Urteil oder Meinung?
Vom Schnellschuss-Heini aus dem hohlen Bauchraum schreibt Christa Schyboll
So manch eine spirituelle Lehre empfiehlt: Urteile nicht! Doch wie um Himmels Willen soll denn das gehen, wenn man sich ständig entscheiden muss? Wer sich entscheiden muss, ist gezwungen, sich ein Urteil zu bilden, um die beste Präferenz zu wählen.

Ohne Urteilskraft werden uns die Anforderungen des Alltags schnell lähmen. Da aber bewährte spirituelle Ratschläge häufig nicht nur von dummen Eltern sind (Ausnahmen bestätigen die Regel), ist die Frage: Was genau ist damit denn gemeint, dass wir das urteilen sein lassen sollen – obwohl wir es doch so dringend brauchen? Etwa eine Hingabe an rührseliges Vertrauen? Oder Laissez-faire – nach dem Motto: Nach mir kommt eh die Sintflut?
Ich denke, es geht um das kleine versteckt-verschmähte Wort-Anhängsel »ver-«! Wir sollten nicht ver-urteilen, wenn wir uns zunächst eine Meinung bilden, die aber oft allzu schnell wichtigtuerisch wie ein Urteil daherkommt. Innerlich ist das aber blitzschnell schon passiert, wenn wir eine Haltung für oder gegen etwas einnehmen. Ein ständiges Damoklesschwert, das hoch über jedem auch noch so banalen Ereignis hängt.
Viele Menschen kennen den Unterschied zwischen Urteil und Meinung dabei nicht einmal so genau und glauben allen Ernstes, das sei doch dasselbe. Meinung kommt von »mein« und meint etwas sehr Subjektives. Subjektiv sind wir zwangsläufig alle, allein schon bedingt durch unsere Individualität. Das Subjektive in uns ist oft von Gefühlen dominiert oder unserer Lebenshaltung, die vielen Prägungen ausgesetzt ist und war. Hier sind wir schnell im Bereich von Sympathie und Antipathie, schlagen uns instinktiv rasch auf diese oder jene Seite und lassen uns meist stark von Gefühlen leiten. Diese werden meist gar nicht hinterfragt, weil man sich zu sehr mit ihnen identifiziert. Will man allerdings urteilsfähig werden, also objektiv, fair, gerecht, kommt man um diese kritische Selbsthinterfragung nicht drumherum. Dazu braucht man einen gesunden Abstand auch zu den eigenen Gefühlen. Zunächst eine neutrale Position einzunehmen, ist meist ratsam, auch wenn es schwerfällt, weil uns vielleicht Empörung oder Entsetzen lähmen oder Freude und Glück uns gerade übermannt.
Objektivität ist mühsamer als subjektiv zu sein, weil es mit (lästiger)Arbeit verbunden ist. Wer sich eine objektive Urteilskompetenz erarbeiten will, braucht nämlich im Gegensatz zur bloßen »Mein-ung« jede Menge Hintergrundinformationen, ein klar strukturiertes Hirn, eine gute Auffassungs- und Beobachtungsgabe, Wachsamkeit, Fairness, Mitgefühl statt Gefühlsduselei (Achtung! Ihr Gutmenschen), Überblick über die zu beurteilende Situation, die Gegebenheiten, das Vorspiel des Ganzen und die Beteiligten.
Damit ist die Liste der gebotenen Fähigkeiten noch nicht zu Ende, aber ich überlasse es mal eurer eigenen Fantasie, es weiterzuspinnen. Und das soll man alles binnen Sekunden mal eben überblicken, bevor man sich eine Meinung oder ein Urteil bildet? Schwierig - denn die Meinung prescht eh immer vor. Und viele Situationen im Leben brauchen auch nicht immer unser Urteil. Doch da, wo es um Wichtiges geht, ist es sinnvoll, so viele wie möglich der oben angedachten Eigenschaften mit in den Prozess einzubringen. Denn damit erweitert sich der Blick um neue Möglichkeiten – was übrigens das Urteilen zunächst sogar noch etwas schwieriger macht, weil mehr Präferenzen zur Wahl stehen. Danach geht es ans Sortieren und Gewichten der Argumente.
Um all solche Feinheiten kümmert sich Frau und Herr Meinungsmacher*in nicht sonderlich. Da wird drauf los spekuliert, Gerüchte werden verbreitet und genussvoll aufgesogen. Je schlechter, je gruseliger, je besser für die Nachrichtenlage. Das Glück der anderen langweilt schnell. Die Beliebtheit der Bad News in allen Medien bestätigen es täglich neu. Nichts schöner als der wohlige Schauer, der uns überkommt, wenn es uns selbst doch viel besser geht als »den anderen« – wer immer das ist. Meinungsbildungen, wieso es dazu kommen konnte, haben dann Hochkonjunktur.
Und dann kommen diese fiesen Spaßverderber, diese Kritiker, die keine Ruhe geben. Sie hinterfragen uns und unsere Meinung. Stochern rum, lassen uns nicht in Ruhe und wollen wissen, wieso wir eigentlich zu diesen oder jenen Ergebnissen oder Haltungen kommen und woher wir eigentlich unsere Informationen haben. Wer Glück hat, hat solche Spaßverderber in seinem eigenen Umfeld, wer Pech hat, wird in seiner subjektiven Haltung von niemandem jemals korrigiert, sondern wandelt weiter auf den faulen Eiern der Gerüchteküche und fühlt sich dennoch urteilsreif.
Bei manchen klappt der innere Zensor aber auch ohne einen kritischen Außenbegleiter, der uns doch nur den Weg zu mehr Klarheit weisen will. Da könnte dann ein leises Flüstern zu vernehmen sein: Hey, hast du tatsächlich vor deiner Meinungsbildung beide Seiten ausreichend angehört? Hast du alles berücksichtigt? Oder passte dir gerade das Negativurteil, weil du den Typen ja eh noch nie leiden konntest? Ist doch typisch, denkst du schnell, dass gerade der jetzt Mist baute und versagte! Worauf beruht deine Meinung hauptsächlich? Auf Gefühl, Gedanke, Information? – Oder schlimmer: Auf Neid, Missgunst, Besserwisserei oder Wichtigtuerei. Aus erster, zweiter, dritter Hand? Denn wenn man was zu erzählen hat, hat man immerhin williges Publikum, auch wenn es zu Lasten von Wahrheit oder Fairness geht.
Der Schnellschuss-Heini in uns, der emotional im hohlen Bauchraum zu verorten ist, feuert liebend gern seine Salven in voller Breitseite ab. Hirn, Nachdenken? Was soll ich damit! Ich fühl doch gerade, welche Sauerei durch wen da mal wieder abgeht! Ist doch typisch. Das muss reichen. Wumm, Bumm, das sitzt. Die Herzweisheit ist in solchen Momenten nicht gefragt und versteckt sich lieber angesichts manch einer unreifen Peinlichkeit, die wir hin und wieder von uns geben. Würden wir sie zuerst in Ruhe befragen, wäre es zumeist mit unseren vielen kleinen (oft unbemerkten) Fehlurteilen, Verdächtigungen, Vermutungen und Verletzungen ganz anders bestellt. Wir wären vorsichtiger, mitfühlender, fairer… eben urteilskompetenter.
Das Bemühen darum wäre ein Beitrag zum inneren Klimawandel des besseren zwischenmenschlichen Miteinanders. Die oftmals hochkochenden heißen Zonen zerstörerischer Emotionalität könnten gesund herabgekühlt werden.
(Aus »Verschwundene Texte«, Seite 36ff)