Leben oder Überleben

Gedanken zur Lebenshaltung von Christa Schyboll

"Ich habe mehr überlebt, als gelebt". Ein Bekenntnis in kurzen Worten. Hildegard Knef formulierte damit eine Tragik ihres Lebens. Vielen Menschen ist sie als Problem ebenfalls bekannt und bewusst. Andere sind noch nicht ganz an dem Punkt, diese eigene Tragik klar zu realisieren. Deshalb leiden diese Menschen dann still weiter, Jahr um Jahr, und überleben sich irgendwie dabei selbst, bis sie endgültig sterben.

Überleben geht in unseren westlich orientierten Vorstellungen gedanklich häufig mit den Menschen in armen Ländern oder in den Kriegsgebieten einher. Die dortigen Überlebensfragen sind elementar und existentiell. Betroffene Menschen in den Todeszonen von Hunger, Krieg und Seuchen. Und dennoch ist die Formel falsch, die meint, dass diese Menschen durch ihre oft unsäglichen Lebens-Bedingungen mehr mit dem Überleben als mit dem Leben selbst beschäftigt sind. Internationale Studien zu den Themen Freude, Glück und Zufriedenheit zeigen immer wieder neu, dass Armut und Not allein nicht das Kriterium sind, ob ein Mensch lebt oder überlebt. Bei dieser Frage geht es vor allem um die Haltung zum Leben und seinem Wert an sich.

Leben, im Sinne des Knef-Zitates, meint: Authentisch sein, Freude und Glück des Momentes genießen. Sich selbst mit allen Fasern spüren und frei genug zu sein, um sich nicht ständig als Marionette anderer Zwänge und Verpflichtungen zu fühlen. Leben meint ein möglichst geringes Maß an Abhängigkeiten, Loslassen können und in sich selbst Ruhe und inneren Frieden finden. Das ist sind Seins-Zustände, die erreichbar sind, auch wenn die Zahl der Erfolgreichen derzeit noch eher gering sein mag. Dass diese Zustände in den Regionen des Krieges oder anderer Todesbedrohungen noch schwieriger für die meisten Menschen zu erreichen sind, versteht sich von selbst. Dennoch stehen sie nicht in unabdingbarer Abhängigkeit, wie uns ein fröhliches Kinderlachen aus Kriegsgebieten ebenso zeigen kann, wie die Tränen eines reichen, satten, verwöhnten Kindes voll tiefer Einsamkeit.

Überleben meint: Den nächsten Tag, die nächste Stunde irgendwie schaffen. Mit Bauch- oder Kopfschmerzen. Mit Verdrängung oder Lüge. Ganz unabhängig davon, ob man reich oder arm ist, einen Job oder einen Partner hat. Ob man gerade einmal wieder pleite ist oder bei gleichzeitig dick gefülltem Konto in den eingebildeten Verarmungswahn flüchtet. Nur irgendwie das eigene stressige Leben "überleben"! Also sich selbst und seine Situation in diesem aktuellen Lebenskontext irgendwie auszuhalten, ist in diesem Falle angesagt. Es beruht zumeist auf einer inneren Haltung, derer man sich häufig nicht wirklich bewusst ist. Längst haben sich Automatismen und Reflexe ins eigene Leben eingeschlichen, die uns blind dafür machen, was wirklich mit uns los ist. Sie tangieren unsere unbewussten Zukunftsängste, die scheinbar mangelnden Perspektiven, unsere vielen Zwänge, unsere desolaten Glaubenssätze, nach denen wir unser Handeln ausrichten. Die Liste könnte fortgeführt werden. Das wahre Leben selbst ist dabei ausgeklammert. Man funktioniert. Vor allem bei den Faktoren, Lust, Konsum und Stress. Und man bedient eine Lebenshaltung damit, an der viele auch vortrefflich genau deshalb verdienen. Der eigene große Verlust an Lebensqualität wird zumeist dabei nicht bedacht.

Wir sind so stolz auf all unser Wissen, unsere Erfolge und unsere Modernität. Wir sind zukunftsgerichtet und offen. Gleichzeitig sind wir in ständiger Sorge um irgendeinen Verlust. Sei er menschlicher oder materieller Art. Diese Sorgen quälen viele Menschen Tag und Nacht, lebenslang. Und selbst wenn sich eine der Sorgen erledigt, stehen drei andere bei Fuß. Der Mensch an sich hat tausend gute Gründe, sich ständig zu sorgen und dabei das wahre, gute Leben zu verpassen. Er überlebt sich; bis zum Tod.

Wie gnadenvoll aber jene Menschen, die das Wesentliche schon beherrschen: Leben im Hier und Jetzt. Ohne deshalb die Zukunft zu versäumen oder die Vergangenheit mit all ihren Prägungen zu missachten. Angefüllt mit Freude und Dankbarkeit, für die Möglichkeiten, die sich in jeder Minute neu ergeben, wenn man sich nur aus dem Kraftmoment der Gegenwart entschließt. Es scheint so einfach zu sein. Und dennoch ist es für viele so schwer in Bezug auf eine beständige Umsetzung im eigenen Leben.

— 11. Oktober 2013
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