Lob und Tadel

Den Schwachen zu tadeln, heißt seine Schwächen zu stärken, meint Christa Schyboll

Was wären wir alle ohne Lob? Oder anders: Wie wären wir alle, wenn wir in verdienter Weise denn unser Lob bekämen? Lob ist für die Seele wie frische Waldluft für die Lungen. Aber wann und wie oft sind Lungen schon im Wald. Ähnlich häufig resp. Selten bekommen wir das Lob, das unserer Leistung gemäß ist.

Woran liegt es, dass so wenig gelobt wird? Liegt es daran, dass eine individuell erbrachte Leistung von den Zeugen der Leistung gar nicht als solche erkannt wird? Oder liegt es daran, dass man jemandem das Lob deshalb nicht vergönnt, weil man selbst ebenfalls zu wenig erhält? Auch wäre denkbar, dass man mit Lob einem Konkurrenten eventuell noch Wasser auf die Mühlen seiner Eitelkeit und Bestrebungen gibt und ihn damit genau an der Stelle stärkt, wo man ihm heimlich Schwäche wünscht? Verhindert reiner Neid das Lob oder lobt man nicht, weil es eine so selten erlebte Erfahrung wurde, dass sie dem normalen Blick entschwunden ist?

Allein diese kleine und unvollständige Aufzählung zeigt, dass es sehr viele Gründe gibt, mit Lob sparsam umzugehen. Wie bewusst man dies tut und aus welcher Motivlage es geschieht ist jedoch entscheidend. Zuviel Lob kann umgekehrt so manch einen Zeitgenossen eitel und überheblich werden lassen oder einen Gewöhnungseffekt, der ihm letztlich nicht gut tut.

Wo also ist das gesunde Maß zu finden? Die Antwort kann - wie zumeist - nur individuell gegeben werden, weil jede Situation und jeder Mensch etwas anderes braucht. Manchmal sind es scheinbare Selbstverständlichkeiten, die ein Riesenlob wert sind, wenn sie zum Beispiel von einem kranken Menschen erbracht werden, der enorme persönliche Bemühungen für einen kleinen Schritt aufwandte und es dann schaffte. Hier kommt es entscheidend auf den scharfen Blick des Beobachters an, dies auch zu würdigen. Eine Reihe großer Leistungen, die später auch öffentlich gewürdigt und belobt wurde, wurden umgekehrt von so manchem Genie ganz ohne Aufwand und persönlicher Bemühung erbracht. Einfach weil er das Glück hatte, sein spezielles vielleicht schon angeborenes Talent zur genau richtigen Zeit am rechten Ort mit den optimalen Bedingungen auf ganz leichte Weise zu platzieren. Natürlich ist auch das Lob wert, aber als persönliche Leistung unter Umständen dennoch weniger "wert", als ein kleiner, winziger Schritt eines Behinderten.

Und dann der unselige Tadel mit seiner zugleich wichtigen und verhaltenskorrigierenden Funktion. Auch ihn braucht es, um den Menschen zu richten. Wann er jedoch destruktiv wirkt, wissen leider viel zu wenige Eltern und Erzieher. Der Tadel als notwendiges Übel trägt jedoch oft die Merkmale von mangelnder Wertschätzung oder einer Beeinträchtigung der sozialen Anerkennung. Trifft es dann noch einen Schwachen, so ist die Gewissheit, dass seine Schwäche gestärkt wird, zuverlässig anzunehmen. Der Starke verträgt den Tadel, so man ihn mit einer vernünftigen Erklärung und Begründung abgibt. Dann ist die Möglichkeit von Einsicht und Veränderung gegeben.

Mit dem Tadel sollte man geizen und versuchen, besser vernünftige Erklärungen abzugeben. Nutzen sie nichts, kann er regulierend und verändernd wirken.

Mit dem Lob sollte man dann weniger sparsam sein, wenn man spürt, dass nicht nur eine Kraft davon ausgeht, sondern auch der Verdienst und die Anerkennung angemessen sind. Behält man das im Auge, ist mit einer dümmlich gehandhabten Inflation dieser Maßnahme nicht zu rechnen - wohl aber mit der Motivation des Gelobten, sich in rechter und gesunder Weise um das noch Bessere zu bemühen.

— 07. August 2010
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