Kinder, Mut und Krisenbewältigung

Wie frühes Lesen die Persönlichkeit bildet. Von Christa Schyboll

Was wird einmal aus meinem Kind, mögen sich manche Eltern fragen, die erstmals vor der großen Aufgabe der Erziehung stehen. Es sind viele Faktoren, die eine Rolle spielen, ob ein Kind stark und erfolgreich wird oder in Gefahr gerät, zu den Verlierern der Gesellschaft zu gehören.

Unsere multimediale Welt der ständigen Bilderflut droht damit, so manches Kind vom Lesen guter Bücher abzuhalten. Zu verführerisch sind all die Smartphones und Spielkonsolen, die anderes als Bücher von Kindern fordern und auch bieten. Dabei sind Kinder, die gerne lesen im Vorteil gegenüber ihren Altersgenossen. Nicht nur ihr Sprachschatz ist größer und wesentlich differenzierter, sondern auch ihre Empfindungen sind zumeist durch den Einfluss guter Geschichten geschult und verfeinert. Dabei ist es nicht unerheblich wann und auf welche Art Kinder an die Leselust herangeführt werden.

Eltern, Großeltern, Geschwister, die früh mit den Kindern die ersten Bilderbücher gemeinsam anschauen und sich über das dort Gesehene gemeinsam freuen oder erstaunen können, tauchen mit den Kleinen schon früh in Gemeinschaftserlebnisse ein, wo sie auch die Unterschiede feiner Emotionen kennen lernen. Wie schön ist es, gemeinsam über das eine oder andere Bild lachen zu können, sich zu wundern oder die vielfache Palette reicher Gefühle zu erfahren, wenn man es mit einem anderen Menschen teilen kann.

Die Kinder erfahren bei den ersten Bilder- oder Lesebüchern nicht nur Teilhabe, sondern auch Zuwendung und lebendiges Interesse, welches das eigene Interesse am noch unbekannten Leben entsprechend befeuern wird. So werden die Momente des gemeinsamen Lesens – oder zunächst Anschauen Kind gerechter Bilder – zum entscheidenden Einstieg für ein Erleben, das wiederholt werden möchte.

Sind die Kinder schon etwas älter und können bereits schon kleinen Geschichten mit Aufmerksamkeit folgen, kommen neue Momente der Spannung hinzu. Hier kann es auch in der Phantasie des Kindes gefährlich werden. Es lauern Ungerechtigkeiten am Wegesrand der Geschichte, Feinde oder so manche Bedrohung. Der Vorleser bringt damit vorsichtig eine erste Erregung ins kindliche Gemüt, die aber durch einen guten und gerechten Ausgang auch wieder ausgeglichen werden kann. So lernen die Kinder die Welt von Gut und Böse kennen, was für ihre Seelenbildung von großer Bedeutung ist. Das alles ist umso wertvoller, je liebevoller es von einem Erwachsenen dabei begleitet wird und nicht in seinen Ängsten verbleibt. Die Kinder erfahren dabei auch die Macht des Guten über das Böse, dem sie später im Leben immer wieder auch begegnen werden. Insofern ist das Lesen guter Geschichten auch eine Vorbereitung auf die Widrigkeiten des Lebens und ihre Meisterung.

Von der kindlichen Seele und ihren speziellen Bedürfnissen

Die kindliche Seele braucht zum Gedeihen vielerlei Kräfte und Erfahrungen. Dazu gehören unter anderem in erster Linie die Erfahrung einer liebevollen Umgebung. Gerade das frühe und gemeinsame Lesen und Spielen bekommt hierbei einen ganz besonders hohen Stellenwert, der prägende Wirkung hat. Hier werden Gefühle auch in der Wahrnehmung des anderen erfahren. Das ist entscheidend für die Entwicklung von Intellekt und Kreativität. Vor allem aber sind damit auch die moralischen Wertmaßstäbe verbunden.

Weitere Kriterien für ein gutes Gedeihen sind das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit oder auch das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen, die auch die speziellen Begabungen eines Kindes mit berücksichtigen. Auch hier werden bei häufig lesenden Kindern ein Unterscheidungsvermögen und eine Differenzierung der Wünsche und Vorstellungen feiner ausgebildet als bei Kindern, die nur wenig geistige Anregungen bekommen.

Entscheidend sind auch altersgerechte Erfahrungen. Kinder, die zu früh intellektualisiert werden, stehen oftmals in Gefahr, dass sie zur falschen Zeit auf die falsche Weise zwar gefördert werden, aber dabei entscheidend gesunde kindliche Erfahrungen verpassen. Übermäßige Behütung ist ebenso zu vermeiden wie eine überfordernde Erwartungshaltung allzu ehrgeiziger Eltern. Hier ist auch die Vertrauensfrage der Eltern in die Zukunft ihrer Kinder angesprochen und gefordert. Ängstliche Eltern werden aus Sorgen heraus vermutlich mehr Fehler begehen als Eltern, die ihrem Nachwuchs und seinen gesunden Kräften vertrauen können. Zu beachten ist dabei , dass alle Kinder ihre eigenen individuellen Entwicklungszeiten haben. Schaut man immerzu auf jene Kinder, die aber schon „weiter“ sind, erzeugt man auch nonverbal einen Druck, der auf einem Kind lasten kann und es in seiner Entwicklung unnötig hemmt.

Es gab einmal Perioden, da war es en vogue, Kinder wie Partner, Freunde oder kleine Erwachsene zu behandeln. Man gab ihnen ein Übermaß an Entscheidungsfreiheit. Sie sollten immerzu bestimmen, was wann wie gemacht wird – und waren hoffnungslos überfordert. Die Eltern wähnten sich demokratisch und modern – und ließen jeden Überblick über eine gesunde Erziehungsverantwortung vermissen. Ein falsch verstandener Ansatz, der zur Unzeit den Erwachsenen im Kind ansprach – während das Kind nicht einmal richtig Kind sein durfte.

Lesen – Werkzeug zur späteren Krisenbewältigung

Kinder brauchen Grenzen, Strukturen und Schutzräume. Sie erleben die Welt noch chaotisch, können vieles nicht verstehen und erst recht nicht beurteilen. Sie wissen nicht, was gut oder schlecht, gefährlich oder schön sein kann. Sie erfahren es nur im Tun. Und werden sie zum falschen Tun – oder zu gar keinem Tun – angeleitet, werden sie unnötig viele schlechte Erfahrungen machen. Kinder brauchen Anleitung, Gebote und auch notfalls strenge Verbote, wenn die Gefahren zu groß sind.

Nach der Kleinkindphase wird das Bedürfnis nach einer erweiterten Gemeinschaft nach und nach größer. Zur Familie kommen nun auch Nachbarn, Freunde, Schulkameraden. Alle prägen sie auf eigene Weise das kindliche Gemüt. Der zugeführte Lesestoff, den Eltern ihren Kindern an die Hand geben, ist dabei weiterhin von entscheidender Bedeutung, nach welchen Qualitäten sich ein Kind später im Leben im Denken, Fühlen und Handeln ausrichten wird. Auch die frühe Förderung der eigenen Phantasiekräfte, die ebenfalls durch Lesen und Spiel stärker entwickelt werden, wird entsprechend zu Buche schlagen.

Kinder, die es gewohnt sind, früh gute Gespräche im Familienkreis zu führen, ihre Emotionen und Ängste ebenso frei zu äußern wie auch ihre Freude oder ihre Begeisterung, werden später kommunikationsstark durchs Leben gehen und immer wieder auch gute Gesprächspartner finden, mit denen sie die Feinheiten des Lebens geistreich beleuchten können.

Sie werden das Leben mit seinen Krisen, Widrigkeiten und Herausforderungen umso differenzierter zu betrachten wissen, je mehr sie sich früh in die Vielfalt anderer Gedanken eingelesen haben und mittels dieser Prägungen dann imstande sind, auch ganz eigene, unabhängige Sichtweisen zu entwickeln. Wer im differenzierten Denken früh geschult wird, hat auch ein reicheres Handwerkszeug fürs Handeln im Leben zur Verfügung und wird Tiefpunkte im Leben sehr gut meistern können und daran wachsen.

Und all das beginnt schon im frühen Kleinkindalter, wenn die ersten schönen Bilder erklärt und die ersten kleinen Geschichten erfunden oder vorgelesen werden. Hier wird der Keim gelegt für eine erfüllende Lebensqualität, die bis ins hohe Alter ein ganz persönlicher Schatz werden kann.

— 21. März 2017
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