Zwischen Abgrund und 7. Himmel

...lässt es sich fröhlich leben, meint Tom Borg

Demütige Gelassenheit kommt mir oft als dämlich, bescheuert vor. Doch sie gibt den Menschen die Kraft, das Leben zu genießen mit dem was sie haben. Denn wenn mehr nicht da ist, dann nutzt alles Jammern nicht. Man muss es hinnehmen - oder für Abhilfe sorgen...?

In Gottes Paradies gab es verbotene Früchte, die Adam nicht essen sollte; über unseren irdischen Paradiesen schweben immer öfter dunkle Wolken, die wir nicht ignorieren sollten. Täglich stirbt eines der unersetzlichen Naturparadiese dieses Planeten. Mal ist es eine schöne Bucht mit weißem Sand, der durch Müllhalden und Hotelanlagen verschandelt wird, ein andermal stirbt ein Korallenriff ab und täglich verschwindet eine Tierart oder Pflanzenart für immer aus unserem Paradies, das die Erde vielleicht einmal war. Oder ist sie es immer noch? Ansichtssache! Und diese Ansichten unterscheiden sich drastisch - abhängig davon, ob man sich auf der Sonnenseite des Lebens befindet oder eher in den Schattenseiten sein Dasein fristet. Und doch, so ganz stimmt es auch wieder nicht. Wir sind es gewohnt, die Welt so zu betrachten, wie wir sie sehen möchten. Doch meistens ist sie ganz anders.

Riskiert man als Urlauber in einem fernen Land, sei es in Asien, Südamerika oder Afrika, einmal einen Blick in das Innere des Landes, so begegnet man schnell Armut, Zerfall und Aussichtslosigkeit. Ein krasses Alternativ-Szenario zur so perfekt gestylten Urlaubsidylle. Eine Welt in der sich auf den ersten Blick kaum etwas verändert. Ja, streng genommen kann sich da mitunter auch gar nichts ändern. Ich besuche beispielsweise regelmäßig die südwestliche Spitze der philippinischen Insel Negros. Dort liegt ein natürliches Taucherparadies, das regelmäßig Touristen aus aller Welt anzieht. Die einzige Straße dorthin führt entlang der Küste.

Seit nunmehr 20 Jahren scheint dort die Zeit einfach stehen zu bleiben. Die Küstenstraße schlängelt sich durch dünn besiedelte Regionen, wo alle paar Kilometer mal ein kleines Dörfchen kommt. Meist sind es nur ein paar Hütten vor denen Menschen sitzen und warten - auf was auch immer. Sie sitzen da einfach und unterhalten sich und harren der Dinge, die da vielleicht einmal kommen. Seit 20 Jahren sehe ich immer das gleiche Bild, wenn ich diese Straße Richtung Sipalay fahre. Und seit 20 Jahren frage ich mich: Welche Zukunft haben die Menschen dort? Was werden die Kinder einmal tun, wie werden sie leben, welche Chancen haben sie? Es gibt dort weit und breit nichts außer den vergammelten Hütten.

Ausgelassene Fröhlichkeit

Eigentlich müssen die Menschen wütend oder verzweifelt schreien: Gebt uns eine Zukunft! Aber sie tun es nicht. Die älteren Menschen schwatzen den ganzen Tag und investieren das kleine bisschen Geld, das sie haben, in eine Flasche Rum, der - gemessen an deutschem Niveau - spottbillig zu bekommen ist. Die Kinder sind auch nicht verzweifelt. Im Gegenteil: Sie lachen, so wie Kinder überall lachen und spielen. Irgendwie sind sie glücklich und zufrieden. Sie kennen das Leben nicht anders, obwohl das so eigentlich auch nicht stimmt. Dass es anders sein kann, bekommen sie jeden Tag im Fernsehen vorgeführt. Da gibt es amerikanische Serien, wie überall auf der Welt, die ein ganz anderes Bild der "fremden Realität" zeigen. Und selbst einheimische Filme spielen meistens in Gegenden, wo besser situierte Menschen leben, ein Leben, das mit der Realität auf dem fernen Landesinneren kaum etwas gemein hat. Eigentlich müssten die Menschen sehnsüchtig sagen: "Das wollen wir auch haben!" Aber sie tun es nicht. Warum nicht?

Ok, den Filipinos sagt man nach, dass sie sehr geduldig seien und anders das Leben unter den vielen wechselnden Kolonialherren nicht hätten ertragen können. Die fremden Herrscher sind weg, aber die Mentalität ist geblieben. Man nimmt alles so hin, wie es ist; das meiste jedenfalls. Gibt's im Geschäft nicht zu kaufen, was man suchte, dann ist das halt so; gibt es nur Technik zu kaufen, die nach einem halben Jahr schon wieder kaputt ist, dann muss man halt damit leben. Da schreit alles in mir NEIN, muss man nicht. Aber wenn ich es ausspreche schauen mich alle verständnislos an, so als wollten sie mir sagen: was will der Typ eigentlich - da liegt doch ein ganzer Haufen, den man kaufen kann. Dass dieser Haufen morgen schon kaputt sein wird, interessiert niemanden außer mir. Mit meiner deutschen Schaffe-schaffe-Häusle Mentalität bin ich hier sowas von fehl am Platz wie eine Kuh auf dem Fahrrad. Die Menschen hier leben einfach das was sie haben und so wie sie es haben. Geld zur Seite legen für schlechte Zeiten? Pustekuchen! Das Wort "Sorgen" kennt man nicht und Geld nutzt nur etwas, wenn man es ausgibt - und das tut man mit vollen Händen und großem Vergnügen. Was morgen ist, das wird der liebe Gott schon richten...

Demütige Gelassenheit

Diese demütige Gelassenheit kommt mir oft als dämlich, bescheuert vor. Und doch muss ich mir innerlich eingestehen, dass sie auch wiederum ihre Vorteile hat. Sie gibt den Menschen die Kraft, das Leben zu genießen mit dem was sie haben. Denn wenn mehr nicht da ist, dann nutzt alles Jammern nicht. Klar, man könnte sich den Kopf zerbrechen, wo man für morgen einen doppelt so großen Fisch herbekommen könnte. Aber morgen ist morgen, und heute wird erstmal der Fisch gegessen, der vor einem auf dem Teller liegt.

Eine für uns Deutsche in der Regel inakzeptable Lebensweise und Grund für die mitunter langsame Entwicklung in der dritten Welt. Und dennoch leben die Menschen teilweise glücklicher als wir, die wir im vermeintlichen Luxus leben.

Während wir uns furchtbar aufregen, wenn jemand in der Schlange an der Supermarktkasse sich vordrängelt, wird in der Dritten Welt oft einfach nur gelächelt und weiter mit dem Nachbar in der Schlange getratscht. Es wird gelacht und das wenige das man hat miteinander geteilt. Es herrscht ausgelassene Stimmung, laute Musik tönt aus allen Ecken, lachende Kinder toben herum und der einzige Miesepeter dabei bin ich, weil ich bei all dem Lärm nicht arbeiten kann - was die anderen wiederum nicht verstehen. Warum jetzt arbeiten? Das kann man doch auch noch morgen machen...? Würde ich ja auch gerne, aber wie soll ich meinem Verleger erklären, dass ich meinen Termin nicht halte, und wie meiner Umgebung, was überhaupt ein Terminkalender ist - und wie mir selbst, welche dieser Lebensformen besser ist?

Und gelegentlich ertappe ich mich dabei, dass ich mich an einen alten Schlager aus meiner Schulzeit erinnere: "Später wann ist das" - ein Lied über einen Mann, der später allesmögliche machen wollte. Das Lied endet mit "Nun hab ich es in der Zeitung gelesen, später das ist für ihn gestern gewesen; später ist zu spät gewesen". Mir fallen all die Menschen ein, die als Rentner so vieles machen wollen und sich darauf freuen, aber das Rentenalter erst gar nicht erreichen. Was, wenn meine ganze Arbeit für die Katz ist? Wenn ich dieses Jahr ackere wie ein Bekloppter, damit ich nächstes Jahr ein angenehmes Leben habe, und dann der liebe Gott mir einen anderen Termin in Schedule einträgt...?

Zum Teufel mit den Problemen

Läuft alles nach meinen Plänen, könnte ich nächstes Jahr meinen Nachbarn sagen: Wenn ihr faulen Säcke letztes Jahr reingeklotzt hättet, dann könntet ihr jetzt auch in Saus und Braus leben. Ereilt mich das Schicksal, werden meine Nachbarn sagen: Schaut euch den Deppen an - hat geschuftet bis zum Umfallen und jetzt liegt er unter der Erde... Wetten, dass die dann alle lachend eine Buddel Schnaps bei meiner Beerdigung von meinem erschufteten Geld trinken...?!

Glück und Unglück liegen oft nahe beieinander, Abgrund und 7. Himmel ebenso. Dazwischen lässt es sich prima leben, solange man dem Abgrund nicht zu nahe kommt und sich daran erinnert, dass man aus dem 7. Himmel abstürzen und verdammt hart in des Lebens Realität aufschlagen kann. Hurra, wir leben noch; lasst uns miteinander fröhlich sein! In der Dritten Welt funktioniert dieser Lebensoptimismus. Die Menschen machen das Beste aus jedem Tag der ihnen vergönnt ist. Und manchmal habe ich Lust, es ihnen gleich zu tun, einfach alles hinzuschmeißen, einfach mit dem Rucksack um die Welt ziehen, wie ich es als Schüler einmal machen wollte. Da zu leben wo es Spaß macht.

Und, ja, ich könnte es theoretisch sogar. Mit einem Laptop in Gepäck könnte ich von überall meine Web-Server steuern und meine Texte beim Verleger abliefern. Es wäre doch ein prima Leben: Wenn das Geld ausgeht, wird dem Verlager neues Manuskript geschickt und dann davon gelebt, solange das Geld reicht. Andere Länder sehen, andere Völker kennenlernen - dank moderner Technik wäre das alles kein Problem, solange ich Strom finde oder eine kleine Solarzelle mitschleppe. Das Leben kann so herrlich einfach und schön sein. Wenn, ja, wenn da nicht bloß all diese schönen Paradiese wären, die man retten möchte; all die Menschen ohne Zukunft, denen man eine Chance vermitteln möchte; all die Sorgen, die man sich über Morgen macht anstatt das Heute zu genießen...

Wie soll man auch sein Leben genießen bei all den Problemen um einen herum? Oder ist genau das mein Problem, dass ich mich damit schwer tue...? Dann sollte ich jetzt diesen Text beenden und hinausgehen zu meinen Nachbarn, um meine tägliche Lektion "Leben genießen" zu absolvieren...

— 29. Mai 2012
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