Farbe bekennen!

Meinen - wissen - reflektieren. Von Christa Schyboll

Sind Menschen, die wissen, was richtig oder falsch ist, um dieses Wissen zu beneiden? Ja – im Hinblick darauf, dass sie keinen Stress damit haben, mögliche Alternativen zu ihren Sichtweisen in Erwägung zu ziehen, zu prüfen, anzunehmen oder zu verwerfen.

Nein – im Hinblick darauf, dass ihnen unter Umständen eine andere oder andersartige Wirklichkeit, eine erweiterte unter Umständen dabei entgeht und sie in ihren eventuellen Irrtümern gefangenbleiben.

Ich mache mir viele Gedanken zu Standpunkten, die ich gerne für mich selbst und auch andere geklärt hätte. Dabei stoße ich an Grenzen, die mal von einem Informationsdefizit abhängen können, mal auch vom eigenen Verständnislevel und weiteren Kriterien, die es verhindern zu etwas klar Ja oder Nein zu sagen. Dazu gehört auch das Kriterium eines Entstehungsprozesses, das oft im Dunkel der Vergangenheit beruht und auf vielen tönernen Füßen steht.

Das führt dazu, dass man zwar zu vielem eine ›Mein-ung‹ hat (mein = subjektiv!) aber noch längst keine ernstzunehmende Urteilskompetenz. Denn letztere verlangt viel an Wissen, an Hintergrundinformationen, an Blickwinkelverschiebungen, an Neutralität, an scharfen Überlegungen des Für und Wider einer Sache. Das ist in manchen Fällen zu erbringen, in anderen Fällen nicht. So bleibt häufig eine Standpunkt-Frage auf der Strecke, weil die Strecke noch nicht lang genug gegangen ist.

Ist man deshalb ein Zauderer, ein Zögerer, ein Unentschlossener? Nur weil man gründlicher als jene vorgeht, die immer schnell und allem und jedem sowohl eine Meinung haben und daraus dann auch Behauptungen formulieren, die mehr das Reich der eigenen Wünsche, der Fantasie, der Hoffnungen bedienen, als die nüchterne Realität.

Woran also kann man dennoch seinen Standpunkt festmachen, wenn es nicht immer möglich ist, eine blitzsaubere, umfangreiche und detailgenaue Kenntnis einer Sachlage im Vorfeld zu recherchieren?

Ich denke es ist der Grad der eigenen Unbestechlichkeit, den man sich entweder schon erworben hat oder auch nicht. Ist man in Selbst- und Fremdkritik auf gesunde Weise trainiert, ist die Unbestechlichkeit in der Beurteilung einer Sache auf einem sehr guten Weg. Irrtümer kann es immer wieder geben. Doch die Chance, der Wahrheit, Wirklichkeit und Realität mit einem ungetrübten, möglichst neutralen Blick und klaren Gedanken nahezukommen, wächst damit enorm.

Farbe bekennen? – Ja. Mit dem Hinweis darauf, dass die unendlichen Farbspektren eines Geschehens immer nur in Ansätzen erfassbar sind, weil Teile im Nebel bleiben. Farbe bekennen bedeutet die Abstinenz einer jeder Schwarz-Weiss-Sicht, die den Blick auf die Wirklichkeit einengt.

(Aus: Verschwundene Texte, Band 3)

— 23. Januar 2022
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