Elternfragen

Spinnt mein Kind? – fragt Christa Schyboll

Finn geht nicht ohne sein Windeltuch schlafen. Er ist zwar bereits stolze fünf Jahre alt, soll im nächsten Jahr eingeschult werden und verfügt auch sonst schon über allerlei Verstand. Nur sein Windeltuch gibt er nicht her. Hier weigert er sich mit einer Vehemenz, die selbst die stärksten Nerven der Eltern in ihren Grundfesten erschüttert.

Das Windeltuch hat bereits viele Löcher und ist vom ehemaligen Weiß in diverse Grautöne übergegangen. Hier und da sind auch ein paar gelbliche Flecken zu orten, die trotz Werbeversprechen der Waschmittelindustrie sich hartnäckig im Gewebe halten. Jeder Versuch, das widerliche alte Ding doch wenigstens durch ein anständiges frisches zu ersetzen, wurde bisher höchst erfolgreich mit wütendem Geschrei im Keim erstickt.

Ginge Finn nun lediglich damit abends zu Bett, könnte man diesem Umstand ja noch gelassen entgegensehen. Aber nein, er braucht es als Tagesfetisch, wenn er müde ist. Und er ist hin und wieder mal öfter müde. Auch mit fünf… und vermutlich auch noch mit sieben oder acht Jahren. Mal überkommt es ihn bei einem längeren Spaziergang, mal bei einem langweiligen Besuch. Ist dann das Schmusetuch da, dass er zärtlich Mümmi nennt, ist alles gut. Ist es nicht da, ist alles schlecht. Nein, das stimmt nicht! Es ist nicht schlecht, sondern die Hölle ist los. Der kleine liebe Finn, mit seinen süßen blonden Locken und dem herzigen Lachen entpuppt sich als Dämon, der auch über solcherart Kräfte verfügt. Sein stimmlicher Resonanzkörper schafft je nach Situation bis zu 100 Dezibel, was dem Lärmfaktor eines Presslufthammers entspricht.

Finns Eltern sind mittlerweile durch die Jahre geschwächt. Auch hat ihr Gehör eine Art von Empfindlichkeit bekommen, die mittlerweile sehr schnell an die Nerven geht. Da Finn immer und überall mitgeschleppt wurde, wurde auch der Freundeskreis der Eltern mit in dieses Lärminferno eingebunden, insofern Mümmi nicht im rechten Augenblick zur Hand war.

Anfangs lächelten die Freunde. Nicht über Finn, nicht über Mümmi, sondern über die Eltern, die selbst mit einer solch lächerlichen Aufgabe erzieherisch überfordert schienen. Nun lächeln sie nicht mehr. Teils, weil sie den Nervenkrieg zu häufig mitmachten, teils weil sie mittlerweile selbst Eltern geworden sind. Eltern eines Kindes, das einen Spleen hat. So wie Finn. Nur ein wenig anders.

Finn hat alles im Griff. Und wenn die Eltern schlau sind, sehen sie zu, dass vor allem Mümmi griffbereit vorhanden ist, wenn Finns unbestechlicher Griff danach tastet. Die Sorgenfalten der Eltern sind schon recht sichtbar in die Stirn gegraben. Aber dennoch ist Entwarnung angesagt. Oder kennen Sie einen Mann, der ernsthaft mit seinem Mümmi je zum Abitur antrat oder sich damit an den Traualtar stellte?

Sind wir Eltern am Ende nicht kleingläubige Kreaturen, die ihre Kinder möglichst doch quadratisch, praktisch, gut haben möchten? Nicht negativ auffallen bitte!?... Bloß nicht aus der Reihe tanzen und Dinge tun, die anderen Kindern bereits ab erzogen sind? Sind wir, die wir so stolz auf unsere gereiften Individualitäten sind, nicht selbst kleine Memmen, wenn das Kind mit seinen speziellen Eigenarten unser kleines Elternweltbild stört, weil wir jederzeit stolz sein möchten auf jeden Entwicklungsschritt in jedem Alter? Und sind wir am Ende nicht manchmal fast trunken vor Glück und stolz, wenn das Kind eben dennoch schon früh "Leistungen" bringen kann – und sei des die Leistung der Nichtauffälligkeit unter immer mehr auffälligen Kindern?

— 18. Oktober 2011
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