Ich interessiere mich kaum für Fußball. Hin und wieder sehe ich ganz gern mal ein Länderspiel oder die Weltmeisterschaft. Ein Einschlafen nach der zweiten Halbzeit ist dabei für mich nicht ungewöhnlich.

Aufgrund dieses mangelhaften Interesses würde mir kein Mann und auch keine kompetente Fußballerfrau je ein Urteil über diesen Millionärskickersport zugestehen. Also halte ich den Mund, was Leistungen, Ablöse, Transfer, Talente, Trainerwechsel und gegnerische Vereine angeht und werde nicht einen der 80 Millionen Schiris in diesem Land spielen.
Dennoch fasziniert mich da etwas, was ich während des Spiels zwar höre, aber viel zu wenig zu sehen bekomme, weil diese dämliche Kameraeinstellung ständig auf dem Spielfeld zentriert ist – statt mitten im Publikum, das ich viel spannender fände. Nämlich diese ungeheure Emotionalität der überwiegend männlichen Besucher im Stadium. Ich kann mich daran nicht sattsehen! Aber ich werde ja auch kurzgehalten!
Da sind Männer auf einmal so unglaublich gefühlvoll, interessiert, bei der Sache, im Kern der Dinge, als ginge es um ihr eigenes Leben. Da wird geschrien, gegrölt, geheult, geflucht, gezittert und gebangt, als würde die Welt gleich untergehen, nur weil die gegnerische Mannschaft genau das tat, was die eigene Mannschaft ins Gebetbuch geschrieben bekam: Tore machen! - Fuß hoch, treten, Schuss, Tor.
Nun klappt das aber nicht immer so, wie es soll. Und dann fahren plötzlich »die« Männer, na ja, nicht alle, aber fast alle im Stadion, zur Hochform auf. Trommelwirbel erklingen. Reicht das nicht, werden Raketen gezündet. Es wird martialisch. Fäuste recken sich wie zu einem kriegerischen Ballett geformt. Das Stampfen mit den Hufen schwill an. Reicht das immer noch nicht, stimmt man mystische Gesänge an, die die Emotionen auf den Höhepunkt treiben. Natürlich nur auf den eigenen… denn die Gegner haben die umgekehrten Höhepunkterlebnisse und entsprechend andere mystische Gesänge, die nun die Millionärskicker unten bannen sollen. Lähmend oder motivierend – je nach Blickwinkel und Gesang.
Gehört man am Ende zu den Siegern, dann ist ein solches kollektives Freudenfeuer bei der gefühlten Hälfte in den Stadien auf den verklärten Gesichtern zu sehen, dass einem selbst glatt die Tränen kommen könnten. Nämlich vor lauter Rührung über so viel Rührung, die ein paar wenige Ball-Treffer auf einem Rasen generieren können. Was ist das nur für eine ungeheure Energie! Würde man diese Energie der Freude in Kilowattstunden umwandeln können, die Stadien könnten gigantische Städte beleuchten. Ja, es rührt mich an, von was man alles so unsagbar tief gerührt sein kann – und noch mehr: Von was alles nicht! – Ob das Geheimnis vielleicht darin liegt, dass all diese schiere Begeisterung genau nichts mit einem selbst und den eigenen Lieben zu tun hat und sich deshalb so unbändig stark und hemmungslos entfalten kann? Hingabe total. Ein Faszinosum für mich, wenn ich das sehe!
Ich weiß nicht, wie es ist, mit einem Fußballnarren als Mann verheiratet zu sein, aber ich frage mich, wie viel Eifersucht auf die tatsächlich großen und authentischen Gefühle ihres so Hingabewilligen manche Ehefrau heimlich überfällt, wenn sie erlebt, wie ihr sonst stoischer Gatte plötzlich grenzenlos viel Gefühl zeigt. Mit Stolz, voller Ehre und voller Inbrunst! Der gleiche Gatte, den sonst kaum ein familiäres Leiden interessiert, ist plötzlich selbst der Gekreuzigte, wenn seine Mannschaft verliert… oder eben die personifizierte Glückseligkeit mit einer strahlenden Aura, wenn seine Mannschaft gewinnt.
Und da gibt es dann ja noch die Kumpels, die das Ganze im Verbund zu steigern wissen. Diese starke Kameradschaft steht über so mancher ehelicher Liebe, weshalb sich die kluge Ehefrau instinktsicher lieber gleich mit auf die Seite der Kumpels schlägt. An der Seite ihres Leidgeschundenen erlebt sie dann seine gefühlvolle Anteilnahme und seine sanftmütig zartfühlende Seele. Wer als Frau also im schnöden Alltag unter dem Frust männlicher Gefühlsabwesenheit leidet, sollte sich eine Jahreskarte fürs Stadion seines Lieblingsvereins gönnen und ein regelmäßiges Vollbad in den himmlischen Gefilden der empfindsam-schwärmerischen männlichen Seele nehmen. Hier zeigt sich der wahre Mann – sensibel, verletzlich und seelentief.
(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 67ff)