Unruhe oder eine wie auch immer geartete Menschenansammlung. Alles ruhig, normal. Nicht, dass mein Verstand tatsächlich mit ertrunkenen Kindern zu diesem Zeitpunkt gerechnet hätte, aber Mutterinstinkte oder auch Elterninstinkte fliehen in einer solchen Situation in alle Richtungen und müssen dringend ein blitzschnelles automatisches Ausschlussverfahren von gefährlichen Möglichkeiten vornehmen. Irgendwas sagte mir innerlich, dass das Wasser kein Thema war. Vielleicht auch deshalb, weil einfach zu viele Menschen im flachen Wasser standen, die hätten sehen müssen, wenn da gleich zwei kleine Knirpse ohne Begleitung sich reingewagt hätten. Soweit sich mein um Beruhigung bemühender Verstand.

Aber ich fand keines der Kinder. Ich lief genau in der Mitte des Strandabschnittes, um möglichst vom Wasser bis zum Strandsaum alles direkt unter scharfem Kontrollblick zu haben. Die Kinder blieben weg. Mein Verstand beruhigte mich aber wieder uns sagte mir, die Freundin habe sie längst gefunden. Vermutlich schleckten sie schon wieder längst ein Eis, während ich mich hier verrückt machte und weiter suchte. Da wir uns mittlerweile schon fast sieben Gehminuten voneinander entfernt hatten (ich hatte eine Uhr an), kam mir das Ganze nun immer merkwürdiger vor und meine Sicherheit wuchs, dass meine Richtung einfach die Falsche sei. Also ging ich zurück. Genau so erging es meiner Freundin. Sie kam auch angelaufen und sah, dass auch ich keine Kinder an der Hand führte. Jetzt endlich ergriff uns die volle Angst. Beide Kinder weg. Beide nicht gefunden. Dabei waren wir doch wirklich nur wenige Minuten unaufmerksam gewesen. Wie viele Minuten es jedoch genau waren, konnten wir beide nicht mehr sagen. Die Zeit war während unserer intensiven Gespräche zur Nullzeit zusammengepresst.

Elternsorgen und Elternglück

Wir verabredeten, dass die Freundin nun die Männer alarmierte, während ich wieder neu losrannte. Wieder in meine Richtung, vielleicht war ich einfach nicht weit genug gelaufen! Alle würden sich aufteilen, wenn die Männer vor Ort waren. Nun setzte mein Adrenalin ein. Aus Sorge wurde nackte Angst. Panik kroch in mir hoch und ich stolperte im weichen Sand über die eigenen Füße. Ich rannte diesmal schneller den recht langen Standabschnitt ab. Dann hörte ich ein freudiges „Mama…!“… Mein Kind. Es saß wohlbehütet in einem freundlichen, weiblichen Fleischberg. Eine liebe ältere Dame hatte das herrenlose Kind, das scheinbar ziellos umherirrte auf ihren Schoß genommen und ihm Wasser gegeben. Wenige Minuten sei das erst her… Ich schloss den Kleinen mit einem Gefühl unendlicher Dankbarkeit in die Arme und weinte. Aber der kleine Freund war weg. Nein, den hatte niemand gesehen. Da waren keine zwei Kinder. Befragen brachte uns nicht weiter. Irgendwann hatten sich die Knirpse verloren. Meine Panik kroch erneut hoch. Es war, als hätte ich das eigene zweite Kind verloren. Ich bat die nette Dame darum, unbedingt noch ein wenig aufzupassen, damit ich weitersuchen konnte. Dann lief ich noch ein kleines Stück voran - aber da war nichts weit und breit.

Völlig entkräftet lief ich nun wieder zurück, wo mir die Freundin aufgeregt entgegenkam. Die Männer suchten bereits in der anderen Richtung und waren äußerst empört, wie uns das hatte passieren können. Die Freude über das Auffinden des einen war getrübt über den Verlust des anderen. Wir mussten weitersuchen und würden keinen Zentimeter Strandabschnitt auslassen. Keiner kann ermessen, was in solchen Momenten in Eltern vorgeht. Angst, Sorge, Selbstvorwürfe, Panik, Verzweiflung drohten schon fast in Mutlosigkeit umzuschlagen. Während ich nun vorschlug, die Rettungswacht zu alarmieren, lief die Freundin weiter suchend vorwärts. Ich nun wieder zurück in die andere Richtung, von wo mir die Männer ergebnis- wie fassungslos entgegenkamen. Sie hatten alles bis zum Strandende abgesucht. Wir sprachen noch miteinander, als wir von hinten Rufe hörten… "Hinten liegt er… kommt!..." Die Freundin hatte ihren Liebling gefunden. Er war tatsächlich mit seinen kleinen Beinchen bis zum Ende des allerletzten langen Strandabschnittes gelaufen und hatte sich dann müde und erschöpft in den warmen Sand gelegt. Kein Mensch weit und breit… Auch niemand, der den Kleinen angesprochen oder zurückgehalten hätte. Menschenleerer Strand - nur ein kleiner müder Junge! Seine Situation war ihm nicht klar, Gefahr oder die Sorgen der Eltern konnte er nicht begreifen. Aber Durst hatte er. Und ein Eis wollte er haben! Ein Zitroneneis.

Elternsorgen und Elternglück gehen in solchen Momenten von Gefahr und Erlösung aus derselben eine unglaubliche Mischung gleich vielfältiger Gefühle ein. Das Gefühl der Dankbarkeit, dass tatsächlich nichts Schlimmes geschehen war, war am Ende unendlich groß. Größer als es hier beschrieben werden kann.

— 05. April 2012
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