Beleidigte Leberwürste

Gefangen im Gewirr von Betriebsblindheit und Erkennen. Von Christa Schyboll

Ob jemand schnell beleidigt ist oder sich souverän gegenüber den Äußerungen anderer Mitmenschen stellt, ist auch eine Frage von Charakter und Reife. Beleidigungen sind dort, wo sie erfahren werden, jedoch ein Schmerzprozess, dem man sich stellen muss. Verdrängungen helfen nicht weiter.

Beleidigte Menschen ziehen sich gern zurück und lecken erst einmal ihre Wunden, wenn ihnen etwas Schmerzliches widerfahren ist, das sie kränkte.

Nach seinem Selbstverständnis ist der Beleidigte zumeist auf eine Art Wiedergutmachung angewiesen, damit er das Geschehene auch verarbeiten kann. Das kann eine Entschuldigung sein oder auch eine Tat je nach Ereignis. Kommt nichts davon zurück, bleibt das beleidigte Schmollen unter Umständen über einen sehr langen Zeitraum erhalten.

Nicht immer heilt die Zeit alle Wunden so ganz automatisch. Denn wenn das Wertesystem des Beleidigten tief untergraben wurde, ist er ja nicht nur beleidigt, sondern auch verstört und verletzt. Aus diesem Dilemma dann ohne die Hilfe des vermeintlichen "Täters" herauszufinden ist schwer. Umso schwerer, wenn dem Beleidigten der Überblick über das Ganze der Ereignisse fehlt und er stattdessen nur seine eigene Position und Sichtweise im Fokus hat.

Manchmal wird daraus eine unüberbrückbare Kluft fürs Leben, wenn es nur weh genug tat. Inwieweit beleidigten Leberwürsten aber auch ein gesundes Aggressionspotential fehlt, womit sie sich adäquat hätten wehren können, ist dabei in Augenschein zu nehmen. Denn gerade die Form des Beleidigtseins, die im bloßen Rückzug ohne Aufarbeitung endet, ist ein Signal, das es zu deuten gilt.

Hier spielen oft große Ängste – die allesamt zumeist eine Vorgeschichte haben – eine Rolle, so dass ein offener Kampf nicht aufgenommen werden kann. So wird häufig ein stiller Kampf daraus, bei dem es letztlich keine wirklichen Gewinner gibt, auch wenn der vermeintliche "Täter" nach außen als der zunächst Stärkere daraus hervorgehen mag.

Warum aber sind manche Menschen schnell beleidigt und andere, bei den gleichen Umständen und Worten überhaupt nicht? Das ist einerseits eine Frage der Empfindlichkeit und Sensibilität, andererseits eine Frage von Selbstbewusstsein oder Minderwertigkeitsgefühl und drittens vor allem aber auch eine Frage von Überblick, Durchblick und Erkenntnis.

Von der Chance am Konflikt

Konflikte mit anderen Menschen zu haben, ist eine ziemlich natürliche Sache, die für die meisten Menschen auch häufig vorkommt. Viele mögen sie aber deshalb nicht, weil Konflikte und Streitereien nicht nur unangenehm sind, sondern es auch oft viel Kraft und Geschicklichkeit braucht, wieder den alten Status quo einer ehemals guten Beziehung wieder herzustellen. Zerstörung geht nun einmal schneller als ein Aufbau.

Konflikte mit anderen Menschen sind insofern von Wert, als sie uns helfen, die Position des anderen auch ins eigene Blickfeld nehmen zu müssen und damit die eigene Sicht zu erweitern. Dort, wo man alles gleich sieht und beurteilt, findet kein Lernen statt. Dort, wo man aber heftig herausgefordert ist, sei es zu Recht oder zu Unrecht, beginnt eine Auseinandersetzung, die im unfruchtbaren Fall zum bösen Streit ohne Befriedung führt – aber im gelungenen Fall zu einem neuen Vertrauen, zu einer tieferen Freundschaft und vor allem aber zu einem immensen Lernerfolg an der Wirklichkeit selbst.

Die Wirklichkeit selbst ist nun einmal so gestrickt, dass es letztlich nichts außer dem Individuellen gibt. Das gilt für jedes Atom, für jeden Menschen, für jeden Planeten. Und je mehr der Mensch lernt, über seinen eigenen höchst persönlichen Horizont endlich hinauszublicken, und dieses Erschauen auch in die Gefühle, Gedanken und Taten zu transferieren, taucht er in die Gesetzmäßigkeiten des Individuellen deshalb auch tiefer ein, weil er dort das Gemeinsame in allem finden kann.

Einheit durch Vielfalt symbolisiert das Spiel des Ganzen, zu dem auch das Unverstandene, Beleidigte, Täter und Opfer, Individuen und Gemeinschaften ebenso gehören wie Missverstehen und Verstehen oder Betriebsblindheit und Erkennen.

Je mehr es gelingt, im Falle eines zugefügten Schmerzes sich nicht als Opfer zu fühlen, sondern als Mitgestalter an einer neuen zwischenmenschlichen Chance und dabei auch die Kraft aufbringt, aus dem Geschehen selbst ein wenig zurückzutreten und den eigenen Bannkreis zu verlassen, umso mehr wird man durch Erkennen nicht nur klüger, sondern auch glücklicher.

— 16. Mai 2014
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